Revolution?

Um 7:31 Uhr von Bahnhof Gesundbrunnen, Gleis 4. Bericht über einen Fußballausflug, zum Heimspiel des Hamburger Fünftligisten Altona 93. Eine frühmorgendliche Freakshow in Pankow, mit Herthanern und diversen Polizisten.

Von Florian Ludwig

„Doch einmal wird es anders sein, dann knasten wir die Bullen ein und Deutschland wird vereinigt sein!“
Mitte der Achtziger hätte in der DDR kein Schwein gedacht, dass dieser, mehrheitlich von Fußballanhängern diverser Oberligamannschaften gerne und oft geträllerte Schlachtgesang, nur wenige Jahre später wahr werden sollte. Naja, nur die wenigsten Ostpolizisten landeten nach der Wende aufgrund ihres beruflichen Werdeganges im Knast. Auch die Fans hätten sich wohl am wenigsten selbst geglaubt, diese „friedliche Revolution“ des 89er Herbstes voraussehen zu können. Die kam aber und viele Ostbullen landeten im privaten Sicherheitsgewerbe. Wahrscheinlich hatten sie dort einige selbsternannte Freiheitskämpfer und Fans des 1.FC Union als Kollegen. Fraktionen anderer Vereine bestätigten sich während ihrer Nachwende-Nachtschichten als Türsteher untereinander, dass ihre rechtsradikalen Gesänge in den Stadien und auf den Bahnhöfen eben nur die Bonzen und Sicherheitsorgane der DDR provozieren sollten und doch keineswegs so gemeint waren.
Überhaupt, beim Thema Aufstände und Revolutionen zählen Fußballfans nicht unbedingt zur alles durchschauenden Avantgarde. Waren die Aktivitäten von Ultras einiger ägyptischer Vereine beim Arabischen Frühling oder auch das vereinigte Vorgehen der Istanbuler Ultras bei den Gezi-Aufständen durchaus interessant zu beobachten, konnte einem beim Agieren von Fans bei den Unruhen in der Ukraine nur noch schlecht werden. Die hohe Anzahl von Fans bei nationalistischen Aufmärschen in Polen, Russland oder Italien spricht Bände.
Wie schrieb ein befreundeter Schreiberkollege in einem seiner ersten Werke: „Fußballfans sollten an Ketten ziehen und sich nicht welche anlegen lassen!“
Auf leisen Sohlen schleiche ich mich heute aus der Wohnung, um Frau und Kind nicht zu wecken. Trotz früher Stunde bin ich wach und voller Erwartung. Ein Fußballausflug steht an, zum Heimspiel des Hamburger Fünftligisten Altona 93. Da auf die Straßenbahn kein Verlass ist, beziehungsweise ich überhaupt nicht weiß, ob die am frühen Morgen überhaupt schon fährt, mache ich mich zu Fuß auf in Richtung S-Bahnhof Pankow. Ruhig und still ist es in den Straßen unserer Wohngegend, in der Bullenwache sehe ich hinter dem Fenster ihrer Dienststube einen Beamten an seiner Kaffeetasse nippen. Auf dem Pott prangt das Emblem der „Gewerkschaft der Polizei“, GdP. Na immerhin nicht das der AfD, denke ich mir. Aber deren Emblem hat bestimmt so mancher Bulle auf seinem Schlagstock zu kleben.
Vor dem Haltestellen-Döner-Imbiss und in der Bahnhofshalle kommen mir einige schräge Gestalten entgegen gewankt. Clubgänger und Diskoprolls, tätowiert und besoffen. Unser örtliches Klientel amüsiert sich weniger in Jazzcafés und Lofi-Lounges. Auf dem S-Bahnsteig haben sich zwei Typen aus Bernau oder Birkenwerder in den Haaren. Bei beiden reicht es nicht mehr für einen knackigen Faustkampf. In Zeitlupe und einhändig schieben sie sich über den Bahnsteig, um sich dabei Unverständliches aus ihren restaggressiven Fressen entgegen zu nuscheln. Mein erweckendes „Jutn Morgen!“ kommt bei den beiden Geiern der abklingenden Nacht erst gar nicht an.
Zwei Stationen weiter, am Bahnhof Gesundbrunnen, entere ich einen vollständig einsamen Bahnsteig. Nichts los im wilden Wedding, da hätte ich mehr erwartet und immerhin damit gerechnet, dass die Freakshow in Pankow erst der Vorfilm zum Hauptprogramm im Problembezirk war. Aus der gleichzeitig einfahrenden Ringbahn stolpert lediglich ein mitreisender Fußballfreund aus dem Prenzlauer Berg.
„Wie war ditt, Treffpunkt bei Mc Donalds?“
„Jawoll, der Kaffee is da einmalich gut.“
„Na, meinetwegen.“
Gemeinsam erklimmen wir die ruhende Rolltreppe.
„Wie jehts deinem Rheuma?“
„Scheiße!“
Im Fastfood-Schuppen winken uns bereits zwei Mitreisende zu. Da wir noch nicht vollständig sind, hole ich mir auch einen sagenumwobenen Kaffee. Der schmeckt gut, wenn auch nicht legendär. Die Bedienung hinter dem Rinderseuchetresen wirkt wach, hatte wohl schon zwei oder drei Tassen des hauseigenen Gebräus.
„Sind die beiden Herthaner schon da?“
Gleichzeitig zum Spiel von Altona 93 spielt heute Hertha BSC in der Hansestadt. Daniel und sein Kumpel wollen sich ein zeitlich versetztes Doppelevent geben, da die alte Dame erst um 17.30 Uhr beim HSV ran muss. Den meisten von uns ist so ein Doppelgehoppe zu anstrengend. Wir wollen lieber trinken und tanzen, im Vereinsheim des Hamburger Fünftligisten, bei Holsten und Ska, bei Astra und Punkrock. Obwohl Andreas im Vorfeld vermutete, dass wir bei unserer Reise mit dem Wochenendticket über Schwerin, mit mindestens 300 blau-weißen Berlinern unterwegs sein würden, war von denen im Gesundbrunnen noch nichts zu sehen.
Während unsere beiden Quotenherthaner herangeschlichen kommen, sammle ich das Geld für die WE-Tickets ein.
„Fuffzehn Euro pro Nase. Och von euch!“
Anstandslos zucken die beiden ihre Geldbörsen, obwohl sie wegen des späten Spiels ihres hauptstädtischen Kultvereins beim HSV, separat zurückreisen werden. Während ich das Geld verstaue, wird auf dem Kaffeetisch ein Joint gerollt. Zwei der Mitreisenden wollen es zu früher Stunde wissen und schon mal ein bisschen fliegen. Zumindest auf dem Bahnsteig, da im Zug ja Rauchverbot ist. Unten bei Gleis 4 sammeln wir uns und entdecken vier Bundesliga-Fans, die sich ebenso auf in Richtung Hamburg aufmachen wollen. Aufgrund ihres Auftretens vermute ich, dass sie die Nacht durchgesoffen haben, ihre 5-Liter-Whiskypulle mit Pumphahn scheint in einer Kneipe geklaut worden zu sein.
„Daniel! Kennste die?“
„Nee!“
Plötzlich und fast direkt hinter uns stehen zwei Platzhirsche, die aufgrund ihrer Aufmachung, ihres Gestus und ihrer Tuschelei, von allen Mitgliedern unserer bunten Ausflugstruppe innerhalb von zweieinhalb Sekunden als Beamte der „Ermittlungsgruppe Hooligan“, umgangssprachlich und mit Volkes Schnute gesprochen, als EGH‘ler erkannt werden. Nach außen geben wir uns entspannt und wir geben uns aufgrund diverser Dresscodes und dezenter Fanutensilien auch keine Mühe, als fröhliche Wandervögel mit dem Reiseziel Mecklenburgische Seenplatte durchzugehen. Nur einer unserer beiden Zauberzigarettenzonis hat sieben oder elf Schweißperlen auf der Stirn:
„Mach dit scheiß Horn aus! Man, der janze Bahnsteig riecht …“
Die Hool-Ermittler schauen nach links und etwas länger nach rechts, dorthin, wo die vier Hertha-Honks mit ihrem Whiskyfass rumeiern. Verwirrt bleibt der Blick des einen Hoolibullen auf dem Rucksack eines Mitreisenden kleben. BFC, FC Carl Zeiss Jena, Junge Welt, roter Stern. Einige Pins, viele Inhalte. Was ist nun los, fragt der bleierne Blick des Beamten. Wir steigen in den Zug, sie bleiben draußen. Bei der Abfahrt winken wir nicht. Ein Pistolero tippt hektisch auf seinem Handy. Beim Umsteigen in Schwerin wissen wir warum. Die Bundespolizei hat auf dem örtlichen Hauptbahnhof alles zusammengetrommelt, was an Beamten greifbar war. Keine kernigen Typen, viele gemütliche Dauersemester. Bizarr wirkt der waldschratige Vollbart des einen Bullen. Passt nicht zur Aufstandsbekämpfungsbekleidung. Egal. Sie lassen uns mit ihrer Sperrkette nicht zum Rangierbahnhof, aber dafür in den Kiosk.
„Noch wer nen Kaffee?“
Das Kräfteverhältnis ist unausgeglichen, auf einen Fan kommen drei Beamte. Allet jut. Keene Unioner in Sicht, keen Krieg im Tunnel!
Auf dem aktuellen Bahnsteig wartet eine große Überraschung. Der Anschlusszug nach Hamburg ist schon einmal ohne uns vorgefahren.
„Scheiße! Und nu?“
„Herthaner! Du bist jut mit dein Smartphone. Guck nach! Mach wat!“
„Ja, ja. Weiter über Bad Kleinen und Lübeck. Letzte Chance uff Pünktlichkeit zum Oberligakracher!“
„Na dann hopp!“
Der etwa halbstündige Zwangsaufenthalt auf einem Dorfbahnhof in Mecklenburg-Vorpommern hatte uns das eingebrockt. Die arbeitsgeile Zugbegleiterin wusste prompt Bescheid. Zwei Heimkinder aus der örtlichen Einrichtung wurden auf den Gleisen gesichtet. Kurz danach kam sogar der Heimleiter zum Zug und rauchte mit der Schaffnerin eine Zigarette. Sie bekam einen weiteren Anruf, die Landespolizei bat noch um Geduld. Die elternlosen Minderjährigen blockierten weiter. Alle Räder stehen still, Ulrike -Bambule- Meinhof hätte ihre Freude gehabt. Das Heimkind als revolutionäres Subjekt von morgen.
Wir, die Fußballhotten von heute und gestern, reisen per Bimmelbahn zum nächsten historischen Ort der bewaffneten Revolution. Bad Kleinen, kleiner Bahnhof mit großer Geschichte. Wir staunen.
„Meine Fresse! Hier siehts ja immer noch so aus, wie damals im Fernsehen.“
„Kiek! Da is noch der Kiosk, von da aus hat die Verkäuferin damals allet jesehn.“
„Die haben se dann och fertich jemacht.“
1993 im Juni wollten GSG 9 Beamte die beiden mutmaßlichen RAF-Angehörigen Grams und Hogefeld auf dem Bahnhof festnehmen. Verpetzt hatte sie der Verfassungsschutzspitzel Steinmetz. Grams entzog sich den Elitebullen, feuerte mit einer Wumme um sich. Ein Beamter blieb liegen, Grams selber stürzte getroffen auf das Gleis. Die Bockwurstdealerin sagte damals aus, dass Grams hingerichtet wurde. Per aufgesetztem Kopfschuss. Ein Aufschrei der revolutionären Massen blieb aus, was folgte, war ein monatelanges Mediengewitter. Minister und führende Beamte mussten ihren Hut nehmen.
Wir reisen weiter in Richtung des alten Bundeslandes Schleswig-Holstein. Wenn wir in Lübeck den Anschluss verpassen, war es das mit Fußball in Altona. Doch der Etappenritt über den ehemaligen eisernen Vorhang verläuft flott und ohne Gleisblockaden. Im Westen ist Bambule out und die Revolution tot.
Auf dem Bahnhof der Marzipanstadt staunen wir über hunderte HSV-Fans, die mit demselben Zug wie wir zum Heimspiel ihrer drei Buchstaben wollen.
„Wat isn hier los? Liebt denn hier keener den einheimischen VfB?“
Unsere zwei mitgeführten Altona 93-Schals outen uns als Fußballrevolutionäre. Unterklassenfans mit selbstbewusster Attitüde. Die Lübecker Marzipan-HSVer scheint das nicht zu jucken. Wir dürfen mit einsteigen ohne uns den Weg freischießen zu müssen. Im Oberdeck schallt schwarzweißblau-lastiger Schlagertechno aus einer MP3-Heule. Wir schunkeln nicht mit, beschweren uns aber auch nicht. Unterwegs steigen weitere Bundesligafans zu. Es wird eng, wenn auch nicht so eng, wie für ihren Verein an den jeweiligen Saisonenden der letzten drei Jahre.
Ich muss pullern, der Mc Donalds Kaffee will wieder raus. Vor dem Zugklo stehen viele Lübecker Bierboys Schlange. Frustriert nehme ich wieder Platz.
„Wenn ick hier nich pinkeln darf, isset nich meine Revolution!“
„Holla, holla, Emma Goldman!“
„Richtich! Zehn Punkte!“
In Hamburg Hauptbahnhof strömen die Massen aus dem Zug und in Richtung Volkspark. Nur wir suchen die S-Bahn, um in Richtung Altona, zur Adolf-Jäger-Kampfbahn zu fahren. Einer unserer Herthaner ist verwirrt.
„Klingt son bisschen krass, oder?“
„Locker bleiben. Is dit zweetälteste Stadion, wo noch jespielt wird. Dit hieß schon so, da war der kleene Österreicher noch nich mal jeplant. Wer hat nochmal ditt Olympiastadion bauen lassen?“
Ein Berliner atmet durch.
„Endlich in Teddytown!“
Ein weiterer Berliner belehrt ihn.
„Thälmann hat hier nich nur Revolution jemacht. Im Namen der KPD wurde och ins Rotlichtmilieu investiert.“
„Ejal! Bier holn und ab zum Spiel!“

Florian Ludwig, geb.1972, ist Fußballhotte und Linker mit Knasterfahrung wegen des Vorwurfs versuchter Abrüstungsaktivitäten an Bundeswehrkarren. Außerdem ist er Fan von Tennis Borussia Berlin und ging schon ins Stadion, als von vielen Autonomen Fußballfans noch mit Nazis gleichgesetzt wurden. Er begann zur Jahrtausendwende mit dem Schreiben von Texten für Fanzines, Blogs und anderen Erzeugnissen. 2014 veröffentlichte er das Buch „Mit Fußfesseln bin ich nicht so flott – Geschichten über Unterklassenfußball, Feierabendterrorismus und sonst so …“.
Zuletzt erschien:
BRANDENBURG MUSS BRENNEN, DAMIT WIR GRILLEN KÖNNEN
Roman, Klappenbroschur, 184 S., 14 EUR, auch als E-Book für 8,99 EUR