Rostock-Lichtenhagen ist Instrument für Ressentiments gegen den Osten

Über 40 Jahre nach dem Vietnamkrieg und 28 Jahre nach dem deutschen Mauerfall treffen sich zwei Nachgeborene aus der zweiten Generation vietnamesischer Immigrant*innen. Dan Thy Nguyen, Kind südvietnamesischer Bootsflüchtlinge in der BRD und Angelika Nguyen, Kind eines nordvietnamesischen Vietminh-Kämpfers gegen die Kolonialmacht Frankreich und die US-Invasion, der wegen seiner deutschen Frau in die DDR eingewandert ist, reden in einem Café in Berlin-Kreuzberg über Rassismus in Ost- und Westdeutschland, Rostock-Lichtenhagen, ein Dorf in der Eifel und Lion Feuchtwanger.

Von Angelika Nguyen und Dan Thy Nguyen

Beide Länder waren einst in einen kapitalistischen und einen sozialistischen Staat geteilt: Vietnam und Deutschland. Dann kamen die Immigrant*innen aus dem sozialistischen Nordvietnam in die sozialistische DDR und ab 1975 geflüchtete Boatpeople aus dem kapitalistischen Südvietnam in die kapitalistische BRD.
Die Boatpeople im Westen und die Vertragsarbeiter*innen im Osten trennte bis 1989 nicht nur die Mauer, sondern auch gänzlich verschiedene Geschichtsbilder von Vietnams Geschichte, dem Krieg in Vietnam und von den Kolonialmächten – und auch von dem Land, in dem sie gelandet waren. Noch heute sprechen vor allem Boatpeople der ersten Generation von ihren Todfeinden im Osten Deutschlands, die sie als regimetreu zum Staat Vietnam verachten. Berührungspunkte gibt es kaum. Oder doch?

Angelika Nguyen: Weißt du, bevor wir uns kennenlernten, habe ich gar nicht großartig über Boatpeople nachgedacht. Das waren für mich einfach die Westvietnamesen, die den sozialistischen Staat gehasst haben, die mir sehr fremd waren.
Aber in den letzten Jahren habe ich über Parallelen zwischen West- und Ostvietnamesen nachgedacht. Da ist einmal die Konstellation der semikolonialistischen Helfer: bei euch war das Rupert Neudeck, der mit seiner „Cap Anamur“ die Bootsflüchtlinge aus dem Meer fischte, und bei uns waren das die Brigadeleiter aus den DDR-Betrieben, die kleine vietnamesische Arbeiter*innen unterrichteten und ihnen halfen, im Leben zurecht zu kommen. Beides sah man dann auf arrangierten Fotos in den Zeitungen: die weißen Missionare und ihre Schützlinge.
Und dann der Rassismus: den erlebten vietnamesisch stämmige Menschen in beiden deutschen Staaten jeden Tag. Der reichte von alltäglichen Beleidigungen und Hetze bis zu Gewalt und Mord. Und schließlich, nach dem Mauerfall, eine Zunahme der fremdenfeindlichen Stimmung überall, das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen, erst gegen die Erstaufnahmestelle, gegen die rumänischen Menschen, dann, als die weg gebracht worden waren, gegen das Wohnheim der vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen. Und die Toten in Mölln und Solingen.
Wie war das bei euch nach dem Mauerfall? Habt ihr überhaupt etwas gemerkt?

Dan Thy Nguyen: Nach dem Mauerfall merkten wir in unserem Ort – ich war ja erst 8 Jahre alt – eine Zunahme des täglichen Rassismus gegen unsere Familie. Wir haben die TV-Bilder von Rostock-Lichtenhagen gesehen, und ich weiß noch, dass mein Vater sagte: „Jetzt müssen wir lernen, uns zu verteidigen.“ Mein Vater ist Metallschlosser und arbeitet in einem Braunkohlekraftwerk. Er hat Starkstromkabel zurechtgeschnitten, die wir als Keulen benutzen konnten. Die haben wir dann in der Wohnung versteckt, an verschiedenen Stellen, für den Fall, dass wenn Neonazis kommen, wir sie einsetzen können. Wir mussten sie dort verstecken, wo niemand rankommt. Die größte Angst meines Vaters war, dass die Neonazis unsere Waffen womöglich selbst benutzen könnten, um uns dann umzubringen.
Ich wuchs in einem Dorf am Rande der Eifel auf. Wir waren arm. Jedenfalls so arm, wie man in Deutschland sein konnte. Ich trug bis in die achte oder neunte Klasse hinein nur von der Kirche gespendete Kleidung. Auch Spielzeug wurde von der Kirche bereitgestellt. Es gab jeden Tag ein sehr kleines Budget für Lebensmittel, so dass wir häufig nur Reissuppe aßen. Freunde hatte ich so gut wie keine. Und für die anderen war ich der Ausländer, der Chinese, der Japse. Nachts fuhren oftmals Autos vorbei, hupten laut. Und dann hörte man Brüllen, wie „Ausländer raus!“ oder „Deutschland den Deutschen!“. Auch Eier und Steine wurden gegen unser Haus geworfen. Und manchmal fanden wir auch Hundeexkremente an unserer Hausfront.
Meine Großmutter bewarfen die Kinder mit Steinen, so dass sie nicht mehr raus wollte. Bis zu ihrem Tod 2014 hat sie das Haus nicht mehr verlassen.
Angelika Nguyen: Was für ein Lebensweg deiner Großmutter: sie geht aus Vietnam weg, weil sie bei euch in besseren Verhältnissen leben will und findet dann hier eine solche Feindseligkeit vor, dass sie jahrzehntelang im selbst gewählten Haus-Arrest bleibt!

Dan Thy Nguyen: Weißt du noch, als ich bei dir die vielen Romane von Lion Feuchtwanger im Bücherregal stehen gesehen habe? Das ist mir aufgefallen, weil ich die auch gern lese. Ich denke, was uns an Lion Feuchtwanger interessiert, ist nicht bloß das Historische. Es ist seine Perspektive, seine Lebenserfahrung, die in seinen Büchern mitschwingt. Ich möchte vielleicht sogar einen Schritt weitergehen. Für mich ist der Dialog mit dem Historischen ein Dialog mit mir selbst. Und wo kann ich das besser als bei einem Autor wie Feuchtwanger?

Angelika Nguyen: Ja, Feuchtwanger erzählt aus der Perspektive einer Minderheit, der jüdischen Minderheit, die mich auch immer etwas angegangen ist, und ich wusste nicht, warum.

Dan Thy Nguyen: Es geht um das Gefühl, das man kennt, wenn man zu einer Minderheit gehört. Ich gehöre zu einer Minderheit in Deutschland. Genauso wie du.
Wir wissen, was es heißt, ausgeschlossen zu sein. Meine Familie war es schon in Vietnam, wenn auch auf andere Weise. Wir sind eine Boatpeople-Familie. Als Reaktion der so genannten Wiedervereinigung von Nord- und Südvietnam flüchteten viele Menschen in den späten 1970iger Jahren auf ganz einfachen hölzernen Fischerbooten.

Angelika Nguyen: Was waren die Gründe, unter solch höchst unsicheren Umständen zu fliehen?

Dan Thy Nguyen: Die Gründe, warum Boatpeople geflüchtet sind, sind äußerst divers. Angst vor Racheaktionen der Sieger war ein Grund, Angst vor Umerziehungslagern oder vor Enteignungen oder davor, im neuen System nicht überleben zu können. Oder aus Hoffnung, woanders eine bessere Zukunft zu haben. Sie ließen sich einfach aufs Meer hinaustreiben, in der Hoffnung, irgendwo aufgenommen zu werden.
Angelika Nguyen: Wie kamen sie dann nach Deutschland, das liegt doch sehr weit ab von diesem Meer?

Dan Thy Nguyen: Dass dann Boatpeople nach Westdeutschland gekommen sind, ist nur zu verstehen im Kontext des Kalten Krieges. Also die Diversität der Fluchtgründe wurden offiziell simplifiziert. Das Narrativ, wir alle seien vor dem Sozialismus geflohen, hat dazu geführt, dass wir folglich alle Freunde des Kapitalismus gewesen sind. Daher hatten die Boatpeople damals hier völlig andere Bedingungen als Menschen, die heute übers Meer fliehen. Die CDU hat damals massiv dafür gekämpft, um die Feinde des Sozialismus, also ihre Freunde, nach Deutschland zu bringen. Sie sah uns als Verbündete, die die gleiche Kultur wie sie verstanden, nämlich die Kultur des Kapitalismus.
Es wurden Kontingente geschaffen, um Menschen nach Westdeutschland zu bringen, so wie auch meine Eltern.
Die Geschichte der Boatpeople muss man auch aus verschiedenen Perspektiven verstehen. Es gibt die staatliche Perspektive, die ich eben beschrieben habe. Die Perspektive der Geflüchteten selbst, wenn man mit ihnen über ihre Flucht spricht, besteht aus Horrorgeschichten. Es gab Massenvergewaltigungen auf den Booten, es gab Hunger, es gab Kannibalismus, es gab Piratenüberfälle und Schüsse von Militärs anderer Länder. Manche Boote sind einfach gesunken. Diese Perspektive des Leidens auf dem Meer muss man kennen, um diesen Slogan der „Ewigen Dankbarkeit“ der Boatpeople gegenüber dem westdeutschen Staat zu verstehen.
Da gab es einen großen Unterschied gegenüber den Vertragsarbeiter*innen in der DDR. Wie hast du das alles eigentlich in der DDR erlebt? Was weißt du von den Vertragsarbeiter*innen? Hattest du Kontakt zu ihnen?

Angelika Nguyen: Mein Hintergrund sind ja gar nicht die VertragsarbeiterInnen. Ich bin die Tochter eines vietnamesischen Einwanderers, der von 1959 bis 1967 in der DDR lebte und auch ganz normal in seinem Beruf als Radiologe arbeiten konnte, bevor der Amerikanische Krieg ihn aus unserer Familie riss. Das war lange bevor die Staatsverträge zwischen den sozialistischen Bruderstaaten ausgehandelt und die Arbeiter*innen in die DDR entsendet wurden. Ich habe auch niemanden von ihnen zu DDR-Zeiten gekannt. Erst 1991 für die Recherchen zu meinem Dokumentarfilm „Bruderland ist abgebrannt“ habe ich Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam kennengelernt. Da kam zur Sprache, wie rigide die Verträge waren, die 1980 ausgehandelt wurden; was alles verboten war, wie reglementiert alles war.
Diese Verträge waren einfach menschenfeindlich. Es wurden Berufsausbildungen versprochen, die nicht stattfanden, dafür gab es vor allem den Einsatz als Hilfsarbeitskräfte. Familien durften nicht gegründet, die Frauen durften nicht schwanger werden. Wenn sie doch schwanger wurden, wurden sie zum Abbruch gezwungen, sonst drohte sofortige Rückführung nach Vietnam, was für jede eine soziale und wirtschaftliche Niederlage gewesen wäre. Ich kenne Berichte von Betroffenen, wonach jede Frau während ihres Aufenthaltes drei bis fünf Schwangerschaftsabbrüche hatte. Alle mussten anfangs 15 Prozent, später 12 Prozent vom Nettogehalt an den vietnamesischen Staat abgeben, für den sozialistischen „Aufbau“. Im Gegensatz zu den Boatpeople, die eine gesicherte Sozialperspektive, Wohnungen und feste Jobs bekamen, hatten die Vertragsarbeiter*innen fünf Jahre lang einen Bettenplatz im Wohnheim, dann ging es wieder zurück nach Vietnam. Sie durften kein Geld sparen und keins mitnehmen, sie mussten es in der DDR ausgeben. Also kauften sie: Mopeds, Fahrräder, Nähmaschinen. Die Verträge sahen aber nicht die Sicherstellung der Versorgung für solche seltsamen Klauseln vor. Also gab es Engpässe in der DDR und eine Wut in der DDR-Bevölkerung, die sich dann ganz dumpf gegen die Vietnames*innen richtete. Es gab auch kaum Möglichkeiten, sich kennen zu lernen. Die Häuser der Vertragsarbeiter*innen waren komplett abgeschnitten vom Rest der sozialen DDR-Lebenswelt. Das trägt nicht gerade dazu bei, Vorurteile abzubauen.
Ab Mitte der 80iger Jahre hörte ich immer öfter das Hass-Wort „Fidschis“ für Vietnames*innen, wohl abgeleitet von der falschen Betonung des Wortes Vietnam vieler DDR-Deutsche.
Von diesem Rassismus, gepaart mit mangelnder Demokratie in der DDR, die sich über Probleme nicht öffentlich auseinandersetzte, sondern sie systematisch unter den Tisch kehrte, verläuft für mich eine direkte Linie nach Rostock-Lichtenhagen.

Dan Thy Nguyen: Gerade in der Unterschiedlichkeit der Bedingungen für Vertragsarbeiter*innen-Community und Boatpeople-Community sehe ich die Ungleichheit, mit der die Zivilgesellschaft mit diesen Gruppen umgegangen ist.
Für die Boatpeople als Verbündete im Kalten Krieg gab es ein ausgeklügeltes Patensystem für jede geflüchtete Familie. Wir hatten allein vier Patenfamilien, die uns Deutsch beigebracht haben, auch persönliche Kontakte mit uns gepflegt haben. Also alles das, wovon es heute heißt, das sei zu schwierig, wurde innerhalb weniger Tage organisiert. Von Kirchen, aber auch von Zeitungen, von Staats-Parteien, z.B. hat die CDU zu einem Ehrenamts-System aufgerufen, das dann etabliert wurde. Ob da alles gut gelaufen ist, das ist eine völlig andere Geschichte, aber auf jeden Fall ist die schnelle Organisation sozialkommunikativer Struktur möglich. Dagegen wurde die Vertragsarbeiter*innen-Community sehr stark isoliert, auch untereinander. Das ist nicht nur ein Unterschied zwischen den beiden deutschen Staaten, sondern der gesamtdeutsche Staat hat nach der Wiedervereinigung diese Unterschiede auch weitergeführt.
Die Boatpeople hatten zu dem Zeitpunkt schon größtenteils deutsche Pässe gehabt, während wir bei der Vertragsarbeiter-Community eine völlig andere Situation haben. Es gab Rückführungsverträge, mit denen man die Vertragsarbeiter*innen versuchte los zu werden und entgegen ihren ursprünglichen Verträgen zurückzuschicken in die Sozialistische Republik. Diese wollte sie aber oft gar nicht zurückhaben, so dass viele wieder nach Deutschland kamen – in eine halblegale bis illegale Position – das sind alles Dinge, die eine Boatpeople-Familie nicht erfahren hat. Da sehen wir unter den vietnamesischen Immigrant*innen verschiedenste soziale und kulturelle Erfahrungen.

Angelika Nguyen: Das Erste, was ich von dir hörte, war, dass du ein Theaterstück über das Pogrom in Rostock gemacht hast. Das fand ich toll, mir schien eine künstlerische Darstellung eine gute Variante, da etwas erfahrbar zu machen. Deshalb wollte ich dich kennenlernen. Und dann haben wir stattdessen über unsere Kindheiten gesprochen.
Ich hatte sofort das Gefühl, dass ich dich schon mein Leben lang kenne. Die Art unserer rassistischen Erlebnisse in der Schule und auf den Straßen, die Ausgrenzung, die Feindlichkeit, die psychische und physische Gewalt, das war sehr ähnlich. Das Grundgefühl, anders zu sein als die anderen; die Überwahrnehmung unserer asiatischen Herkunft im deutsch-weißen Raum.
Und das ist interessant, weil es in zwei verschiedenen Gesellschaften stattgefunden hat.
Dan Thy Nguyen: Aber beides war Deutschland. Immerhin gab es in Deutschland ja die Nazizeit mit all ihren Auswirkungen und Folgen.

Angelika Nguyen: Ja, vielleicht ist das auch ein sehr deutsches Erbe. In beiden Ländern stand dieser Alltagsrassismus im Widerspruch zum offiziellen Slogan „Solidarität mit Vietnam“, der sogar identisch klang, nur eben für das jeweils andere Vietnam. Insofern war das geteilte Vietnam auch eine Spiegelung des geteilten Deutschlands. Den Kalten Krieg gab es ja auf der ganzen Welt.
Da mussten wir uns also nicht zwingen, den anderen zu verstehen, sondern da war eine Nähe auf Anhieb da.

Dan Thy Nguyen: Ja, ich habe mich durch dich besser verstanden.

Angelika Nguyen: Aber später dachte ich, dass wir uns beim Blick auf Viet-nams Geschichte bestimmt nicht so einig sind, spätestens als du mir sagtest, dass, wenn deine Schwestern dich mit mir hier im Café sitzen sehen würden, sie das verurteilen würden.
Da merkte ich plötzlich ganz konkret, dass unsere Meinungen auch durch Erbschaften geprägt werden und dass wir nicht ohne Bindungen zur Welt kommen. Ich lernte, dass Ho Chi Minh nicht der Held aller Vietnames*innen war, wie ich es von der Familie meines Vaters gelernt hatte.
Und dass uns beide etwas trennt, obwohl wir beide denselben Familiennamen tragen.
Ich habe von meinem Vater das Antikoloniale geerbt, einen ganz bestimmten Geschichtsblick. Er hat gegen Frankreich gekämpft, das er wie viele seiner Landsleute als Eindringling und Unterdrücker ansah. Paradoxerweise war er kulturell stark französisch geprägt, lebte praktisch zweisprachig. Das hinderte ihn nicht daran, in die Dschungel-Résistance zu gehen und in Dien Bien Phu den Franzosen die Niederlage mit zu bereiten. 13 Jahre später zog er, aus unserem DDR-Leben gerissen, wieder in den Krieg, diesmal gegen die US-Amerikaner. Meine Mutter und ich warteten auf ihn in jahrelanger Ungewissheit, während andere DDR-Familien oft nur die Ungewissheit hatten, wann der Trabi geliefert wird oder ob das Geld schon für eine erste eigene Waschmaschine reicht.
Der Krieg in Vietnam: das ist für mich der Schock über das Massaker der US-Soldaten im südvietnamesischen Dorf My Lai und das vom US-Fabrikat Napalm verbrannte Mädchen, das aus dem Dorf läuft. Das sind die Wahrheiten, mit denen ich groß geworden bin.

Dan Thy Nguyen: Meine Eltern sind Ende der Fünfziger geboren worden. Im Süden Vietnams. Für sie war es sehr bitter, dass die Franzosen den Krieg verloren haben. Das Ende der französischen Kolonialmacht war in ihren Augen das Ende der Kultur im Absoluten. Und die Amerikaner waren vielleicht nicht die besten Freunde, jedoch besser als die Kommunisten und insbesondere der Viet Cong, welcher in ihren Augen einer der größten Massenmörder der Geschichte gewesen war. Meine Mutter hat mir einmal erzählt, dass sie in Südvietnam leidenschaftlich Artikel gegen die Kommunisten schrieb.
Der Krieg – was soll ich sagen. Der Krieg, das ist die Stimme meiner Mutter, wie sie beim Kochen singt. Und dann ich, der meine Mutter fragt, warum sie weint und sie mir nicht antworten kann.
In den schwachen Momenten meines Vaters erzählte er mir von den Verbrechen der Kommunisten. Wie sie Menschen erhängten und Zungen von Gefangenen abschnitten. Von Folter und Vergewaltigung. Ich weiß heutzutage, dass dies die Stimme der Opfer und Verlierer des Krieges ist, und nur einen Teil der Wahrheit abdeckt. Aber immerhin. Es ist die Stimme meiner Eltern und damit auch die meiner Familie. Es ist die Stimme, die ich noch leise in mir trage und vielleicht an meine Kinder weitergebe. Wer weiß? Dies ist mein Erbe. Ob ich es will oder nicht.

Angelika Nguyen: Und da unterscheiden wir uns, da fühle ich plötzlich Welten zwischen uns.
Aber ich habe wohl inzwischen verstanden, dass es diese andere Perspektive gibt. Und ich weiß aus dem „Roman ohne Namen“ von Duong Thu Huong, wo sie die Irrfahrt eines jungen Soldaten der Viet Minh durchs zerstörte Land beschreibt, dass auch die Sieger am Ende zu den Verlierern gehörten. Aber von meinen Eltern habe ich zuerst erfahren, was Gut und was Böse ist. Und das bleibt dann doch besonders haften.

Dan Thy Nguyen: Und ich habe mich trotz meines „Erbes“ Jahre später auf den Weg gemacht, um zu recherchieren, was damals in diesem brennenden Haus in Rostock-Lichtenhagen passiert ist.
Angelika Nguyen: Das ist wirklich ungewöhnlich. Wie kamst du als „West-vietnamese“, als Kind von Boatpeople, überhaupt auf die Idee, dich mit einem lange zurückliegenden Pogrom gegen die Vertragsarbeiter*innen im Osten zu beschäftigen?

Dan Thy Nguyen: Das ist eine gute Frage. Vertragsarbeiter*innen galten ja in meiner Familie als Todfeinde. Als so genannte Kollaborateure des Sozialismus und damit auch als Mörder. Es war ein komplettes No Go, sich überhaupt mit Menschen aus der Ost-Community zu treffen oder in deren Nähe zu kommen, insbesondere wenn sie den Norddialekt gesprochen haben. Das hieß praktisch, sich niemals auf das Territorium der ehemaligen DDR zu begeben. Oder sich in irgendeiner Form dem anzunähern.
Wir sind ab 2012 durchs Land gefahren und haben Leute interviewt, die im Sonnenblumenhaus während des Pogroms waren. 2014 wurde das Stück uraufgeführt im Museum für Völkerkunde in Hamburg, und es hat niemanden interessiert, so dass wir daraus Anfang 2015 ein Hörspiel gemacht haben. Wir sagten uns, so gehen die Erzählungen wenigstens nicht verloren.
Es gab ein gewisses perverses Glück zu der Zeit, als gerade die Zahl der Geflüchteten in die Höhe schossen, und gleichzeitig auch Freital und Heidenau gewesen ist, so dass wir seitdem öfter spielen, und dann wurde plötzlich unser Hörspiel ausgezeichnet.
Ohne diese Ereignisse wäre unser Stück vielleicht schon vergessen.
Es gibt verschiedene Gründe dafür, dass ich das gemacht habe. Erst einmal wollte ich die TV-Bilder aus meiner Kindheit gern zuordnen und herausfinden, was damals passiert ist. Hinzu kommt, dass die vietnamesische Perspektive so gut wie gar nicht im Zentrum der Aufarbeitung stand, wenn es überhaupt so etwas gegeben hat. Dann ging es auch darum, die Narrative zu verstehen, mit denen ich aufgewachsen bin: Warum sind diese Menschen alle meine Todfeinde? Und dann bin ich da hingekommen, und dann wurde mir von den Todfeinden Tee angeboten.
Und eine brennende Frage für mich war: Warum ist niemand in dem Haus gestorben? Dann ist mir aufgefallen, dass viele der Vertragsarbeiter*innen ja ähnliche Kindheitserfahrungen hatten wie meine Eltern, auch wenn sie aus verschiedenen Lagern gekommen sind. Man muss dazu wissen, eine Aussage in dem Stück ist von einem Mann, der Soldat im Vietnamkrieg war. Er sagte: „Es war nicht die Frage, ob wir kämpfen. Wir wussten zu kämpfen. Es war nicht die Frage, wie überlebe ich, sondern die Frage war: Wenn jemand die Treppe heraufkommt, einer von den 15-16jährigen Jugendlichen – bringe ich den um oder nicht? Das ist ein völlig anderes Narrativ! Die klassische Opferperspektive ist da vollkommen aufgelöst. Das waren größtenteils nicht etwa Menschen, die da gewartet haben, dass sie verbrennen oder nicht, sondern das waren Menschen, die im Krieg sozialisiert worden sind, und die mit Extremsituationen viel besser umgehen konnten als zum Beispiel ich oder alle anderen, die keine Kriegserlebnisse hatten.
Und außerdem wollte ich meine Eltern ärgern.

Angelika Nguyen: Für mich war das Rostock-Pogrom damals ein Schock. Als ginge mein Albtraum in Erfüllung. Ich erlebte das als Kontinuität meiner Kindheitserlebnisse und auch der fremdenfeindlichen Gewalt in Ost und West seit dem Mauerfall. Aber ich gehe nicht da mit, dass Rassismus ein speziell ostdeutsches Problem ist. An Mölln und Solingen im Westen, wo rassistische Brandanschläge mit Todesopfern verübt wurden, erinnert heute niemand mehr, schon gar nicht mit diesem Aufwand staatlich besuchter Gedenkveranstaltungen.

Dan Thy Nguyen: Gedenkkultur. Ich habe darüber sehr viel nachgedacht und habe das Gefühl: Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen, das sind so kurze singuläre Momente, und es wird keine Verbindung geschaffen. Durch die Emporhebung von Rostock, als wenn es nichts anderes gegeben hat, geschieht gleichzeitig eine Blindmachung von Kontinuitäten. Unsichtbarkeit durch Sichtbarmachung. Rostock-Lichtenhagen steht als Höhepunkt scheinbar einsam, aber in Wirklichkeit nur in einer Reihe von Ereignissen, die vergessen sind, weil nicht gleich ein TV-Team dabei war.
Damit werden Vietnames*innen instrumentalisiert für ein weiteres Ressentiment gegen den Osten. Exotismus steckt im Rostock-Gedenken mit drin. Rostock-Lichtenhagen steht im Mittelpunkt des Narrativs der Sieger aus dem Kalten Krieg: „Seht, Rassismus gibt es nur im Osten.“
Es war die Tragik von Rostock-Lichtenhagen, dass das größte Pogrom der Nachkriegsgeschichte im Osten stattgefunden hat und damit dem offiziellen Argument in die Hände spielt, dass die im Osten primitiv und zurückgeblieben sind. Das Pogrom war „eine Ausschreitung des Sozialismus oder auch durch postsozialistische Arbeitslosigkeit“. Damit ist die Sache erledigt.
Insofern ist da überhaupt noch nichts aufgearbeitet.

Angelika Nguyen: Nichts spricht dagegen, ein neue, eine andere Erzählung über Rostock-Lichtenhagen zu schreiben … Die erste Generation hat immer alle Hände voll zu tun, anzukommen im fremden Land, ist meistens ganz pragmatisch und gestresst im alltäglichen Leben und Überleben. Die zweite Generation hat da oft mehr Zeit, auch zur Reflexion und Erkundung, woher sie kommen und worin ihre multinationalen Hintergründe bestehen. Vielleicht ist es die Pflicht und die Verantwortung der zweiten Generation, die ihnen die Eltern unbewusst mitgegeben haben, das Schicksal und die Sicht der Eltern zu erzählen, auch Zeitgeschichte, ohne die es die zweite Generation schließlich so gar nicht gäbe.

Dan Thy Nguyen: Man sagt den vietnamesischen Einwander*innen gern eine gewisse Unsichtbarkeit nach, wofür sie sogar gelobt werden, denn das gilt als Gradmesser für Integration. Bloß nicht auffallen. Aber so bleibt Wichtiges verborgen. Ihre Erzählung ist wichtig.
Es muss ein neues, ein vietnamesisches Narrativ her, über Rostock-Lichtenhagen, aber auch über die Migration in Deutschland überhaupt. Es muss die Binnen-Perspektive der Eingewanderten selbst, die ja in Wirklichkeit viele Perspektiven beinhaltet, erzählt werden. So werden sie erkennbar auch für die Menschen, denen sie bislang fremd sind.
Dafür braucht es Ideen und Gelegenheit und Förderung …
Erst dann werden sie sichtbar.

Angelika Nguyen ist Filmjournalistin und Autorin, sie lebt in Berlin.
Dan Thy Nguyen ist Theaterautor, Regisseur und Schauspieler, er lebt in Hamburg.