Subjekte in der Krise, aber keine Revolution am Horizont – Ein Blick auf aktuelle Debatten der deutschen Linken

Die bürgerliche Demokratie befindet sich in einer schweren Krise, doch statt auf Reflexion und Revolution setzt die Linke auf Moral und Sozialarbeit.

Von Marek Winter

Vielleicht werden sich in einigen Jahrzehnten HistorikerInnen damit auseinandersetzen, welche Debatten die deutsche Linke in der ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Krise, die das 2. Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts bestimmte, führte. Sie werden dann feststellen, dass Menschen, die in den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen zu den „Verlierern“ gehörten, ein Hauptthema dieser Diskussionen waren. Dabei ging es jedoch nicht, wie noch einige Jahrzehnte zuvor, darum, ob und wie diese Menschen ein kollektives „revolutionäres Subjekt“ darstellten, dass mit der historischen Aufgabe der Veränderung der Welt zum Besseren betraut sei. Nein, die zentrale Frage, die auf methodisch unterschiedliche Art und Weise beantwortet wurde, war, wie solle „die Linke“ mit diesen Menschen umgehen bzw. wie solle in der Linken mit diesen Menschen umgegangen werden.

Autonome, die keiner fürchtet – die postmoderne Linke

Am lautesten und heftigsten wird darum von und mit Linken gestritten, die sich an postmodernen theoretischen Ansätzen orientieren. Diese verbreiteten sich seit den 1990er Jahren in der deutschen Linken. Nach dem Niedergang der Autonomen, der gleichzeitigen Zerschlagung und Integration der HausbesetzerInnenbewegung(en) und dem Zerfall der Autonomen Antifa wurden postmoderne Konzepte vor allem in antirassistischen, feministischen und schwul-lesbischen Kreisen hegemonial. Letztere entwickelten sich unter dem Einfluss postmoderner theoretischer Diskussionen zur Queer- bzw LGBTI-Szene.
Die theoretischen StichwortgeberInnen dieser Linken sind in ganz überwiegendem Maße englischsprachige US-AmerikanerInnen und BritInnen, zum Teil auch aktivistische AkademikerInnen aus dem Trikont.
Die grundlegenden Texte stammen dementsprechend vorwiegend aus dem US-amerikanischen und britischen Kontext. Auffällig ist, dass in der Bewegungspraxis1 die Schlussfolgerungen dieser Texte häufig eins zu eins auf die deutsche Situation übertragen werden. Eine an deren Methodik orientierte Analyse der europäischen/deutschen Verhältnisse findet bemerkenswerterweise kaum statt bzw. erlangt keinen vergleichbaren Einfluss.2
Zentrale Topoi in den Diskussionen der postmodernen Linken in ihrer aktuellen Ausprägung sind Sprechort, Postkolonialismus und Diskriminierung/Privilegierung. Ursprünglich wandten sich Linke der Auseinandersetzung mit dem Sprechort, der gesellschaftlichen Position, von der aus man Meinungen, Kritiken, Ideen formuliert, zu, weil unter dem Druck v.a. der Frauenbewegung und migrantischer Linker die selbstkritische Reflexion der informellen Machtverhältnisse in den Strukturen der Neuen Linken erkennen ließ, dass der eigene Standort nicht nur den Blick auf gesellschaftliche Prozesse prägt, sondern auch beeinflusst, wie wirkungsmächtig von diesem Standpunkt aus formulierte Analysen und Kritiken sind. Daraus wurde die Aufforderung abgeleitet, nicht nur deren materiellen Inhalt zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch eben den Sprechort zu berücksichtigen. In den letzten zehn Jahren wurde die Beschäftigung mit dem Sprechort nun dahingehend radikalisiert, dass er heute für viele Linke nicht mehr nur ein in der politischen Debatte (mit-)zu reflektierender Gegenstand ist, sondern über die Berechtigung zur Teilnahme an der Debatte entscheidet. Denn die sich aus der unmittelbaren Unterdrückungs-/Diskriminierungserfahrung speisende, unvermittelte Weltsicht der Betroffenen soll einerseits als Analyse bestehender gesellschaftlicher Zustände ausreichen und darf andererseits von Nichtbetroffenen nicht in Frage gestellt werden. Denn dieses Infragestellen, so wird behauptet, würde in jedem Fall die bestehenden Machtverhältnisse reproduzieren. Das Erkennen der sozialen Determiniertheit von Weltanschauungen wird so dahingehend verabsolutiert, dass der rechtliche und soziale Status von DiskussionsteilnehmerInnen die Richtigkeit und Legitimität der von ihnen vorgebrachten Argumente bestimmt. Logisch folgerichtig wird die politische Diskussion zwischen Betroffenen (z.B. von Rassismus) und Nichtbetroffenen für nicht möglich erachtet, selbst wenn diese sich in politischen Bewegungen begegnen, besteht doch jede ernsthafte Diskussion zu großen Teilen aus dem Infragestellen vorgebrachter Argumentationen. Folgerichtig wird immer wieder z.B. für das Verhältnis von schwarzen und weißen AktivistInnen in antirassistischen Kämpfen dekretiert, dass die Weißen als Allies (Verbündete) nur unhinterfragt unterstützende Tätigkeit ausüben dürften, aber nicht eigene Beiträge beisteuern dürften. Diese Gestaltung des Verhältnisses von Menschen, die sich von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus und aus unterschiedlicher Motivation einer politischen Bewegung anschließen oder an einer politischen Auseinandersetzung teilnehmen, stellt einen Abschied vom Prinzip der Solidarität dar. Zur Erinnerung, was ist das: Solidarität? Solidarität heißt eben gerade nicht, dass gesellschaftliche Gruppen ihre jeweiligen Partikularinteressen aufgeben, sondern dass sie die Berührungspunkte, die sie in ihren Kämpfen für eben jene Partikularinteressen erkennen (ein gemeinsamer Gegner, eine gemeinsame Ursache für verschiedene soziale Phänomene mit denen man sich auseinandersetzt, das gemeinsame Betroffensein von sozialen, politischen, ökonomischen … Zuständen oder Verhältnissen) zur Basis einer nicht nur taktischen Kooperation machen, die auch das Verhältnis der Kooperierenden zueinander und damit letztlich auch ihre jeweiligen Interessen und wie diese formuliert werden beeinflusst und verändert.3 Dass die Trennung vom Konzept tatsächlicher Solidarität so leicht fällt, hat auch mit einer auffälligen Ahistorizität postmoderner Linker zu tun. Zwar werden historische TheoretikerInnen und Symbolfiguren politischer Kämpfe zur Illustration eigener Standpunkte auf- und abgerufen, tatsächliches soziologisches und historisches Wissen um und über historische Kämpfe scheint jedoch wenig verbreitet zu sein.
Besonders zentral ist die Auseinandersetzung um den Sprechort in Debatten um Rassismus und Antirassismus. Dabei sind die Rassismusanalysen der postmodernen Linken aus dem Bereich der Postcolonial Studies entlehnt. In diesen wird der Kolonialismus zum zentralen Paradigma der Weltdeutung. Die koloniale Ursprungsgeschichte des Kapitalismus wird hier dahingehend verabsolutiert, dass sich in Herrschaft, Unterdrückung und Ausbeutung vor allen Dingen das Fortleben kolonialer Verhältnisse manifestiere. Das gesellschaftliche Verhältnis, das das Leben der Menschen auf diesem Planeten zum Unguten bestimmt, wird so nicht aus Warenform und Kapitalverwertung erklärt, sondern aus der Ausbeutung der POC4 durch die Weißen. Wenn die Weißen aufhören würden, die POC zu kolonialisieren und auszubeuten würde die Welt demnach besser werden. Dass die Weißen das nicht tun, liegt in dieser Sichtweise daran, dass sie ihre Privilegien nicht aufgeben wollen. Rassismus ist demnach die Rechtfertigungsideologie der Weißen, ihre Stellung als Profiteure kolonialer Ausbeutung nicht aufzugeben. Die so recht schematisch aus dem Kolonialismus abgeleitete Rassismusanalyse greift aber deutlich zu kurz, z.B. wenn es um die Situation in Deutschland geht. Weder das rassistische Element des eliminatorischen deutschen Antisemitismus, noch der deutschnationale Hass auf die Franzosen, die Abwertung von SlawInnen zu Untermenschen oder in jüngerer Zeit der rassistische Umgang mit weißen ArbeitsmigrantInnen (aka GastarbeiterInnen) in der BRD finden hier die notwendige Beachtung.5
Doch nicht nur das Verhältnis von Weißen und POC ist dieser Ansicht nach von Privilegierung gekennzeichnet. Als privilegiert gilt mittlerweile, wer die vollen (staats-)bürgerlichen Rechte genießt, ökonomisch abgesichert ist und kulturelle Anerkennung erfährt. Das Versprechen der bürgerlichen Revolution, das Recht auf Life, Liberty and the pursuit of Happiness gilt nicht mehr als unabgegoltene Utopie, deren Verwirklichung für alle auf der Tagesordnung stünde, sondern als Programm des illegitimen Raubes, der Unterdrückung und Ausbeutung. Der tatsächlich bestehende dialektische Widerspruch zwischen diesem Glücksversprechen und den materiellen Bedingungen der Möglichkeit seiner historischen Formulierbarkeit wird hier nicht aufgehoben sondern einseitig aufgelöst. Die Verwendung des Begriffes Privileg, der ursprünglich ein aus personaler Herrschaft abgeleitetes Rechtsinstitut in einer ständischen, feudalen, Gesellschaft bezeichnet, erfolgt nicht von ungefähr. Tatsächlich prägt der Blick auf personale Macht-, Herrschafts- und Hierarchiebeziehungen die Gesellschaftsanalyse postmoderner Linker stärker als die Beschäftigung mit der kapitalistischen Totalität. Das Gegenstück zur Privilegierung ist die Diskriminierung.6 Dabei hat der Diskriminierungsbegriff eine umfassende Ausweitung erfahren. Mittlerweile gilt es auch als Diskriminierung wenn nicht alle ethnischen, sexuellen, (sub-)kulturellen… Gruppen, Szenen,…7 im öffentlichen Diskurs (was immer das auch sein mag) umfassend repräsentiert werden. Zudem wird tendenziell jede Form von Ungleichbehandlung als Unterdrückungsverhältnis, jede Unterdrückung als Diskriminierung verstanden. Die postmoderne Linke hat so kapitalistische Herrschaft aufgelöst in ein Bündel von Diskriminierungsformen. Das fällt besonders auf beim Klassenverhältnis. Statt die sich aus der unterschiedlichen Stellung zu den Produktionsmitteln ergebenden sozialen Lagen, Subjektivierungen und Interessenkonflikte zu analysieren, wird die unschöne Behandlung, die Angehörige der Unterklassen nun mal erfahren, als Klassismus dem Bündel der diskriminierenden –ismen beigefügt.8
An dieser Stelle lässt sich erkennen, dass die Stärke postmoderner Auffassungen in der hiesigen Linken eben nicht nur auf einem unvermittelten Theorieimport in den letzten 10 Jahren beruht, sondern eine längere Vorgeschichte hat, die bis in die 70er Jahre zurückreicht. Aus dem Zerfall der 68er Bewegungen waren in dieser Zeit linke Parteien hervorgegangen, die die Niederlage dieser Bewegungen damit erklärten, dass da faktisch das falsche Subjekt sich an der Revolution versucht habe. Also wandte man sich der Arbeiterklasse zu, die, wie man der Lektüre der Klassiker zu entnehmen meinte, historisch dazu bestimmt sei die Revolution zu machen.9 Diese Fokussierung auf den Klassenkampf ging einher mit einer Fetischisierung des organisierten und mithin disziplinierten Arbeiters, der Arbeit und der Arbeiterkultur. In der Rückschau drängt sich der Eindruck auf, dass dabei eher eine mangelnde Auseinandersetzung mit den Konstitutionsbedingungen der realen postfaschistischen Arbeiterklasse das Problem war, als die Zuwendung zu sozio-ökonomischen Fragen. Emanzipatorische Strömungen, die Kritik am realen Verhalten der Arbeiterklasse, vor allem an Rassismus, Sexismus und Homophobie formulierten, wurden darüber belehrt, dass die von ihnen kritisierten Ressentiments und Machtmechanismen, sowie die ihnen zugrundeliegenden gesellschaftlichen Verhältnisse Nebenwidersprüche seien. Dies implizierte, dass eine vertiefte Beschäftigung mit ihnen und Kämpfe auf diesen Gebieten nutzlos seien, da sich diese Widersprüche mit der Revolution von selbst lösen würden. Mehr noch, der Kampf auf diesen Gebieten sei faktisch eine Ablenkung vom Klassenkampf, der alles entscheide. An dieser Politik äußerten die Autonomen, die sich in klarer Abgrenzung zum Arbeitsfetisch der ML-Gruppen konstituierten, Kritik. Einflussreich wurde dabei Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre die Übernahme des US-amerikanischen triple oppression Ansatzes. Dabei handelte es sich jedoch tatsächlich – im Gegensatz zur heute vorherrschenden Rezeptionsweise – eher um eine Adaption, als um einen unveränderten Import. Zentral für diese Übernahme war das auf einen Diskussionszirkel um Klaus Viehmann zurückgehende Diskussionspapier „DREI ZU EINS – Klassenwiderspruch, Rassismus und Sexismus“10, in dem es u.a. heißt: „Die BRD-Linke ist privilegiert: Je männlicher und je weißer und je weniger auf den Verkauf von Arbeitskraft angewiesen, desto mehr. Privilegien machen blind. Blind für Wirklichkeiten außerhalb der eigenen Erfahrungen und gängigen Bewußtheiten.
So müssen Typen vieles erst von feministischen Genossinnen lernen, und alle ähnlich viel aus Texten von Schwarzen. Antisexistisch und antirassistisch ist ein Linker ja eh – aber eben nur »eh« und selten mit bewußtseinsmäßigen und praktischen Konsequenzen. (»Eh« heißt meist auch, daß ein Linker sich nicht mehr speziell damit auseinandersetzt, weil er meint, in diesen Hinsichten ja gar nicht Täter sein zu können. Im »Privaten« schon gar nicht.) Verhältnisse, in denen du privilegierter Teil bist, sind nicht ohne eigenen Machtverlust revolutionierbar – das ist der Ausgangspunkt. Die autonome Linke und ihre Theorie ist in solch einem Zustand der Beliebigkeit und des Utopienmangels, ihre Praxis oft so voll von stillen oder handfesten Sexismen, von Rassismen und von »weißen Flecken«, daß die Diskussion der »triple oppression« nur gut sein kann.“11
Hier finden sich schon konzentriert die relevanten Annahmen, die heutige postmodern-linke Debatten prägen. Vor allem aber wird hier auch schon der Voluntarismus deutlich, der die gesamte postmoderne postautonome Linke prägt. Wenn Ressentiments und Herrschaft/Unterdrückung/Ausbeutung jeweils Ausdruck eines quasi-personalen hierarchischen Verhältnisses sind, in dem sich Privilegierte und Diskriminierte direkt gegenüberstehen, dann liegt es nahe, dass durch ein verändertes Verhalten der Privilegierten sich Herrschaftsmechanismen auflösen ließen. Letztlich haben die Autonomen dem Ökonomismus der ML-Gruppen vor allem einen linken Moralismus entgegengesetzt. Dies ist nicht verwunderlich, geht Voluntarismus doch schon aus der Logik der Sache regelmäßig mit Moralismus einher. Wenn ich davon überzeugt bin, dass individuelles Verhalten gesellschaftliche Verhältnisse bestimmt, dann drängt es sich auf, politisches Scheitern dahingehend zu interpretieren, dass die Subjekte sich nicht genug angestrengt haben, nicht genug an sich selbst gearbeitet haben, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Der voluntaristische Moralismus bzw. moralische Voluntarismus der Autonomen wurde jedoch in gewisser Hinsicht dadurch eingehegt, dass in der postfaschistischen, fordistischen, von der Blockkonfrontation geprägten BRD, in der einem noch echte alte NationalsozialistInnen als PolitikerInnen, JournalistInnen, …, NachbarInnen und HausmeisterInnen über den Weg laufen konnten, die lebensreformerische Praxis der Autonomen tatsächlich noch subversives Potential hatte, dessen Wirkungsmacht auch durchaus entfaltet wurde, so dass die Angehörigen dieser Bewegung sich oft genug bestätigt fühlen konnten, das Richtige zu tun. Im post-Schröder/Fischer-Deutschland, in dem Liberale im Bioladen einkaufen, alle gegen die NPD sind, hochrangige PolitikerInnen offen homosexuell leben, Führungskräfte mal ne Auszeit machen und bei Projekten mit Straßenkindern in El Salvador Sinn tanken, ist diese Möglichkeit weitestgehend verbaut. In dieser Situation verschlingt sich der Voluntarismus einer machtlosen Linken im von dieser Machtlosigkeit befeuerten moralischen Furor selbst, wie die Debatte um das Buch Beißreflexe12 anschaulich zeigt.

Gesprächstherapie statt Aufstandsvorbereitung – der Klasse mal zuhören

Dem postmodernen Ansatz, der als politische Praxis auf die empowernde Identitätspolitik von Kollektivsubjekten gedachten Minderheiten abstellt, steht scheinbar diametral ein anderer Ansatz gegenüber, der sich ebenfalls an der Rezeption eines im Ausland verfassten Textes festmacht. Im Zuge der Rezeption von Eribons „Retour a Reims“ widmete sich die gesamte deutsche Presse von FAZ bis taz und Neuem Deutschland der Frage, warum die Linke den Kontakt zur ArbeiterInnenklasse verloren habe (was als Fakt im Gefolge Eribons i.d.R. unkritisch vorausgesetzt wurde). Anlass der Diskussion in dieser Breite ist der Fakt, dass in einer ökonomisch-sozialen-politischen-kulturellen Krise historischen Ausmaßes die Linke als Akteur global an den Rand gedrängt ist (da wo linke Hoffnungen in den Protesten und Rebellionen ab 2008 aufloderten, ist das Scheitern heute drastischer als da, wo von Anfang an nur Resignation war). Im Zuge der Diskussion etablierte sich, in Abstufungen und von verschiedenen Positionen aus formuliert, als dominante Antwort die Behauptung, die Linke habe den Kontakt zur ArbeiterInnenklasse verloren, weil sie sich von den Alltagsinteressen der industriellen Malocher abgewandt und postmodernen Identitäts- und Antidiskriminierungspolitiken zugewandt habe. Die ProletInnen, denen nun niemand mehr zuhöre, hätten quasi naturwüchsig keine andere Option gehabt, als sich der Rechten (Front National, Pegida, UKIP, …) zuzuwenden. Aus dieser „Analyse“ zieht nun ein Teil der Linken, vor allem die parteipolitische, in ihrer institutionellen Existenz von Wahlergebnissen abhängige Linke die Schlussfolgerung, man müsse das Band zwischen Partei und Klasse wieder knüpfen, was gelingen könnte, wenn man den Sorgen der ProletInnen wieder sein Ohr leihe. Wie das in der Praxis aussieht beschreibt Anne Steckner sehr anschaulich in der Aprilausgabe der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebenen Zeitschrift LUXEMBURG.13
„Persönlich mit Menschen zu sprechen, denen man sonst nicht begegnet, anstatt nur über sie zu reden, kann hier wichtige Fragen und Erkenntnisse zutage fördern. DIE LINKE war im Herbst 2016 bundesweit in zwölf Städten unterwegs. An den Haustüren hat sie mit Menschen vor allem aus einkommensarmen Vierteln darüber gesprochen, was ihnen unter den Nägeln brennt und welche Probleme gemeinsam angegangen werden könnten. Mit geschulten Laien-Befrager*innen sind wir von Tür zu Tür gegangen und haben 379 Gespräche geführt. Die Dokumentation der Gespräche gewährt Einblicke in alltägliches Denken über Politik, Stadtteil und in Wohnverhältnisse am unteren Rand der Gesellschaft – ein Kaleidoskop der »deutschen Zustände«.

Gemeinsamkeiten ausloten oder eine Grenze ziehen? Das ist ein Lernprozess. Hierfür muss man raus aus der Komfortzone. Die persönliche Echo-Kammer, die Facebook-Bubble, den intellektuellen Stammtisch auch mal zu verlassen, ist eine nicht zu unterschätzende Gelegenheit, die eigene Sprache, politische Praxis und lieb gewonnene Gewissheiten zu überprüfen. Zu wissen, wie es ›da unten‹ aussieht und welche Bewältigungsstrategien es gibt, kann helfen, ein Gespür für die Facetten des versehrten Lebens zu entwickeln. Die Prekarität von Akademiker*innen mit reichlich sozialem Kapital (und manchmal elterlichem Wohlstand) sieht anders aus als die Armut der Abgehängten oder die Abstiegsängste der Reihenhaus-Mittelklasse.

Es geht nicht darum, zu Rassismus zu schweigen. Sondern ihn alltagsnah zu entziffern und andere Deutungsangebote zu machen. Den Sinn dieser zuweilen mühseligen Arbeit schildert der Soziologe Didier Eribon: Die französische Arbeiterklasse war auch früher schon rassistisch und homophob. Doch der Kommunistischen Partei gelang es, ihr ein politisches Angebot zu machen, das die Klassenidentität ins Zentrum rückte. Sie kanalisierte die Wut der Ausgebeuteten in einen gemeinsamen Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und gab rechten Parolen keinen Resonanzraum – wenngleich auch Arbeiterparteien nicht frei von Rassismus und Sexismus sind.

Wie lässt sich Menschen mit Ohnmachtsgefühlen vermitteln, dass nichts so bleiben muss wie es ist, dass man gemeinsam was erreichen kann, wenn zugleich aus allen Lautsprechern das Versprechen »Jeder kann es schaffen, deswegen ist auch jeder da, wo er hingehört« dröhnt? Es erfordert Geduld und Einfühlungsvermögen, im gespaltenen Alltag neue Beziehungen zu stiften und Perspektiven aufzuzeigen. Überhaupt mit anderen ins Gespräch zu kommen, kann ein erster Schritt sein. Zumal sich bei genauerem Hinsehen eigensinnige Formen finden, in denen sich arme Menschen in prekären Lebenslagen gegenseitig stützen, ja informell organisieren.
Das wirft weitere drängende Fragen auf: Wie kann die Linke den Verlust von solidarischen Räumen und Sicherheitszonen außerhalb der Kleinfamilie auffangen? Wie lässt sich das Bedürfnis nach Gemeinschaft, Aufgehobensein – ja Heimat – aufgreifen und emanzipatorisch füllen? Kann, muss die Linke mehr Sinn für Pathos und Emotionen entwickeln? Und wie steht es um klassen- und milieu-übergreifende Orte der Begegnung? Das viel beschworene Mitte-unten-Bündnis zu schmieden ist angesichts von Distinktion und Abschottung der Mittelklasse kein Zuckerschlecken. Die heterogenen Klassenlagen im Prekariat bringen individuell sehr unterschiedliche Unterdrückungserfahrungen hervor. Ohnehin existierende Spaltungen werden von den politischen Eliten noch befeuert.

Will die Linke mehr sein als ein szeniger Haufen, gilt es, auch Menschen zu gewinnen, die sich nicht von selbst einbringen – aber erreichbar sind. Dass gerade diejenigen, deren Interessen der Linken nicht egal sein dürften, sich häufig aus Politik und Gesellschaft zurückziehen, hat viel mit dem prekären Leben zu tun. Innerhalb der LINKEN wird seit einiger Zeit diskutiert, wie die Partei sich in einkommensarmen Vierteln verankern und deren Bewohner*innen in der (Selbst-)Organisierung rund um alltagsrelevante Auseinandersetzungen begleiten und stärken kann. Aufsuchende Gespräche sind ein zentraler Bestandteil davon. Das hat nichts mit Sozialromantik oder verklärtem Blick auf die vermeintlich verschwundene Arbeiterklasse zu tun. Sondern mit der Gewissheit, dass ein emanzipatorisches Projekt keins ist, wenn die Prolet*innen nicht mit von der Partie sind.“

Von der erneuten Kontaktaufnahme der Linken mit den Angehörigen der Klasse verspricht man sich zweierlei: einerseits die Verbreiterung der eigenen Basis, auf dass die Linke kein szeniger Haufen bleibe. Zum anderen die Möglichkeit, reaktionärem Gedankengut bei den Angehörigen der Klasse diskursiv entgegentreten zu können. Dabei, und da ist man der postmodernen Linken, von der man sich ja gerade abgrenzen will, auf einmal wieder ganz nah, sieht man die Leute, zu denen man Kontakt aufnehmen will, nicht als gesellschaftlichen Akteur, als gesellschaftsbildende und -prägende Kraft an, sondern als Opfer. Im „an der Tür klingeln“ und „mit den Leuten reden“ scheint eben kein Moment des gemeinsamen Kampfes auf, sondern hier wendet sich die Linke den unter die Räder der Kapitalverwertung Gekommenen sozialarbeiterisch zu.
Diese Politik muss, und das wäre mit einem Minimum an historischem Wissen voraussehbar, scheitern. Die historische Linke war als originäre politische Organisationsform der ArbeiterInnenklasse der Transmissionsriemen zur Herstellung bürgerlicher Subjektivität der Proletarier. Dabei sprach sie die Proleten aber nicht im Stand des Opferseins an, sondern in dem der gesellschaftlich und juristisch nichtanerkannten Subjektivität, die aber eigentlich aufgrund des ökonomische Kampfpotentials schon gegeben sei: „Alle Räder stehen still, wenn Dein starker Arm es will“. Als sich die ProletInnen als organisierte Klasse konstituierten, realisierte sich dieses Machtpotential. Es brach zwar nicht die Morgenröte des Sozialismus an, aber das Machtgefälle zwischen den EigentümerInnen der Produktionsmittel und den TrägerInnen der bloßen Arbeitskraft konnte immerhin soweit überbrückt werden, dass deren rechtliche Gleichstellung möglich wurde, sie Bürgerrechte erhielten und damit die Grundlage für Demokratie und Sozialstaat gelegt wurden. Die enorme Bildungsarbeit, die die historische Linke leistete, die z.B. einer der Grundpfeiler der alten Sozialdemokratie war und die heute unvorstellbare Erfolge zeitigte, war unmittelbar an diesen Prozess der bürgerlichen Subjektwerdung der ProletInnen gebunden. Ob den Arbeitern (es ging anfangs und später häufig noch schwerpunktmäßig vor allem um die Männer) der Suff abgewöhnt werden sollte und die häusliche Gewalt, ob ihnen Aberglaube und Ressentiments auszutreiben versucht wurden oder das Lesen relativ komplizierter Texte und das politische Diskutieren beigebracht wurden, es ging um Bildung und Disziplinierung, um den Anschluss an das bürgerliche Ideal herstellen zu können.14
Die Welt der Kapitalverwertung verändert sich jedoch. Nach Ansicht einiger TheoretikerInnen befinden wir uns in einer Phase der Entwicklung der Produktivmittel, in der lebendige Arbeit in einem historisch nie gekannten Maße überflüssig wird.15 Andere sehen „nur“ eine großmaßstäbliche Verlagerung zentraler Prozesse der Kapitalverwertung weg aus deren alten Zentren nach Asien und Afrika.16 Auf jeden Fall entsteht dadurch in den alten industriellen Zentren Europas und der USA eine tendenzielle Überflussbevölkerung. Dies führt in zunehmendem Maße zur Erosion der Grundlagen, auf denen die Integration der ArbeiterInnen in die bürgerliche Gesellschaft erfolgte. Dass die Umkehrung des Prozesses, die Desintegration zumindest eines Teils der ArbeiterInnen aus der bürgerlichen Gesellschaft keine bloß abstrakte Gefahr ist, zeigen die HartzIV-Reformen, die für einen Teil der ArbeiterInnenklasse grundlegende bürgerliche Rechte (Freizügigkeit, freie Berufswahl und damit Vertragsfreiheit) suspendierten.
Am Beispiel der HartzIV-Reformen lässt sich auch erkennen, dass die Geschichte des Bruches zwischen der Linken und der Klasse etwas komplizierter ist, als es im Gefolge von Eribon immer behauptet wird. Es waren Arbeiterkinder, die diese Reform in Deutschland durchsetzten, es war eine linke Regierung und sie hatte dabei die Unterstützung der großen Gewerkschaften. Man könnte also behaupten, es war die ArbeiterInnenklasse selbst, die diese Reformen einführte. Und so ganz falsch ist das ja nicht: Die Akteure der HartzIV-Reformen waren die originären Vertreter der vom postfaschistischen Klassenkompromiss profitierenden Schicht der Facharbeiter in der Exportindustrie, der Autokanzler Gerhard Schröder geradezu idealtypisch bis zur Karikatur. Die Agenda 2010-Reformen erschienen diesem Teil der ArbeiterInnenklasse als Möglichkeit, die eigene schwindende Machtbasis durch Zugeständnisse, vor allem aber das Opfern der Überflüssigen, zu stabilisieren.
Damit hat man aber sowohl im nationalen Rahmen als auch international einen Beitrag geleistet zur Beschleunigung des Zerfalles nicht nur klassischer linker (sozialdemokratischer, gewerkschaftlicher) Milieus, sondern des ganzen sozialstaatlich-demokratischen Systems, der die Grundlagen der staatsbürgerlichen Subjektivität der ProletInnen unterminiert. Die demokratische Linke kann nun nirgends glaubhaft vermitteln, diese Form der Subjektivität wieder herzustellen. Allzu offensichtlich sind die Sachzwänge, die jede Partei in Regierungsverantwortung dazu bringen, ihre WählerInnen zu „verraten“. Und ein Angebot einer neuen Form von Vergesellschaftung ist nicht in Sicht. Die völkischen Bewegungen können dagegen das Versprechen formulieren, Subjekt und Teil der Gesellschaft zu bleiben, auch wenn man es nicht mehr aufgrund des Eingebundenseins in den Prozess der Kapitalverwertung ist, weil für sie die Grundlage von Subjektivität nicht die ökonomische Funktion, sondern das Blut ist. Das glaubhaft zu formulieren, fällt auch deshalb leicht, weil Staatsbürgerschaft, die auch in republikanischen Staaten immer ein Element des Blutrechts hat, als Faktor/Funktion/Indiz von Subjektivität schon bekannt ist.17

Das Ende der Geschichte

In der aktuellen Situation dominieren in der Linken zwei Strömungen: eine postmoderne, intersektionale, sich multiplen Diskriminierungs- und Herrschaftsformen widmende, identitätspolitisch orientierte Linke, die vorwiegend im akademischen Umfeld verortet ist und eine auf die Rückkehr zur ArbeiterInnenklasse fokussierte Linke, die in linken Parteien und den Gewerkschaften sowie den diesen nahestehenden Resten der Neuen Sozialen Bewegungen verortet ist. Beide Ansätze stehen sich in schönster Gegensätzlichkeit gegenüber. Und beide Strömungen sind sich auf irritierende Art und Weise ähnlich. In ihnen dominiert der Voluntarismus und das Moralisieren. Gleichzeitig sind sie geprägt von tiefster Ahistorizität und der Unfähigkeit bzw. dem Unwillen zur radikalen sozioökonomischen Analyse. Die Bedeutung der HartzIV-Reformen z.B. haben beide Strömungen nur sehr ansatzweise verstanden. Beide Strömungen sind Ausdruck einer tiefen Krise der Linken, die zu großen Teilen ein Reflex der grundlegenden Krise ist, in der sich diese Gesellschaftsform befindet. Sich dem zu stellen, wäre die absolute Mindestbedingung, um die Möglichkeit zu retten, emanzipatorische Perspektiven auch nur theoretisch entwickeln zu können. Viel Zeit bleibt uns nicht.

1 Dieser Text setzt sich nicht mit der akademischen postmodernen Philosophie auseinander. Es geht stattdessen vorrangig darum, was daraus „on the ground“, in der Praxis politischer Gruppen und Bewegungen wird, die postmoderne Theorien rezipieren und deren Verlautbarungen davon geprägt sind. Die Beschreibungen in diesem Text verallgemeinern notwendigerweise, gemäß der Feststellung Tucholskys: „Kollektivurteile sind immer ungerecht, und sie sollen und dürfen ungerecht sein. Denn wir haben das Recht, bei einer Gesellschaftskritik den niedersten Typus einer Gruppe als deren Vertreter anzusehen, den, den die Gruppe grade noch duldet, den sie nicht ausstößt, den sie also im Gruppengeist bejahend umfaßt.“
2 Ein Beispiel dafür sind die Diskussionen zum Thema Blackfacing, in denen regelmäßig auf die Minstrel-Shows verwiesen wird, eine substantiierte Auseinandersetzung mit Theatertraditionen in Deutschland aber unterbleibt.
3 In der Kulturindustrie wird erstaunlicherweise hin und wieder dieses Wissen nochmal versucht weiterzugeben. Es empfiehlt sich die Filme „Parada“ (Jugoslawien 2011) und „Pride“ (Großbritannien 2014) anzuschauen.
4 People of Colour. Der Begriff selbst entstammt dem postmodernen Analyserahmen und fasst begrifflich die Vorstellung eines Kollektivsubjektes der Nichtweißen.
5 Siehe u.a. Terkessidis, Mark: Da war doch was?, taz vom 20.02.2017, www.taz.de/!5382405/.
6 Dass eine Gruppe weißer, sklavenhaltender Großgrundbesitzer im 18. Jahrhundert mit der Unabhängigkeitserklärung der USA ein politisches Programm verfassen konnte, auf dass sich jede Emanzipationsbewegung in den USA im 20. Jahrhundert positiv bezog, müsste eigentlich zentrale Vorstellungen der postmodernen Linken ad absurdum führen, ist dieser aber nicht einmal ein kurzes Aufmerken wert.
7 Die fast immer auch nicht nur als Menge von Individuen sondern auch als Kollektivsubjekt gedacht werden.
8 Baron, Christian: Proleten, Pöbel, Parasiten: Warum die Linken die Arbeiter verachten, Berlin 2016.
9 Gekonnt ironisiert von Seyfried, Gerhard: Wo soll das alles enden? 1 kleiner Leitfaden durch die Geschichte der undogmatischen Linken, Westberlin 1980.
10 Ingrid Strobl, Klaus Viehmann und GenossInnen, autonome l.u.p.u.s.-Gruppe: Drei zu Eins. Metropolen(gedanken) und Revolution?, Berlin 1993.
11 Zitiert nach der Online-Version: www.archiv-kiel.de/hausdruck/pdf/3zu1.pdf, S.12.
12 Patsy l’Amour laLove (Hrsg.): Beißreflexe – Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, Berlin 2017.
13 www.zeitschrift-luxemburg.de/kommunikationsstrategien-gegen-rechts.
14 Der klassische Bildungsfetisch der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, der bis Ende der 80er Jahre gesellschaftlich in beiden deutschen Staaten wirksam war, ist nur ein besonders krasses Beispiel hierfür.
15 Konicz, Tomasz: Kapitalkollaps: Die finale Krise der Weltwirtschaft; Hamburg 2016.
16 Trampert, Rainer: Die linke Endzeittheorie, in: konkret Juli 2014.
17 Hier liegt auch der Grund, warum Syriza umso patriotischer argumentierte, umso weniger erfolgreich sie sozialpolitisch waren.