Es gibt keinen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz

Interview mit Jodi Dean über Aufgaben und Herausforderungen einer Neuen Klassenpolitik. Warum Klassenpolitik weit mehr ist als das Privileg des „weißen Mannes“ und welche feministischen Bewegungen in den USA gerade den Ton angeben.

Denkst du, dass eine Neue Klassenpolitik einen Beitrag zur Wiederbelebung linker Politik leisten kann? 

Jodi Dean: Ja, ich denke, dass eine neue Klassenpolitik wichtig für den Prozess der Erneuerung linker Politik ist. Dafür muss Klasse allerdings anders gedacht werden. Klasse muss innerhalb der gegenwärtigen historischen Umstände begriffen werden. Es kommt mir manchmal so vor, als ob Linke, die sich furchtbar aufregen und sagen „Oh, nein wir können nicht mehr von Klasse reden“, denken, dass Marxist_innen mit Klasse nur ein industrielles Proletariat meinen. Aber das ist ein Fehler. Und natürlich ist es ein Fehler, den manche linke Parteien historisch gemacht haben, aber es ist kein Fehler, den Marx und Engels gemacht haben. Marx und Engels verstanden Klasse als eine Position innerhalb der Produktion. Eine Position, aus der und in die sich Menschen immer wieder heraus- und hineinbewegt haben. Insofern sind Menschen nicht in ihrer Klassenposition fixiert. Klasse ist kein demographisches Merkmal, obwohl viele Menschen – besonders in den USA – Klasse heute oft so verstehen. Geschlecht, „Rasse“ und Klasse werden gesehen als wären sie gleichartige Kategorien. Marxist_innen sehen Klasse aber anders. Das erste ist also, dass die Arbeiter_innenklasse nicht gleichzusetzen ist mit einem industriellen Proletariat. Heute können wir uns die Arbeiter_innenklasse vielleicht mehr als all jene vorstellen, die proletarisiert sind. Slavoj Žižek macht diesen Punkt und ich denke er liegt absolut richtig. Die Kategorie der „Proletarisierten“ erinnert uns mehr an einen Prozess und ist somit näher an dem, was Marx und Engels dachten. Heutzutage sind viele von uns proletarisiert. Wir können da zum Beispiel an flexible Arbeitsverhältnisse denken – etwa an Künstler_innen, Journalist_innen, Akademiker_innen. Also alle, die „Inhalte“ schaffen.
Alle, die Vertragsarbeit leisten. Das alles ist proletarisierte Arbeitskraft.

Warum ist es wichtig, all diese verschiedenen Positionen unter dem Begriff „Klasse“ zusammenzufassen oder vielleicht sogar zu organisieren?

Jodi Dean: Wir müssen uns die Frage stellen, wogegen wir kämpfen. Es geht nicht nur um irgendeinen Kampf. Wir kämpfen gegen die kapitalistische Produktionsweise und gegen die Ausbeutungsformen, Entbehrungen und Enteignungen, die sie uns zufügt. Das große Problem der Linken, besonders seit 1989, ist die Akzeptanz gegenüber dem Kapitalismus als einziger Alternative. Oft geht es nur noch darum, einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz zu erreichen. Den gibt es aber nicht. Er ist ein Mythos. Was wir also brauchen, ist eine Klassenpolitik, die erkennt, dass unsere Probleme vom Kapitalismus ausgehen. Das anzusprechen ist entscheidend, um den Aufstieg der Rechten zurückzudrängen und zu stoppen.

Ist die Rechte im Moment erfolgreicher als die Linke, diese Widersprüche in konkrete Politik umzumünzen?

Jodi Dean: Oberflächlich betrachtet scheint es in den USA so zu sein. Schließlich gibt es Trump. Und Trump hat, wie alle autoritären Rassisten in Europa, den Immigranten zur Person gemacht, der es entgegenzutreten gelte. Trump bietet im Nationalismus ein Angebot der Identifizierung und der Vereinheitlichung unter Zuständen der Ungleichheit und Enteignung. Das Problem wird also exteriorisiert und die Einheit der Nation wird genau durch diese Exteriorisierung geschaffen. Eine klassische faschistische Formel. Andererseits sind die Rechten in den USA nur so erfolgreich gewesen, weil die Liberalen so lahm sind. Es sind die Liberalen, die versagt haben. Es gehört schon fast zur Definition der Liberalen, nicht anzuerkennen, dass der Kapitalismus das Problem ist. Sie meinen, dass wir diesen hübschen allgemeinen Pluralismus von Identitäten unter kapitalistischen Vorzeichen haben können. Das öffnet identitätsbasierter und nationalistischer rechter Politik Tür und Tor. Eine marxistische, antikapitalistische, kommunistische beziehungsweise auch sozialistische Perspektive sieht ganz anders aus. Sie würde die Idee zurückweisen, dass wir auf der Grundlage von Identitäten zusammenfinden können. Denn Klasse ist keine Identität, sondern eine Position. Und als eine Position kann Klasse von allen möglichen Identitäten besetzt werden. Klasse durchschneidet diese „identitären Logiken“, die Faschist_innen und Liberale gemein haben, und fokussiert stattdessen auf den primären Antagonismus, der Kapitalismus heißt.

Dennoch riecht Klassenpolitik für viele in der Linken nach der Verallgemeinerung der Privilegien einer weißen, männlichen Arbeiterklasse. Warum ist das so?

Jodi Dean: Darauf gibt es einige verschiedene Antworten. Zum einen geht es darum, die Idee zurückzuweisen, dass sich „Klasse“ nur auf eine weiße, männliche Arbeiterklasse bezieht. Das ist schlichtweg falsch. In den USA zum Beispiel besteht die Arbeiter_innenklasse aus Frauen und Männern, People of Color und auch Menschen, die ihre Geschlechtsidentität zurückweisen. Wenn man sich demographisch ansieht, was sich zwischen dem einen und den 99 Prozent abspielt, dann besteht das eine Prozent in überwältigender Mehrheit aus weißen Männern. Zu sagen, dass genau das das Problem sei, wenn man von Klasse spricht, ist eine ideologische Verkehrung im klassischen Sinne. Das hat etwas dümmlich Rückwärtsgewandtes.
Zweitens hatten natürlich auch Marx und Engels verstanden, dass es in der Arbeiter_innenklasse Frauen gab. Die Arbeiter hatten Familien und Marx und Engels behandelten Themen wie Familienzusammensetzung, Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen. Zudem sind Frauen schon immer Teil der Arbeiter_innenklasse gewesen. Die Kämpfe der Arbeiter_innenklasse fanden noch nie ausschließlich in der Fabrik statt. Ich habe in letzter Zeit viel über die Geschichte der kommunistischen Partei in den USA gelesen, die sehr interessant dahingehend ist, dass es viel um Kämpfe rund um die Organisierung von Mieter_innen ging. Und das ist nicht nur bei der Communist Party USA so, sondern überall – auch wenn man sich die russische Revolution ansieht. Für Lenin waren es immer Bäuer_innen und Proletarier_innen. Es war niemals nur eine industrielle Arbeiterklasse. Die Bauernschaft war immer Teil davon. In jeder einzelnen erfolgreichen kommunistischen Revolution war sie beteiligt. Um es also noch einmal zu sagen: Die Idee, dass es bei Klasse nur um weiße, männliche Arbeiter geht, ist falsch. Ich denke, dass das eine liberale ideologische Fiktion ist, die dazu da ist, uns daran zu hindern, die stattfindende Realität klassenbezogener Enteignung, Unterdrückung und Ausbeutung zu erkennen.
Drittens geht es um die Diversität von Kämpfen. Wenn man sich zum Beispiel Kämpfe um Bildung und Studiengebühren ansieht, wie sie derzeit in Großbritannien stattfinden, dann sind das Klassenkämpfe. Sie werden im Terrain der Bildung ausgefochten, aber es sind Klassenkämpfe. Wenn wir uns umsehen, dann sehen wir Klassenkämpfe, die in verschiedenen Bereichen ausgefochten werden, jenseits der industriellen Fabrik.

Die Austragungsorte einer Neuen Klassenpolitik sind also sehr divers. Wie aber kann eine Neue Klassenpolitik die Menschen überzeugen?

Jodi Dean: Die Frage ist, wen man überzeugen will. Wer ist meine imaginäre Gesprächspartnerin? Die große Mehrheit der arbeitenden Klasse weiß längst Bescheid. Es geht viel mehr darum, wer die Gründe für ihre Probleme, ihre alltäglichen Kämpfe besser zusammenfassen und sie ihnen zurückrepräsentieren kann, beziehungsweise ihnen sagen kann, was man gegen ihr Leid machen könnte. In den USA zum Beispiel war es eine der effektivsten Waffen des Trump-Wahlkampfs, es sehr deutlich zu machen, dass die demokratische Partei und insbesondere der Clinton-Flügel in keiner Weise Teil einer Lösung für die Probleme arbeitender Leute war. Jeder und jede Linke weiß das ganz genau. Aber Clinton hat Bernie Sanders geschlagen, der eine tatsächliche Alternative angeboten hat und eine Erzählung, die sehr „empowernd“ war und bei der Mehrheit der Menschen Anklang fand. Er hat zwar nicht die Abschaffung des Kapitalismus gefordert, aber er identifizierte das Problem eindeutig in der Wirtschaft, in den Exzessen der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Seine Politik war eine, die sich gegen die zunehmende Unterordnung von Hochschulbildung und Gesundheitsvorsorge unter den Markt wandte. Alles in allem hat er eine beeindruckende alternative Erzählung aufgezeigt.
Die Frage lautet also: Wie kann man Leute erreichen und überzeugen? Das ist keine gute Frage, wenn wir sie als abstrakte Diskussionsfrage stellen. Aber sie ist schon viel besser, wenn wir darunter das Problem der politischen Organisierung verstehen. Und wenn es um politische Organisierung geht, dann geht es immer auch um die Frage, was die verschiedenen Ziele sind, die man mit Organisierung verfolgt. Geht es zum Beispiel nur um diese oder jene Wahl oder geht es etwa um Streiks und Gewerkschaften? Wen versucht man zu organisieren? Die Rechte ist in den vergangenen Jahren stärker geworden. Das ist der Grund, warum wir uns diesen Fragen wieder stellen und uns organisieren müssen. Wir müssen konkreter werden. Ich bin keineswegs eine, die das Lokale fetischisieren will. Überhaupt nicht. Aber eine Sache, die man bei lokalen Kämpfen lernt, ist wie Argumente in realen Kontexten funktionieren und – wie Lenin immer sagte – wie wichtig Slogans sind. „Frieden, Brot und Land“ war nicht immer und überall der Slogan. Er war auf eine sehr spezifische Situation zugeschnitten. Diese Art von Arbeit – die alte maoistische „Weisheit“, mit den Massen in Verbindung zu stehen und der Linie der Massen zu folgen – ist absolut entscheidend. Eine Linke, die einfach nur intellektuell ist und meint, die Arbeiter_innenklasse ist einfach nur zu dumm, um irgendetwas zu verstehen – nach dem Motto: „Ihr solltet uns Intellektuellen folgen, wir sind nämlich nicht rassistisch“ – das wird gar nichts bringen.

Lass uns über den US-amerikanischen Kontext reden. Im Moment gibt es verschiedene Bewegungen, die eine Rolle spielen: etwa Black Lives Matter, die Internationale Frauenstreik-Bewegung oder die Social Democrats of America. Wie schätzt du die Chancen für eine wiederbelebte Linke in den USA ein?

Jodi Dean: Ich denke, dass wir im Moment die Wiederbelebung der Linken erleben. Und ich denke, dass das in einer gewissen Kontinuität zu Occupy Wall Street steht. Denn Occupy Wall Street zeigte den Leuten, dass es zumindest wieder einen gewissen Möglichkeitshorizont gibt. Occupy zeigte zudem weißen Linken Möglichkeiten auf, an politische Kampagnen anzuknüpfen, die gegen aggressive Polizeiarbeit vorgingen und in Verbindung zu schon existierenden antirassistischen Bewegungen standen. Vor allem in New York City mit dem Widerstand gegen stop-and-frisk. Auch in Zusammenhang mit den Morden an jungen Schwarzen Menschen, die immer sichtbarer wurden. Im Moment ist das, was wir sehen, die Zusammenkunft all dieser Kämpfe und alle verstehen und erkennen an, dass sie Teil eines Kampfes sind.
Eine andere Sache, die in den USA sehr aufregend war in den letzten Wochen, waren die Lehrer_innenstreiks. Wenn man diese Lehrer_innenstreiks zusammenbringt mit den Schüler-Walkouts zum Thema Waffengewalt, dann sehen wir öffentliche Schulen als einen riesigen Ort des Klassenkonflikts. Denn die Superreichen müssen schlichtweg nicht protestieren. Sie müssen nie protestieren. Und diese Waffengewalt wird hauptsächlich in öffentlichen Schulen zu einem Thema. Man sieht fast nie etwas wie „Oh, vier ‚rich kids’ wurden in Harvard erschossen“. Nein, das passiert nicht. Das sind Leute aus der Arbeiter_innenklasse, arme Leute, die sich in diesen heruntergekommenen und verlassenen öffentlichen Institutionen aufhalten. Wir lernen jeden Tag etwas darüber, wie verschiedene Teile der Arbeiter_innenklasse zusammenkommen, um sich zusammenzuschließen, zu kämpfen und Forderungen geltend zu machen.

Du bist Teil der Internationalen Frauenstreik-Kampagne. Diese Proteste haben vergangenes Jahr stark angefangen und waren auch in diesem Jahr sehr erfolgreich. Welche Unterscheide gibt es vom vergangenen Jahr zu den diesjährigen Protesten?

Jodi Dean: Eine Sache, die ich besonders aufregend finde, ist die internationale Dimension der Frauenstreiks. Die diesjährige „Gewinnerin“ war eindeutig Spanien – mit 5 Millionen Frauen auf der Straße, die faktisch einen Frauen-Generalstreik auf die Beine stellten. Das ist wirklich sehr spannend zu sehen. Ich war im vergangenen Jahr nicht an den Internationalen Frauenstreik Komitees beteiligt, aber meinem Verständnis nach kam die Inspiration dafür von Feministinnen in Argentinien, in Polen, in Spanien. Diese internationale Aufmerksamkeit an der Gewalt gegenüber Frauen, insbesondere in Argentinien, wo sie die Kampagne gegen Gewalt an jungen Frauen und Mädchen gestartet haben, aber auch in Polen, wo es vor allem um Reproduktionsrechte ging. Das war ein großer Motivator. In den USA gab es eine Kombination unterschiedlicher Faktoren: Es gab den Willen, sich mit den internationalen Kämpfen zu verbinden und gleichzeitig das Bedürfnis, in der seit Trumps Amtsantritt sichtbarer werdenden Frauenbewegung auch sozialistischer Politik Ausdruck zu verleihen. Es gab die Proteste gegen Trump im Januar vergangenen Jahres als sich drei Millionen Frauen zum „March on Washington“ versammelten. Auf der einen Seite ist das natürlich großartig, viele Frauen waren zum ersten Mal auf der Straße und politisch aktiv in einer Demonstration.
Auf der anderen Seite war es eine Mobilisierung, die aktiv von Unterstützer_innen von Hillary Clinton getragen wurde. Unter diesem Aspekt war es nicht wirklich eine Opposition zu Trump, keine wirkliche feministische Bewegung, sondern vielmehr eine, die die Politik der Demokratischen Partei vorantreiben sollte. Das war der „Vibe“ dieser Versammlungen, mit den „pussy hats“ und was sonst noch dazugehörte. Der Internationale Frauenstreik im vergangenen Jahr hat dagegen deutlich gemacht, dass wir eine andere Art von Feminismus brauchen. Einen Feminismus für die 99 Prozent. Und wir dürfen nicht zulassen, dass diese feministische Energie vereinnahmt wird für Hillary Clintons Hosenanzugs-Nation [pant suit nation] und für eine Partei, die sagt: „Die anderen Probleme in der Welt wären gelöst, wenn Hillary Clinton gewählt worden wäre“. Aktuell gibt es Missstände, die viel grundlegender sind und das wurde deutlich. Es ging nicht nur um Hillary Clinton, sondern um viel mehr. Das sollte in die Politik getragen und sichtbar gemacht werden. Zudem ist der internationale Frauenstreik in den USA ganz klar als ein sozialistisches Projekt zu sehen. Manche der Leute sind von den Democratic Socialists of America, aber auch andere linke Parteien sind involviert.

In der deutschsprachigen Linken scheint es viel leichter zu sein, rund um Identitäts-Kategorien zu mobilisieren als die Systemfrage zu stellen. Werden Begriffe wie Sozialismus oder Revolution in den USA aktuell selbstverständlicher benutzt?

Jodi Dean: Ich bin nicht der Meinung, dass es hier leichter ist. In der linksliberalen Mainstream-Diskussion werden immer noch vor allem Identitätskategorien genutzt, aber in der radikalen Linken ist das ein umkämpfter Aushandlungsprozess. Wie wir es bei den Internationalen Frauenstreiks gesehen haben: Es gibt eine gewisse Anerkennung, dass man letzten Endes keine dieser Unterdrückungen ohne die Abschaffung des Kapitalismus überwinden kann. Das verbreitet sich innerhalb der Linken immer weiter und konkretisiert sich. Auch bei Themen, bei denen die Grenzen zwischen linken und liberalen Inhalten schwer zu bestimmen sind, sehen wir einen Zusammenbruch von Identitätspolitiken – in einer guten Art und Weise. Weil die Leute realisieren, dass politische Inhalte nicht aus einer spezifischen Identität entstehen. Das sehen wir zum Beispiel daran, dass Trump immer schwarze Menschen in seinem Publikum hervorhebt oder etwa sicherstellt, dass er eine schwarze Person in seinem Kabinett hat oder ähnliches. Wir realisieren langsam, dass es in der Tat rassistisch ist zu denken, dass wir wissen, welche politischen Inhalte eine schwarze Person verfolgt, nur aufgrund seiner oder ihrer „Rasse“. Das bringt nichts. Wir realisieren, dass Frauen ebenso abscheuliche Faschistinnen sein können wie Männer; dass eine homosexuelle Person nicht automatisch auf unserer Seite ist. Es gibt ein zunehmendes Verständnis dafür, dass Identitätspolitik als Grundlage für konkrete Politik nicht ausreicht. Für einige Linke verursacht diese Erkenntnis ziemliche Verwirrung. Daher versuchen sie, Politik zu machen, die komplett abgetrennt ist von jeglichem Subjekt – zum Beispiel, wenn es auf einmal nur noch um Algorithmen oder ähnliches geht. Die marxistische, neu-kommunistische Antwort ist eine andere: Doch! Wir können so etwas wie politische Subjektivität verstehen, allerdings unter neuen Bedingungen. Das ist Teil des Kampfes.

Sollten wir an Begriffen wie Identitätspolitik und Klassenpolitik festhalten?

Jodi Dean: Ich denke, man muss sich die Frage nach dem „Warum?“ stellen. Welches Ziel möchte man erreichen? Wollen wir eine Strategie entwickeln, wie wir ein spezifisches Umfeld oder eine spezifische Gruppe organisieren wollen? Wenn das der Fall ist, sollten wir darüber nachdenken, wie unser Auftreten dafür aussehen muss. Wie und warum etwa wollen wir insbesondere Frauen ansprechen? Oder geht es um etwas anderes? Wir sollten das nicht nach akademischen Überlegungen machen, sondern mit Bezug auf die Frage, wie wir uns organisieren wollen. In den USA wurden feministische Politiken zum Beispiel sehr interessant. Ich würde sagen, sie bilden im Moment sogar die vorderste Front linker Politik. Bestandteile der #metoo-Bewegung etwa eröffneten Möglichkeiten für Gewerkschaften im Service-, Haushalts- und Gastronomiebereich, sodass sich Beschäftigte in diesen Feldern Gehör verschaffen und Kämpfe führen konnten. Hier wurde also ein Raum genutzt, der aussieht wie eindimensionale Identitätspolitik, und in eine Gelegenheit für Klassenpolitik umgewandelt. Das wäre ein Beispiel, bei dem es weder analytisch noch politisch sinnvoll ist, Identitätspolitik und Klassenpolitik voneinander zu trennen. Eines will ich aber noch hinzufügen: Das heißt nicht, dass man da nun mit einer intersektionalen Analyse ran muss. Die Sprache der Intersektionalität ist in gewissen Teilen der US-Linken und bei Feministinnen sehr wirkmächtig. Meiner Meinung nach führt eine intersektionale Analyse aber fast immer dazu, den Schnittpunkt, die „intersection“, im Individuum zu suchen. Das läuft dann auf die Frage hinaus, wie es dazu kommt, dass meine individuellen, spezifischen Anliegen nicht berücksichtigt werden. Vielmehr sollte es aber um eine Analyse gehen, die fragt, wie sich Herrschaftsstrukturen gegenseitig verstärken und aufeinander angewiesen sind. Klassenunterdrückung etwa ist ganz offensichtlich darauf angewiesen, dass bestimmte Menschen unbezahlt arbeiten – etwa in der Hausarbeit, die vor allem von Frauen geleistet wird. Genauso beruhen Machtunterschiede innerhalb der Arbeiter_innenklasse darauf, dass Gehalt ungleich bezahlt wird und die Arbeiter_innenklasse gespalten wird. Dabei spielt etwa Ethnizität eine große Rolle. Das ist für mich jedoch keine intersektionale, sondern eine strukturelle Analyse, wie sie im Marxismus schon immer geleistet wurde. Es macht mir Sorgen, wenn Leute Intersektionalität so stark hervorheben, weil ich befürchte, dass es damit vor allem darum geht, individuelle Erfahrungen in all ihren Facetten hervorzuheben anstatt die tatsächlichen Überlagerungen und Verbindungen von Unterdrückung in den Vordergrund zu stellen.
So sehr wir also versuchen sollten, Klasse und Identität nicht unnötig zu trennen, so sehr sollten wir auch das andere Extrem vermeiden – also auf Teufel komm raus versuchen zu wollen, beides zu verbinden. Es ergibt keinen Sinn, den Fokus nur darauf zu richten, Klasse und Identität mittels intersektionaler Analyse zu verbinden. Wir verbinden beides, indem wir erkennen, dass Klasse eine Kategorie der Produktionsverhältnisse ist und dass in dieser Kategorie sehr viele unterschiedliche Menschen versammelt sein können. Eine Klasse setzte sich noch nie aus einer einzigen spezifischen demografischen Gruppe zusammen.

Was bedeutet Klasse heute?

Jodi Dean: Wenn ich im Kontext meiner Organisierungsarbeit mit Leuten rede, dann sind es eher Menschen aus der Arbeiter_innenklasse, die mir erklären, was Klasse bedeutet. Vergangenes Jahr als ich lokale Organisierungsarbeit machte für den Internationalen Frauenstreik, kopierte ich in einem Copy Shop Poster und die Frau, die dort arbeitete, sagte etwas wie: „Oh mein Gott, ich kann es nicht erwarten bis es endlich fünf Uhr ist – noch zwei Stunden“. Ich sagte etwas wie: „Langer Tag, was? Naja, jetzt ist er fast vorbei“. Und sie: „Ja, aber das bedeutet, dass ich zwei Stunden meines Lebens weggewünscht habe“. Und ich sagte nur: „Ist das wirklich so?“ Und sie: „Ja, so ist es. Jeden Tag wünsche ich mir, ich wäre alt genug, um in Rente zu gehen. Was nichts anderes heißt, als dass ich mir wünsche, 20 Jahre älter zu sein und dass mein Leben dazwischen einfach weg wäre“. Vielleicht hat sie das Wort „Klasse“ nicht benutzt, aber sie hat im Prinzip gesagt, dass sie auf einen Job angewiesen ist, den sie hasst, in dem sie ausgebeutet wird und dass sie obendrauf keine Möglichkeit hat, aus diesen Umständen auszubrechen.
Ich mache auch Organisierungsarbeit mit Restaurantkellner_innen. Die sprechen die ganze Zeit darüber, wie ihre Trinkgelder davon abhängen, ob sie lächeln oder davon, ob die Kunden ihnen einen Klapps auf den Hintern geben oder Bemerkungen machen können. Sie bringen also mir etwas über ihre Erfahrungen bei, was Klasse bedeutet.

Jodi Dean ist US-amerikanische politische Philosophin und Professorin in der Abteilung für Politikwissenschaft an den Universitäten Hobart und William Smith in New York. Sie war auch als Erasmus-Professorin für Geisteswissenschaften an der Philosophischen Fakultät der Erasmus-Universität Rotterdam tätig.

Das Interview wurde uns freundlicherweise von dem Portal kritisch-lesen.de zur Verfügung gestellt.
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