(darunter verstehe ich das Gegenteil von „definitiver Kommunismus“)
In den Siebzigerjahren wurden die linken Pariser Philosophen und Künstler auf das antipsychiatrische Experiment von Deligny, der vielen als radikaler Maoist galt, aufmerksam. In der Zeitschrift „Recherches“ beantwortete Deligny ihnen die Frage: „Wer sind SIE, die freiwillig am Rande der Welt des Wortes leben?“ Es seien „Leute aus dem Volk, muß man sagen, eine Volksinitiative, die versucht, eine Bresche in die Praxis der Einschließung zu schlagen“.
Von Helmut Höge
Man könnte so beginnen, über Delignys Sozialexperiment zu reden
Der 1913 geborene französische Pädagoge Fernand Deligny arbeitete in einer psychiatrischen Anstalt, wo er 1945 seine Wandlung zum Antipsychiater erfuhr: In den Wirren des deutschen Überfalls auf Frankreich hatten einige chronisch psychisch Kranke das Hospital verlassen; sie wurden erst nach dem Krieg wiedergefunden – gesund und normal. „Freiheit heilt!“ – wie es später ein Antipsychiater bündig formulierte. Deligny versuchte diese Erfahrung für „seine” Anstalt fruchtbar zu machen. Als das nicht ging, verließ er sie zusammen mit einer Gruppe autistischer Kinder – und ließ sich mit ihnen in den Cevennen nieder, wo sie in einigen von den Schafhirten verlassenen Berghütten lebten. Dort schlossen sich ihnen nach und nach einige „Helfer” an. Mit der 68er- und der Antipsychiatrie-Bewegung wurde das „Floß in den Bergen“, wie er sein „Projekt“ nannte, von „Sympathisanten” und Neugierigen geradezu heimgesucht. Viele spendeten Geld, die Rockgruppe „Pink Floyd” z.B. überwies ihm ihre französische Tournee-Gage. 2002 veröffentlichte Peter Engstler Delignys “Chronik eines Versuchs – Irrlinien“. Und danach einen weiteren Bericht – von Delignys Mitarbeiter Jacques Lin.
In seinem Buch „Ein Leben mit dem Floß. In der Gesellschaft autistischer Kinder“ berichtete Lin: Damals lebten dort schon „fast 100 Personen. Ärzte, ein Architekt, Lehrer, Kinder, ein katalanischer Sänger, zwei Kollegen aus der Fabrik, die mir von diesem Ort erzählt hatten, und viele andere Leute, die sich alle zu kennen” schienen. Über ihren „Versuch”, anders mit autistischen Kindern umzugehen, indem man sie ernst nimmt, schreibt Lin: Er „läuft seit etwa 60 Monaten. Und wie es der Zufall will, sind etwa 60 Kinder, von denen man sagen könnte, dass sie ihr Ich über die Schulter gehängt und zweifellos schlecht befestigt tragen und dass sie es verloren haben, inzwischen hierhergekommen. Manche kommen immer wieder hierher zurück. Aber zu sagen, daß SIE hierhergekommen sind, ist nur eine Redensart, denn man kann jemanden, der sich überhaupt nicht als ‘Ich’ zu denken scheint, nicht als ‘er’ bezeichnen, ohne die Macht zu mißbrauchen, die uns diese Sprache gibt, derer wir uns bedienen, als ob sie uns gehören würde, als ob sie wir wäre.”
In der Zeitschrift „Partisans“ erklärte Deligny wenig später: „Es geht nicht darum, auf sie zuzugehen, sich mit ihnen zu beschäftigen, sich ihnen zuzuwenden. Dies ist nicht unser Vorgehen.” Es gehe vielmehr darum, „einen Weg zu finden. Deshalb, und nun seit sieben Jahren, seitdem dieses Vorhaben dauert, zeichnen wir Karten, unermüdlich.”
Von einem ganz anderen „Vorhaben” – auch mit „Autisten” – berichtete jüngst Peter Propping – Mitglied im Nationalen Ethikrat. Er hatte am Weltkongress für Psychiatrische Genetik in Boston teilgenommen und berichtete, dass die genetische Erforschung psychischer Erkrankungen durch internationale Kooperation über immer mehr Patientendaten verfüge – und dadurch einen „Durchbruch” erzielt habe. Das sei ihm nun „klargeworden”. Konkret: „Neben den in der Bevölkerung häufigen Genvarianten kennt man seit einigen Jahren eine Reihe seltener kleiner chromosomaler Verluste oder Verdoppelungen – Mikrodeletionen und -duplikationen, die das Risiko für verschiedene Krankheiten des Gehirns erhöhen. Dazu gehören in erster Linie geistige Behinderung und Autismus, aber auch Schizophrenie, Epilepsie oder bipolare Störung. Häufig ist die genetische Veränderung durch eine neue Mutation in einer der elterlichen Keimzellen entstanden. Die Wahrscheinlichkeit einer dadurch ausgelösten Krankheit ist von Variante zu Variante verschieden; sie liegt zwischen zehn und hundert Prozent.”
Mit der genetischen Fixierung dieser „Krankheiten“ wurden zugleich immer mehr Arten von Autismus unterschieden. So sollen z.B. überdurchschnittlich viele Beschäftigte im Silicon Valley das „Asperger Syndrom“ haben. Es begann mit Geldern der Pharmakonzerne eine regelrechte „Jagd nach dem Autismus-Gen“, um es zu patentieren, bis jetzt wurden nacheinander zwölf als solche identifiziert. Parallel dazu ließ man die Betroffenen, d.h. die Zahl der potentiellen Endverbraucher (autistische Patienten) ermitteln. Die ersten Studien gingen davon aus, dass ein Kind von 2500 autistisch ist oder wird, dann wurden es jedoch immer mehr: bald war es jedes tausendste Kind und schließlich jedes vierte, meistens Jungs.
Über diesen ganzen kapitalinduzierten Schwachsinn gerieten die komplexen Lebens-„Versuche“ von Deligny und den anderen Linken mehr und mehr in Vergessenheit. Orientiert an seinen Flößen in den Bergen schuf z.B. auch die belgisch-französische Psychoanalytikerin Maud Mannoni 1969 Orte zum Leben mit experimentellen Strukturen für autistische Kinder. Sie war Schülerin des Psychoanalytikers Jacques Lacan. Erwähnt sei ferner Bruno Bettelheims „Orthogenic School“ für autistische Kinder in Chicago. (Bettelheim war in der linken Wandervogelbewegung der Zwanziger- und Dreißigerjahre aktiv gewesen und 1938 als Jude in ein KZ eingeliefert worden, 1939 konnte er emigrieren. Er führte den Autismus u.a. auf gefühlskalte Mütter („refrigerator mothers“) zurück. Ähnlich dann auch Gregory Bateson mit seiner Theorie des „Double-Bind“, die auf widersprüchliche Emotionen der Mutter dem Kind gegenüber abhob.) Schließlich auch noch die Regiearbeiten des texanischen Autisten Robert Wilson.
Fernand Deligny starb 1996. 2008 veröffentlichte Peter Engstler von ihm „Briefe an einen Sozialarbeiter“, das mit dem „Tagebuch eines Erziehers“ 1941 beginnt, als der Autor noch in der eingangs erwähnten Klinik arbeitete. Auch in diesem Buch ist von der Sprache und von den autistischen Kindern auf seinem „Floß“ die Rede. Über die an dem „Versuch“ Beteiligten heißt es hier bereits rückblickend: „Es war einmal eine überraschende Art, die sich menschlich nannte: doch als Art gab sie sich keinen Namen. Mithin wurde sie benannt, wie auch immer.“ Fortsetzung folgt.
Man könnte auch anders anfangen, um über Delignys Trupp im Wald zu reden
1965 begann in den Cevennen eine Gruppe um den Antipsychiater Fernand Deligny mit dem Aufbau einer Guerillabewegung, die zunächst vornehmlich aus Linksintellektuellen und autistischen Kindern bestand. 1972 konnte er bereits – in der Zeitschrift „Partisans“ – über erste Erfolge berichten: „… und wir haben Stellung bezogen/wir waren immer nur einige wenige/zerstreut über kleine Einheiten/hier in den Bergen/man mußte ausharren/bei Tag bei Nacht/trotz des Unmöglichen/des Unerträglichen/in den Wogen“.
Sie hatten sich mit den verhaltensgestörten Kindern in Untergruppen aufgeteilt und auf kleinen, mit Steinmauern eingefassten Plateaus sowie in verlassenen Hütten und Ställen Basislager errichtet: Flöße, auf und zwischen denen sie eine aufs Wesentliche reduzierte Lebensweise „einpflanzten“, die jedoch gleichzeitig – den Ziegen- und Schafhirten der Cevennen angepasst – mehr oder weniger „nomadisch“ war. Dazu den Kindern zuliebe noch fast sprachlos, erst recht interpretationsfrei.
In den Siebzigerjahren wurden die linken Pariser Philosophen und Künstler auf das antipsychiatrische Experiment von Deligny, der vielen als radikaler Maoist galt, aufmerksam. In der Zeitschrift „Recherches“ beantwortete Deligny ihnen die Frage: „Wer sind SIE, die freiwillig am Rande der Welt des Wortes leben?“ Es seien „Leute aus dem Volk, muß man sagen, eine Volksinitiative, die versucht, eine Bresche in die Praxis der Einschließung zu schlagen“. Zu seiner Gruppe gehörten dann tatsächlich mehr und mehr junge Leute, Bauern und Arbeiter aus der Umgebung. Als „Partisanen“ bezeichnete er jedoch insbesondere die autistischen Kinder, die zum großen Teil immer nur vorübergehend dort waren – „gleichsam auf Reise“, und mit denen „jede Einheit unseres kleinen Netzwerks“ in den Bergen sich auf ihre Weise auseinandersetzen muss. Im Übrigen sei diese ihre partisanische Autonomie und Organisationsweise „keine Utopie: Es geht um ‚Flöße‘, nicht um eine neue Erde“.
1980 hatte der Westberliner Merve-Verlag Delignys „Ein Floß in den Bergen“ veröffentlicht. So hieß zuvor auch schon ein französischer Film über Delignys Projekt in den Cevennen, das zwar von der französischen Gesundheitsbehörde nicht bekämpft, aber auch nicht finanziert wurde. Zum Floßleben in den Bergen gehörte, dass, wer konnte, dort den Nachbarn bei der Ernte und beim Viehhüten half, daneben wurde regelmäßig Brot gebacken und verkauft. Der „Maoismus“ von Deligny bestand nicht zuletzt auch im Bestreben, zur Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit beizutragen, denn die Fähigkeiten der meist stummen Kinder lagen oft gerade im Manuellen.
Und die partisanische Operationsweise gehört quasi zum genius loci der Cevennen. 2002 feierte Frankreich das 300jährige Jubiläum des dortigen Kamisarden-Aufstands: Zwischen 1702 und 1710 hatten knapp 3.000 protestantische Rebellen in den Cevennen rund 25.000 Soldaten des Königs in Schach gehalten. „Die Kamisarden führten den ersten Guerilla-Krieg der Neuzeit“, schreibt dazu die Deutsche Hugenotten-Gesellschaft in einem Sammelband stolz.
In dem Buch „Ein Leben mit dem Floß“ des Mitarbeiters von Deligny, Jacques Lin, der 1967 als Arbeiter mit einem großen Werkzeugkasten in „diese kleine Welt“ am Fuß der Berge kam, schildert der Autor, wie ihm dort sofort die Trennung von Hand- und Kopfarbeiter aufstößt: „… Schnell finde ich mich als Einziger wieder, der mit der Maurerkelle arbeitet, die meisten Freiwilligen ziehen die Kaffeeterrassen, die kühlen Bäche und die Dorffeste vor“. Später stoßen noch Lins zwei Brüder dazu: „Die Verständigung unter drei Brüdern ist nicht immer einfach“, notiert der Autor, der sich daraufhin um Rat an Deligny wendet.
Lins Bericht endet damit, dass der bald 80jährige Fernand Deligny nebenan, „wenn er noch Kraft dazu hat, an seinem endlosen Roman ‚L’Enfant de citadelle‘ schreibt …“, dass wieder der Schafauftrieb bevorsteht – und die Regierung jetzt durchsetzen will, dass die Schäfer ihre Tiere in Zukunft mit dem LKW transportieren … Er geht deswegen mit einer roten Fahne vor der Schafherde her, um die Autofahrer zu warnen … 1995 kommt wieder der Inspektor der Gesundheitsbehörde zu einem Kontrollbesuch: wie üblich wird Allesmögliche beanstandet. Doch diesmal sollen sie dazu noch 20.000 Franc Strafe zahlen … „Das ist sicherlich ein Irrtum“, bemerkt Jacques Lin abschließend, denn immerhin „ersparen wir es den Kindern seit fast dreißig Jahren, in eine psychiatrische Anstalt gehen zu müssen“, und ermöglichen ihnen stattdessen, „sich häufig als sehr angenehme Gefährten zu erweisen“.
Deligny hat zu diesem „Bericht“ ein kurzes Vorwort beigesteuert, in dem es heißt, dass Lin eher eine „Erzählung“ vorgelegt hat, „indem er kleine Einzelheiten und Gebärden beschreibt, die den lebendigen Ablauf des Projekts ausmachen … Der Versuch geht weiter: das Leben mit dem Floß … Die Erzählung von Jacques Lin lädt die Leser dazu ein, das Weite zu suchen … was ein Abenteuer anderer Art ist, als mit einem Hundeschlitten zum Nordpol zu fahren; wir suchen nach dem, was das Menschliche ausmacht.“
Zur Beschäftigung mit dem Partisanentum gehört für Deligny auch die Lektüre der Studien über kriegerische Ethnien in Lateinamerika, die der Ethnologe Pierre Clastres veröffentlichte. Delignys Buch darüber heißt „Eine einzigartige Ethnie“, Peter Engstler veröffentlichte es 2013. Es geht Deligny dabei um die „Natur“ – nicht um jene, die sich für Biotechnologen in Genen, Ganglien und Gehirnen verbirgt, sondern um das „Wesen“ – der Macht. Er vergleicht dazu Clastres Ethnien mit seiner halbnomadisch und halbklandestin in den Bergen lebenden Gruppe von Autisten. Auch sie streifen durch die Wälder – „handeln“ auch, aber „wollen“ nichts, nicht einmal das „Nicht-Wollen“. Obwohl ihre „Betreuer“ sie gerne dazu gebracht hätten, das heißt auch zum Sprechen. Sie, allen voran der Autor, wollen nämlich nicht im Namen dieser Sprachlosen sprechen, deren Handeln immerhin Spuren hinterlässt, die sich aufzeichnen lassen. Ihre seltsame Gemeinschaft im Wald nennt Deligny „infinitiven Kommunismus: „Vom ‚Infinitiv‘ zu reden bedeutet, von einem anderen Modus zu reden, dank dessen wir wollen können.“ Seine Überlegungen laufen auf eine Philosophie dieses Projekts „jenseits zwangausübender Gewalt“ hinaus. Während jedoch die archaischen Ethnien, die Clastres „Staatsfeinde“ nennt, „die Macht noch nicht erfunden haben, handelt es sich, was uns betrifft, eher um eine Ablehnung.“
Man kann aber oder muss vielleicht sogar über Deligny und den Film bzw. die Bilder reden
„Sich ein Bild von jemanden machen, heißt eine lebendige Beziehung zerstören“, meinte Roland Barthes. Inzwischen kann man geradezu von einer „Okulartyrannis“ sprechen. Man muss sich also vorsehen.
Für Deligny gibt es zwei Arten von Bildern – und neben den Obstpflückern die Bilderpflücker. Einer dieser Bildernehmer tauchte 1972 bei Deligny auf, um einen Film über dieses „Experiment“ mit den Autisten zu drehen. Der Film sollte „Ein Floß in den Bergen“ heißen, der Produzent – Francois Truffaut – änderte ihn dann jedoch in „Dieser Junge da“. Deligny erklärte Truffaut daraufhin: Das „Floß“ symbolisiere nichts, es solle nur daran erinnern, „wie prekär unsere Arbeit sein konnte“. Das Floß in den Bergen bezeichnet ein Bild, nichts als ein Bild, und das Bild „wortwörtlich ist autistisch“.
Deligny gab dem Film seine Stimme, ein „emphatisches Salbadern“ nennt Hartwig Zander das im Vorwort des von ihm übersetzten und bei Peter Engstler erschienenen Buches von Fernand Deligny „Annäherungen an das Bild“, in dem es um die damaligen Dreharbeiten geht und um den „Bilderpflücker“ (den Regisseur Renaud Victor, der sich in der Nähe des „Floßes“ einquartiert und in drei Jahren 20 Stunden Aufnahmen gemacht hatte).
Deligny, den einige heute als den Regisseur des Films bezeichnen, versuchte in dieser Zeit, Victor – dem Bilderpflücker – verständlich zu machen, worauf es bei den Autisten und dem ganzen Drumherum einschließlich der Dreharbeiten ankomme: „Gelingt es, in einer Geste das zu filmen, was man nicht sieht, und ist die Kamera so eingestellt, dass man bemerkt, was man nicht hat sehen können, so kann schon die Geste, ein Stück Brot zu nehmen, überraschen.“
In seinem Buch „Annäherungen an das Bild“ bevorzugt Deligny gegenüber dem Filmer Renaud und dessen Freund Richard, beides „68er“, das „analoge Sprechen“: „Der Bildernehmer ist sehr geduldig. Er hört mir zu, wenn ich von den Gänsen spreche.“ Deligny unterscheidet dabei zwischen Wild- und Hausgänsen, erstere sind frei, sie fliegen in Formationen, letztere sind gezähmt und flugunfähig. Sie werden gemästet und dann geschlachtet. Ähnlich ist es bei den Bildern: „Ob es sich um Bilder oder um Gänse handelt, ich sehe da keinen Unterschied …“ Eine „genommene Gans ist keine Gans mehr; das ist ein ggf. eßbares und nach Wunsch zähmbares Geflügel“, das sich nach der Freiheit sehnt, wenn eine Schar wilder Gänse am Himmel vorbeifliegt, das aber nicht mehr weg kann. „Wir müssen also, das sage ich dem Bildernehmer, bei den Gänsen beginnen, um zu den Bildern zu gelangen.“
Es gibt jedoch sone und solche Bilder: „Die vorgestellten Bilder sind gezähmte Bilder, sie fliegen nicht weit – und dann gibt es ganz und gar ungezähmte Bilder“. Das Volk liebt bestimmte wiederkehrende Bilder: „Es bleibt seiner Art treu, das der Wiederholung wortwörtlich bedarf. Aus ihr entstehen die wahrhaftigen Bilder, so wie man diejenigen Gänse wahrhaftig nennen könnte, deren beharrliche Existenz nicht irgendeiner Absicht entspringt.“
Deligny ist kein Bildernehmer, deswegen spricht er nicht über den Film, sondern in Analogien, wobei er durchaus immer wieder auf die eigentliche Sache zurückkommt: auf das autistische Kind, das nichts tut, was aber auch ein „Verhalten“ ist. Und weil es ihm letztlich um die Revolution geht, denkt er dabei nicht nur an Sergej Eisenstein, sondern auch an Anton Makarenkos sowjetische Arbeitskoloniegründungen für verwaiste Kinder während des Bürgerkriegs: „Die 100 Bengel aus der Gorkikolonie konnten einer Gesellschaft trotzen, die nichtsdestotrotz dabei war, deren Zukunftsperspektiven zu organisieren. Der Gesellschaft zu trotzen, das hätte für die Unsrigen bedeutet, sich zur Zielscheibe zu machen. Sie erhöhen ihre Chance, indem sie sich in einem Land verstreuen, das allein ihre Ausbeutung als prekäre Arbeitskraft veranschlagt.“
„Und gleichwohl brauchen sie eine ‚Kollektivität‘ oder, wenn man will, eine sie stützende Umgebung, die sie informiert, die sie auf regelmäßige und zusammenhängende Weise ‚inspiriert‘, die ihnen eine Existenzberechtigung zur Hand gibt; denn in aller Regel spüren sie, dass sie auf einer Erde überzählig sind, auf der alles so abläuft, als hätten sie dort nichts zu suchen. Der Film verleiht ihnen eine Daseinsberechtigung. Sie stellen sich einer Aufgabe. Man hat sie als charakterlich schwierig, schwachsinnig, ‚krank‘ und als Abfall behandelt. Sie können Beispiel geben. Mit der Kamera zur Hand werden sie von der Welt, der Welt der Anderen, die mit ihnen nichts zu schaffen hat, zur Kenntnis genommen. Jene Anderen, die damit zu Zeugen dessen werden, was sie Tag für Tag leisten. Inszenierung? Nein. Sichtbarmachung. Klarstellung. Herstellung von Öffentlichkeit.“
Man kann mit einer Kamera eine ganze Stadt in Schach halten, so sagte es ein Bremer 68er, der später irre wurde. Und tatsächlich kamen viele der bewaffneten RAF-Kader von Filmhochschulen oder studierten nach verbüßter Tat Film, einige aber auch Theater, die meisten Überlebenden schrieben jedoch Bücher. Deligny will weg von den Worten – um zur Wahrheit, zu den wilden Gänsen, zu gelangen: „Wir müssen in die entgegengesetzte Richtung jenes Weges aufbrechen, der beim Wort enden wird“ – den Autisten zuliebe.
Dazu gehört hier vielleicht noch der Hinweis, dass kürzlich ein neuer Film von Jean-Luc Godard Premiere hatte, er hieß „Goodbye to Language“.
Trotzdem hier noch mehr Worte über Delignys Experiment
„Es geht nicht darum, auf sie zuzugehen, sich mit ihnen zu beschäftigen, sich ihnen zuzuwenden. Dies ist nicht unser Vorgehen,“ hieß es an einer schon zitierten Stelle in „Das Floß in den Bergen“, die nicht mit in die
Merve-Ausgabe aufgenommen wurde. Im Film findet man eine positive Bestimmung ihres Vorgehens, die dort als weißer Bildtext vor einem grauen Hintergrund aufscheint: „Es geht darum, einen Weg zu finden. Deshalb, und nun seit sieben Jahren, seitdem dieses Vorhaben dauert, zeichnen wir Karten, unermüdlich.“ Woraufhin ein Kartenausschnitt gezeigt wird.
Bald sprechen die „Erwachsenen“ auch untereinander nicht mehr über die Kinder, weil es „zu nichts anderem dient, als die eingefleischte Gewohnheit, zu sprechen, zu nähren“. Deligny wird im Umgang mit den Kindern der Sprache gegenüber immer kritischer, um nicht zu sagen ablehnender. Auch in seinem Buch „Irrlinien“ will er nicht über sie schreiben: „Keine Geschichten. Keine ‚Fälle‘. Diese Zeilen berichten von einem Vorhaben.“
Aber wenn man gar nicht miteinander oder über die anderen sprechen würde, „wäre das Netz zusammenhanglos. Nichts Gemeinsames mehr für jeden, außer der Tatsache, daß der andere irgendwo dort wäre“ – auf einer der Hirten-Stützpunkte in den Bergen, in leerstehenden Häusern und seit langem aufgegebenen Seidenraupenzuchtstätten, oder gerade von einem Ort zum anderen ziehend. Das ist mit den „Irrlinien“ gemeint und dass sein Schreiben diesem ihren „Umherirren“ entsprechen soll.
Deligny weiß zwar, es gibt das, was von der „Natur“ kommt und das, was von der „Sprache“ kommt, aber er weiß auch, dass es ihm nicht gelingen wird, beim Schreiben zu „entwirren“, was „Angeborenes“ und was „Erworbenes“ ist. Seine Buchstaben, die neben den Karten die „Irrlinien“ nachzeichnen sollen, wünscht er sich als „Hieroglyphen, da ihre Abbildung darin besteht, dem zu entgehen, was zur Ordnung des Sprechens gehört“. So wie ein autistisches Mädchen, dessen „Hände sprechen“, dass damit aber keine „nützlichen Gebärden“ ausführen kann, ebensowenig wie ihre weit weg wohnende Mutter, deren rechte Hand gelähmt ist und die nichts mehr isst, während ihre Tochter in den Cevennen, obwohl magersüchtig, mit großem Appetit alles in sich reinstopft. Deligny begrüßt es natürlich, „wenn die Sprache unter den beiden zum Sprechen gebracht wird und es ihnen ermöglicht, gut miteinander auszukommen“. Und er versteht auch denjenigen gut, der sagt, „daß unsere tiefsten Instinkte nur ein Echo der Sprache sind und daß man – und sei es auch nur, um die Schulter des anderen zu erfassen oder zu berühren – sich ihrer bedienen muß. Denn das ist richtig, wenn eine Person eine andere berührt oder wenn einer den anderen ansieht.“
Da Deligny und Lin den Begriff „Floß“ so passend für ihr Experiment fanden, beteiligte ich mich 2013 an einer Floßfahrt auf einem schwedischen Fluss.
Meine früheste Floßerinnerung stammt aus den Sechzigerjahren. Da bekamen wir in der Schule eine Broschüre, mit der man uns in Form einer Abenteuergeschichte davor warnte, aus Ölfässern ein Floß zu bauen, um damit die Weser abwärts zu fahren. Die beiden Jugendlichen Protagonisten, die das taten, wären dabei um ein Haar in die Nordsee und in den Tod abgetrieben worden.
Nach der Wende hörten wir immer öfter ein russisches Lied, das zum Tag des Milizionärs im sowjetischen Fernsehen gesungen worden war: „Auf dem kleinen Floß”. Es handelt davon, dass nur ein solches kleines Floß uns durch alle Irrungen und Wirrungen bringen kann, ein Floß – als Inbegriff der Liebe. Den Liebenden im Lied gelingt damit eine schöne Reise. Eine Freundin bezeichnete einige Jahre später ihre Matratze auf dem Boden als Floß. Ich habe sehr schöne Erinnerungen daran.
Zu dem schwedischen Floßabenteuer flogen wir zu viert, von Berlin nach Oslo, mit 1.000 km/h. In Oslo wurden wir von der Reiseführerin mit einem Kleinbus abgeholt. Nach 170 Kilometern durch Wälder und an Seen vorbei erreichten wir in Nordvärmland eine Stelle am Gebirgsfluss Klarälven, die bis 1991 von gewerblicher Flößerei benutzt wurde. Inzwischen betreibt dort die Firma „Vildmark i Värmland” ein Touristencamp, zu dessen Freizeitangeboten u.a. Floßfahrten gehören. Als wir ankamen, mussten wir das Floß erst einmal bauen – mittels 40 drei Meter langen Stämmen und 80 Meter Tauenden. Ein Mitarbeiter von „Vildmark” zeigte uns die richtigen Knoten. Dann mussten zwei von uns sich lange Gummistiefel anziehen, um die Stämme von der Wasserseite aus zu vertauen. Wir anderen ließen die Stämme ins Wasser rollen und arbeiteten ihnen vom Ufer aus zu. Währenddessen fuhr unsere Reiseführerin „unseren” Kleinbus flussabwärts – bis dahin, wo unsere Floßfahrt enden sollte. Von dort brachte sie ein anderes Auto zurück zu uns. Mit ihr waren wir wieder zu fünft, der Bau des Floßes, das aus drei Lagen Stämmen bestand, dauerte etwa zwei Stunden, dann konnten wir raufspringen – und uns vom Ufer abstoßen. Unsere Floßstrecke betrug knapp zehn Kilometer. Unterwegs wechselten wir vom Paddeln zum Erzählen, vom Essen zum Kaffee trinken. Ich rauchte. Wir hätten angeln können, uns erwartete jedoch am Abend ein Fischessen im Hotel. Nach fast fünf Stunden sahen wir unser Ziel vor uns, es bestand aus einer Art Hafen in einer Flusskurve, in dem die geflößten Stämme sich auf quasi natürliche Art sammelten. Wir ruderten ans Ufer und bauten dort das Floß wieder auseinander. Am Ufer standen fünf Tonnen, in die wir unseren Müll getrennt entsorgten. Die Stämme und Taue, das Regenzeug und die Versorgungskisten wurden mit Lkws abgeholt. Auf Schildern zeigte man uns, wie wir die einzelnen Taue zusammenzulegen und zu verstauen hatten.
Als das geschehen war, brachte uns die Reiseleiterin mit ihrem Kleinbus zu einem riesigen Spa-Hotel. Dorthin mussten wir wieder ein Stück flussaufwärts fahren. Als wir am Ausgangspunkt unserer Floßfahrt vorbeikamen, stoppte einer der Mitreisenden die Zeit: Die Strecke, für die wir einschließlich Floßbau fast einen Tag gebraucht hatten, legten wir nun mit dem Auto in sechs Minuten zurück. Wir übernachteten im Hotel, am nächsten Morgen holte uns ein Taxi von dort ab, das uns zum Flughafen nach Oslo brachte. Und von da aus ging es mit dem Flugzeug wieder zurück nach Berlin … Was für eine Irrlinie.
Man kann sich vielleicht Delignys „Floß“ eher über seine Übersetzer nähern. Sie haben sich wahrscheinlich mehr Gedanken über seine Worte gemacht als die Leser. 2013 fragte ich den Romanisten Ronald Voullié
Wie bist du auf Deligny gekommen?
RV: Wenn man sich mit französischer Literatur und Geschichte beschäftigt, hat man immer ein Auge auf deutsche Ausgaben französischer Texte gerichtet. So kannte ich zumindest dem Namen nach die beiden Bücher „Ein Floß in den Bergen“ und „Provokateure des Glücks“, die Anfang der 1980er erschienen sind. Bei der Arbeit an der Übersetzung von „Tausend Plateaus“ von Deleuze-Guattari stieß ich dann auf Delignys „lignes d’erre“, in dem das Kapitel mit dem schönen Namen »Zum Ritornell« mit dem Satz »Ein Kind, das in der Dunkelheit Angst bekommt, beruhigt sich, indem es singt« beginnt. Wir haben „ligne d’erre“ damals mit »Irr-Linien« übersetzt. Etwa zehn Jahre später lernte ich dann auf der Buchmesse den Verleger Peter Engstler kennen, der sich stark für Deligny und sein Projekt mit den autistischen Kindern interessierte. Daraus ist dann das kleine Buch „Irrlinien“ hervorgegangen.
Ist das nicht ein etwas seltsamer Titel für ein Buch, in dem es um autistische Kinder geht?
RV: Ja, vielleicht. Das französische Wort erre leitet sich her vom altfranzösischen errer und dies wiederum vom lateinischen iterare, was »reisen, marschieren, fahren« bedeutet. Das hat also nichts mit »Irrtum« oder »in die Irre gehen« zu tun. Um Irrtümer zu vermeiden, hätten wir vielleicht lieber »Wegstrecken« sagen sollen.
Obwohl ja manche Reise in einem Irrweg endet …
RV: Gewiss, und manche Übersetzung auch. Aber man sollte hier eher an die mittelalterlichen Itinerarien denken, die damaligen Reiseführer, in denen Wegstrecken, Straßen und Herbergen für Reisende, Kaufleute oder Pilger verzeichnet waren. Die Deligny’schen Irrlinien sind also Karten, auf denen die Wege, Wegstrecken, Rastpunkte und, sagen wir mal, Lieblingsorte der autistischen Kinder verzeichnet sind. Delignys Mitarbeiter und »seine Kinder« lebten ja mehr oder weniger in der freien Natur und waren damit beschäftigt, Feuerholz zu sammeln, Essen zu kochen und Brot zu backen. Dabei hat sich herausgestellt, dass diese Kinder immer wieder dieselben Wege gehen und dieselben Orte aufsuchen. Diese Wege und ihre Überschneidungen wurden auf Karten übertragen, und diese Karten erinnern sehr an Werke der modernen Kunst. So gab es letzten Winter in Paris, im Palais de Tokyo, eine Ausstellung mit einigen »seiner« Bilder. Zuletzt wurden sie in Köln gezeigt.
Hat Deligny nicht auch Romane geschrieben?
RV: Ja, mehrere. Zu seinem 100. Geburtstag hat sein französischer Verlag seinen Roman »Die siebte Seite des Würfels« neu herausgegeben. Dabei handelt es sich um eine Art »Psycho-Krimi«, in dem Deligny in die 30er Jahre zurückgeht, in ein Asyl, in dem er damals gearbeitet hat, um von da aus das Schicksal seines Vaters im Ersten Weltkrieg zu untersuchen.
Warum fand sein antipsychiatrischer »Versuch« gerade in den Cevennen statt?
RV: Ich nehme an, es ging zum einen darum, möglichst weit von den Einflussbereichen der Institutionen zu kommen. Es handelte sich ja nicht um ein staatlich genehmigtes Unternehmen. Zum anderen waren die Cevennen damals einer der ärmsten Landstriche Frankreichs, in dem die Landwirtschaft weitgehend am Boden lag. Das heißt, es gab viele halb verfallene Gebäude, in denen man sich, mit stillschweigender Billigung der Besitzer, einrichten konnte, und da die Gegend dünn besiedelt war, bestand weniger Gefahr, dass diese Kinder Anstoß erregten. Ich glaube, es ist Jacques Lin, der berichtet, eine alte Dame habe hinter vorgehaltener Hand gesagt, Deligny hätte besser daran getan, nicht so viele verrückte Kinder in die Welt zu setzen. Aber wer weiß, vielleicht verspürte Deligny dort auch noch den rebellischen Geist der Katharer und Albigenser oder der Kamisarden.
Nach dem Mai 68 hat sich die antiautoritäre Bewegung in verschiedene Richtungen aufgespalten, die einen folgten verstärkt dem Weg des Leninismus oder Maoismus, die anderen begannen den langen Marsch durch die Institutionen, manche suchten ihr Glück im bewaffneten Kampf und noch andere zogen aufs Land. Das Ziel der Letzteren war Südfrankreich bzw. Okzitanien, das im Grunde von Norditalien bis Südspanien reicht. In Südfrankreich gelang es teilweise die okzitanische Sprache wieder in den Schulen zu lehren, manche Dörfer und Städtchen bekamen zweisprachige Straßenschilder. In dieser Zeit wurde Delignys Projekt anscheinend zu einem der bevorzugten alternativen Reiseziele …
RV: Richtig, und wie es scheint, waren Deligny und seine Mitarbeiter nicht immer begeistert darüber. Wie er erzählt, hat ein Besucher einmal eine alte rostige Kaffeekanne, die zwar ausgedient hatte, aber dennoch einen festen Platz in der Ordnung der Autisten einnahm, interessiert in die Hand
genommen, angeschaut und an einem anderen Platz wieder abgestellt, was sofort zur Rückkehr eigentlich überwundener Symptome führte.
War Deligny nicht selbst schuld an dieser verstärkten Aufmerksamkeit, da er sein Projekt ständig mit verschiedenen Veröffentlichungen begleitet hat? Die Dünndruckausgabe seiner Oeuvres, die Sandra Alavarez de Toledo 2007 herausgebracht hat, umfasst 1845 Seiten, und das ist noch nicht einmal alles …
RV: Das mag sein, aber die zunehmende Bekanntheit des Projekts führte vielleicht auch dazu, Sponsoren aufzutreiben. Denn das Ganze lief ja unter den ärmlichsten Bedingungen. Und seine Texte sind keine leichte Kost, es sind keine Propagandatexte oder wissenschaftliche Abhandlungen. Hartwig Zander hat seiner Übersetzung von Delignys Buch „Briefe an einen Sozialarbeiter“ einen kleinen Text vorangestellt, in dem er die sprachlichen Schwierigkeiten beschreibt, mit denen uns Deligny konfrontiert.
Das Buch „Eine einzigartige Ethnie. Natur der Macht und Macht der Natur“ erinnert mich an die aphoristische Schreibweise von Nietzsche in der „Fröhlichen Wissenschaft“.
RV: Ja, aber während Nietzsche im Korsett der klassischen Philologie steckt, versucht Deligny sprachlich und gedanklich, altüberkommene Vorstellungen zu sprengen. Der Autismus kann verschiedene Grade annehmen, aber Deligny geht in seinen Überlegungen zumeist von Kindern aus, die weder hören noch sprechen. Unter seinen »Patienten« waren Kinder, die aus – für einen »normalen« Menschen – unerfindlichen Gründen mit dem Kopf gegen die Wand schlugen, sich die Arme aufkratzten oder sich die Hände blutig bissen, und diese Symptome ließen unter den Bedingungen des Projekts nach. Was Eltern und Anstalten nicht gelungen war, gelang im Cevennen-Projekt. Doch Deligny war damit nicht zufrieden. Er fragte sich, ob die scheinbare Eingeschlossenheit des Autisten in seine eigene Welt nicht vielmehr eine Gegenwelt zu unserer Welt der geschwätzigen und letztendlich nichtssagenden Kommunikation ist. So nimmt er uns mit Pierre Clastres und Claude Levi-Strauss mit zu einer Reise zu den Amazonasindianern, um seine Rolle als Sprechender unter Nichtsprechenden zu reflektieren. Der Häuptling der Amazonasindianer spricht mit dem fremden Ethnologen, aber sein Volk nicht. Wenn das Verdikt von Wittgenstein, was die Sprache nicht sagen kann, davon muss sie schweigen, besagt, dass es hinter der Mauer des Schweigens nichts gibt, könnten uns die Autisten den Weg in eine andere Welt weisen.
2014/15 übersetzte Ronald Voullié Delignys Buch „Die Umwege des Handelns oder die kleinste Gebärde“ ins Deutsche.
An einer Stelle heißt es darin: „Ich musste wie all jene, die in meinem Alter sind, die Unzulänglichkeiten und Auswüchse der ‚-ismen‘, die Hoffnungsträger sind, erleben. Und dann musste ich mir gewahr werden, dass meine nächsten Nachbarn – Autisten, unzugänglich für die symbolische Domestizierung und nicht mit diesem Bild vom guten Menschen ausgestattet, das uns zukommt – ehrlich gesagt, ziemlich fremd waren. Also schreiben, beschreiben? Doch in welcher Sprache von denen sprechen, die keine Sprache sprechen? – Dafür jedoch mit Gesten handeln.“ Von ihnen erzählt Delignys Buch über die kleinste Gebärde.
Das nächste Deligny-Buch, das Ronald Voullié für Peter Engstler übersetzte, hieß „Das Arachneische“, von „Arachne“, die eine sehr geschickte Weberin in der griechisch-römischen Mythologie war. Und daraus abgeleitet Arachnida – die Spinnentiere und die Arachnologie – die Spinnenforschung. Für Deligny geht es bei dem Arachneischen um das Spinnennetz und wie es gewebt wird. Wenn wir uns an seinen Begriff „Unser kleines Netzwerk“ erinnern und an seinen Gedanken „Aber wenn man gar nicht miteinander oder über die anderen sprechen würde, wäre das Netz zusammenhanglos“, sowie an die „Irrlinien“ – die nachgezeichneten Wegstrecken der Kinder: Karten, die wie eine Art Netz aussehen, dann wird klar, warum er über das Spinnennetz und den Zusammenhang mit seinem Floß im Wald nachdenkt. Zitat „Ich habe also nach den Zufällen des Lebens gelebt, eher im Netz als anders, und es findet sich, dass es, bei den Zufällen dessen, was ich gern lese, immer ein Netz gibt, das sich dort findet. Das ist ein wenig die Geschichte der Mauerecke und der Spinne, die sich schließlich begegnen; wenngleich die Spinne sie auch gesucht hat, so kann man auch sagen, dass die Mauerecke sie erwartet hat. Und es stimmt, dass ich dahin komme, mir zu sagen, dass das Netz mich an allen Ecken erwartet. Dieses hier, das auf die Fünfzehn zugeht (was für ein Netz ein sehr hohes Alter ist), hat als Projekt die nahe Präsenz von autistischen Kindern.“ Aber, „um auf das Spinnenreich zurückzukehren, man darf auf gar keinen Fall glauben, dass alle Spinnen ein Netz weben; die australische Kugelspinne klammert sich an einen horizontalen Faden und lässt ein Bein kreisen, an dem ein weiterer Faden hängt, dessen Ende ein klebriges Tröpfchen trägt, an dem die Insekten hängenbleiben. Und das ist nur ein Beispiel für die Vielfalt der Fallen, über die die Spinnen verfügen können. Man weiß, dass das Gleiche auch für unsere Gattung gilt.“ Für Deligny versteht es sich von selbst, dass es sich bei dem, was die Analogie betrifft, um eine Ähnlichkeit handelt, die die Phantasie zwischen zwei oder mehreren wesentlich unterschiedlichen Gegenständen des Denkens herstellt.“ Er denkt deswegen gerne in Analogien.
Für mich war darüber hinaus interessant, was er über das „vernakuläre“, das selbstgemachte Sprechen sagt, das aus Wörtern und Redewendungen besteht, die im eigenen Bereich desjenigen, der sich ausdrückt, kultiviert werden, im Gegensatz zu dem, was woanders kultiviert und über den Markt herbeigebracht wird.
„Das Arachneische“ ist Delignys letztes Buch. Um der Ründe willen sei abschließend noch erwähnt, dass der Merve-Verlag demnächst ein weiteres Buch des 1992 gestorbenen Antipsychiaters Félix Guattari herausgibt, das von Delignys Arachneischem inspiriert wurde und ebenfalls von Ronald Voullié übersetzt wird.
Helmut Höge ist Journalist und Autor, er lebt in Berlin.