Subjektive Militanzverständnisse in Zeiten des Umbruchs
Christin Jänicke und Benjamin Paul-Siewert
Anlässlich von 30 Jahren Antifabewegung in Ostdeutschland kamen Aktivist_innen aus Ostberlin und dem heutigen Brandenburg zu einer Diskussion zusammen und sprachen gemeinsam mit den Autor_innen über ihre Jugend und die politischen Entwicklungen am Ende der DDR. Ihr politisches Engagement von Mitte der Achtziger- bis Mitte der Neunzigerjahre in der Antifa-, Umwelt- und Hausbesetzerbewegung und ihr individuelles Verhältnis zu Gewalt und Militanz standen im Mittelpunkt des Gespräches. Der telegraph druckt das Interview ab, das die Grundlage für einen Beitrag im kürzlich erschienenen Buch „30 Jahre Antifa in Ostdeutschland“ bildete.
Knapp 30 Jahre ist es her, seit ihr als Jugendliche begonnen habt euch politisch zu engagieren. Ihr wart an Kampagnen und Gruppen beteiligt, die sich u.a. mit Militarismus, Ökologie, Anarchismus, Marxismus und entwicklungspolitischen Themen befassten. Zum Ende der Achtziger Jahre wurde die neonazistische Organisierung immer deutlicher spürbar. Das Thema unserer Diskussion ist euer Verhältnis zu Militanz. Eure Auseinandersetzung mit Militanz war weniger freiwillig – die hochpolitische `Wendezeit` und die Bedrohung durch Neonazis machte sie allerdings zur Notwendigkeit. Wie seid ihr – ganz persönlich – in dieser Zeit zur Militanz gekommen?
Josephine: Ganz kurz und knapp gesagt, ich bin gar nicht zur Militanz gekommen, sondern die Militanz ist zu mir gekommen. Also es war ja nicht irgendwas, was wir gewollt hätten. Es ging uns nicht darum, uns mit Nazis zu prügeln. Aber wir mussten. Wir sind angegriffen und attackiert worden. Es ging eher um eine Form von aufgezwungener Selbstverteidigung und eine aufgezwungene Auseinandersetzung mit dem Thema. Das steht für mich im Vordergrund.
Paul: Mir geht es ähnlich. Antifa heißt für mich nicht gleich Militanz. Es gab Leute, die, unabhängig von ihrem politischen Engagement, schon etwas Erfahrung mit körperlichen Auseinandersetzungen hatten, z.B. durch Fußball. Für mich und mein Umfeld spielte Militanz zu DDR-Zeiten aber eine untergeordnete Rolle. Relevant wurde sie erst mit der Wendezeit: Wir halfen einer Freundin beim Umzug von Lichtenberg zu uns ins besetzte Haus. Mit 15 Leuten fuhren wir nach Lichtenberg, um die Sachen zu holen, weil wir wussten, dass es dort von Nazis wimmelte. Wir wurden dann auch angegriffen, aber nur zwei von uns hatten den Mut, sich gegen die Nazis zu wehren und das nur, weil sie schon vorher mit Gewalt in Kontakt kamen.
Max: Schon zu DDR-Zeiten gab es in Lichtenberg organisierte Nazis: „Lichtenberger Front“ und „Bewegung 30. Januar“. Die haben Anfang der Neunzigerjahre in der Weitlingstraße ein Haus besetzt. Das Haus war allerdings baufällig, sodass – und das ist echt ein Skandal – die Kommunale Wohnungsverwaltung ihnen dann kurzerhand ein anderes Haus zur Verfügung gestellt hatte. Das war die Weitlingstraße 122, Anfang der Neunzigerjahre das rechtsnationale Zentrum für Nazis aus Deutschland und Österreich. Von da gingen viele Angriffe von Nazis auf die besetzten Häuser im Friedrichshain aus.
Max: Ich denke, potenziert hat es sich mit der Wende. Unsere besetzten Häuser im Prenzlauer Berg waren permanentes Angriffsziel, vor allem ausgehend von Nazis des BFC [Berliner Fußballclub, Anm. d. V.]. Du wusstest, alle 14 Tage samstags war Großalarm. Naja, und eigentlich auch die Tage dazwischen, wo immer was passiert ist. An den Wochenenden war es ein permanentes Verteidigen, Verteidigen, Verteidigen.
Als Jugendlicher bin ich selber regelmäßig zum Fußball gegangen und hatte durchaus schon Erfahrung mit körperlicher Gewalt. In den späten Achtzigerjahren war ich dann in der DDR-Oppositionsbewegung aktiv. Und da spielte Gewalt keine Rolle.
Alex: Ich sehe das anders. Ich bin in Lichtenberg groß geworden und als ich in den Achtzigerjahren politisch aktiv wurde, ging es permanent darum, die eigene Haut irgendwie zu retten. Als Punk musstest du flitzen, wenn du in einen Klub wolltest und nicht die richtigen Klamotten anhattest – schlicht eben nicht kurze Haare, Bomberjacke und Springerstiefel trugst.
Wenn ich in den Achtziger Jahren, also noch vor der Wende, aufs Land gefahren bin – egal ob Mecklenburg, Brandenburg, Potsdam, Frankfurt Oder – und in Klubs gegangen bin, dann war es egal wie ich aussah. Selbst wenn man `normgerecht` angezogen war, man galt sofort als Fremder und hat auf die Fresse bekommen. So zwei- dreimal. Wittenberge oder Strausberg. Oder in Lichtenberg, die Angolaner, Kubaner und Vietnamesen, die in den Wohnheimen am Tierpark lebten. Wenn sie versucht haben in Klubs zu kommen, haben sie immer auf die Fresse gekriegt. Und es gab regelmäßig Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die schon damals alles in Skat gedrückt und verharmlost hat. Also ich habe mir die Gewalt nicht ausgesucht. Man stand irgendwie daneben oder hat es am eigenen Leib erfahren.
Für mich gab es mit der Wende dann eine Veränderung: Aus der Selbstverteidigung der eigenen Person wurde eine Verteidigung der selbsterkämpften Räume. Unsere Häuser, Kneipen oder Läden wurden permanent eingeschmissen und ständig drohten Überfälle von Nazis. Dagegen wurde sich irgendwann gewehrt, so nach dem Motto: Wir wollen jetzt diesen Stadtbezirk nicht den Nazis überlassen!
Max: Du hast schon recht, als Linke, Punks, Gruftis oder so bist du zu Ostzeiten angeeckt und warst mit rechter Gewalt konfrontiert. Aber der Unterschied ist, dass wir selber nicht militant waren und Gewalt nicht von uns ausging. Dass wir Gegenwehr organisieren oder als Antifa über Militanz sprachen, das gab es so eigentlich nicht. Es gab zwar auch Vorfälle, aber die waren nicht geplant, sondern eher Zufall, wie 1989 am Berliner Alexanderplatz. Da gab es eine
schwere Hauerei zwischen Hunderten von Nazis, Punks und Gruftis. Es begann eher zufällig, dass sich Punks mit ein paar Nazis in die Wolle gekriegt haben und dann wurden es immer mehr. Bis irgendwann die VP [Volkspolizei, Anm. d. V.] mit Einsatztruppen kommen musste. Aber das war die absolute Ausnahme. In der Regel war es eher so, dass Leute, die aus Marzahn in die Innenstadt gekommen sind, spätestens um 10 Uhr abends nach Hause mussten, um nicht wieder irgendwelchen Glatzen über den Weg zu laufen, die einen zusammenhauen. Die Erfahrung haben wirklich viele gemacht.
In der Regel haben wir als Antifa nicht über militanten Widerstand nachgedacht. Das war nicht unser Mittel. Als wir anfingen, haben wir über politische Veränderungen nachgedacht. Wir wollten das Thema Nazis in der DDR auf den Tisch bringen, Öffentlichkeit herstellen, uns selber informieren und haben recherchiert. Wir haben versucht irgendwas zu machen, um überhaupt ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es Nazis in diesem Land gibt.
Paul: Ich kann Max da nur beipflichten. Wir haben uns organisiert und wollten auf dem politischen Weg Veränderungen in der DDR erreichen. Ich glaube, wir kannten damals sowas wie den Schwarzen Block gar nicht.
Helge: Auch ich kann da zustimmen. Aber ich würde gern ein Stück zurückgehen, zu meinen eigenen Erfahrungen. Ich komme aus Sachsen-Anhalt und war in meiner Jugend, also Anfang der Achtzigerjahre, Hippie. Da hatte ich noch lange Haare, sah furchtbar aus. Mir ging es da ähnlich wie Alex es beschrieben hat: Du konntest in bestimmte Diskos nur fahren, wenn du genau wusstest, entweder du bist mit genug Leuten unterwegs oder du kennst Leute vor Ort. Wenn du so in bestimmte Kneipen gegangen bist, dann warst du immer die `schwule Sau`, allein nur wegen der langen Haare.
Als wir dann in Potsdam ´87 unsere Antifagruppe gründeten, haben wir […] angefangen uns politisch Gedanken zu machen. Wo kommt das überhaupt her, was ist Faschismus, was sind Nazis, was bedeutet für uns dieses System und so weiter. Von denen, die wieder gegangen sind, gab es einige, die hatten durchaus Gewalterfahrungen, aber ganz unterschiedliche. Im Regelfall sah das so aus, dass die Punks immer von Bullen auf die Fresse bekommen hatten. In den wenigsten Fällen waren es Auseinandersetzung mit Nazis. Es gab aber tatsächlich in Potsdam den Fall, wo ein Großteil unserer Szene, nachdem einer von uns auf die Glocke bekommen hatte, losgerannt ist und haben welche von denen … […]
In der DDR wurde das Naziproblem nicht ernstgenommen. Die Nazis hätten immer alles aus dem Westen bekommen, einschließlich der Jacken und der Musik. Die kamen sozusagen vom Mars. Mit der DDR hatte das für die [Öffentlichkeit, Anm. d. V.] ja nix zu tun. Ich habe selber eins, zwei Angriffe miterlebt, wo ich auch ordentlich geflitzt bin. Ich habe mir auch Prozesse gegen die Nazis angeschaut, die gab es im Osten ein-, zweimal. Da hieß es dann über die Nazis, das seien „unsere besten Mitglieder des Sozialistischen Betriebskollektiv. Die sind ganz toll. Die sind ganz knorke“. Es war immer ein Vertreter des betrieblichen Interesses oder wie das damals hieß, der sagte: „Kann ich mir gar nicht vorstellen, kann ich mir gar nicht erklären. Die sind total sauber. Die arbeiten ganz viel“. Für den durchschnittlichen Ostspießer waren die Nazis sauber, fleißig und gingen arbeiten – und wir Linken nicht.
Im Dezember 1990 krachte bei uns im Haus das erste Mal die Tür und die Nazis stiefelten die Treppe hoch. Wir haben uns alle hinter unseren Türen verbarrikadiert und hatten tierischen Schiss. Aber wie das in Potsdam immer so war oder wie das wahrscheinlich in vielen Kleinstädten war, alle kannten sich. Also hat man sich stundenlang belabert, so in der Art „Machst du hier Stress, dann hol ich deinen Bruder“. […]
Helge: In den Kleinstädten war das oft noch vielmehr so, dass sich die Leute alle kannten. In Potsdam gab es die Neubauviertel und auch ein paar Klubs, die die Faschos in der Hand hatten. Aber auch nicht durchgängig. Es waren auch oft Punks unterwegs oder sonst irgendwas. Und dann gab es die großen Klubs, da haben sich die Nasen nicht hin getraut. Erst mit der Wende …
Max: Ich erinnere mich da auch noch an Geschichten in Dresden. Da hast du einen Punk gesehen mit Nazi-T-Shirt. Vor einer Woche war der noch Skinhead, vor zwei Wochen war er Punk, vor drei Wochen war wieder Skinhead. Heute Skins, morgen Punk, morgen links, übermorgen rechts. Jeder säuft mit jedem. Da kriegst du keine Trennung rein.
Euer Anliegen war es, ein Problembewusstsein für Neonazis in der DDR-Gesellschaft zu schaffen. Ihr findet euch also Ende der Achtzigerjahre in einer Situation des politischen Umbruches wieder, in der die Militanz mehr oder weniger zu euch gekommen ist. Wie sah eure Auseinandersetzung mit der politischen Situation aus?
Max: Die Situation war die, es gab überall besetzte Häuser, die nach der Wende relativ schnell entstanden sind. Die Schönhauser 20 in Berlin wurde im Dezember ´89 offiziell besetzt. Oder die Kastanienallee und andere Häuser, der halbe Prenzlauer Berg wurden im Dezember ´89, Januar, Februar, März besetzt. Und ein paar Häuser in anderen Stadtbezirken, wie die Mainzer Straße in Friedrichshain. Oder in anderen Städten: Potsdam, Rostock, Görlitz, Guben – es gab mehr Möglichkeiten. Aber überall wo besetzte linke Häuser waren, wurden sie plötzlich Angriffsziele für die Naziszene. Im Prenzlauer Berg hatten die Nazis auf der Strecke zwischen Alexanderplatz und Cantian-Stadion alle besetzten Häuser angegriffen – einmal auf dem Hinweg, einmal auf dem Rückweg. Es war eigentlich generell Alarmzustand. Das heißt, du begibst dich dann ungewollt in einen Selbstverteidigungsmodus, der erstmal nur da ist, um dein Haus zu sichern. Und dann ging es aber weiter, du fingst an dich zu bewaffnen und das Haus quasi militärisch abzusichern. Wir mussten unser Haus dichtmachen, Etagenbarrikaden. Aus Drahtzäunen von den Grenzschutzanlagen der DDR haben wir Schutzgitter für unsere Fenster gemacht. Unser Haus war komplett vergittert. Wir haben wirklich Waffen gehortet im Haus. Nicht wegen einer möglichen Räumung durch die Bullen, sondern um uns vor den Nazis zu schützen.
Helge: Die Wende war wie eine Wattesituation. Du konntest alles Mögliche machen. Du warst in Watte und hast dich nirgendwo mehr gestoßen. Gleichzeitig saßen wir als Antifa Potsdam in vier oder fünf dieser Bürgerrechtsgremien, am Runden Tisch zur Auflösung von Stasi und sonst was. Völlig bescheuert, weil das eigentlich überhaupt nicht unser Ding war. Parallel dazu haben wir mit anderen Leuten angefangen Häuser zu besetzen. Da lief eigentlich alles andere außer wirklich Antifaarbeit. Also das, was wir vorher als Gruppe hatten, hat sich quasi ein Stück weit einfach in das soziale Leben im Haus verwandelt. Hier ein Infocafé, um die Ecke noch ein Café. Jeden Abend kannst du diskutieren über Bücher, Gott und die Welt. Du fängst an, dich ein bisschen zu verwirklichen in deinem Projekt, in deinem kleinen Kosmos. Und dann kommen die Nazis urplötzlich an und fangen an dir auf den Kopf zu hauen. Die deinen kleinen Nachttisch, den du dir bunt angemalt hattest, anzünden wollen. Zwischen Weihnachten und Silvester war der erste Angriff und dann durchgängig bis Ostern 1990, jeden Freitag, jeden Samstag. Wir mussten unsere Fenster vergittern mit allmöglichen Scheiß. Ich habe mich noch nie so gefreut, dass Brüder von meinem Bekannten aus der NVA kamen, die wussten wenigsten wie man diesen scheiß Stacheldraht wickelt, damit er irgendwas brachte. Wir waren ganz froh, dass wir Beziehungen zu den Russen hatten, was man sich da an Bewaffnung zugelegt hat, ist eigentlich nicht feierlich. Eigentlich ein Wunder, dass damals nicht mehr Leute auf der Straße geblieben sind. Auch unter der Woche sind Nazis vorbeigefahren und haben Steine durch die Fenster geschmissen. Einer ist nur ein Stück neben dem Kinderbett gelandet. Das war die Situation. Wir waren völlig in Anspannung. Wir sind dann auch `Streife` gefahren, hab geguckt wo sind die Nazis, haben uns CB-Funk angeschafft, alles so ein Zeug. Ey. So eine Scheiße.
Max: Ich kann mich entsinnen, dass wir öfter mal nach Potsdam gefahren sind. Ich kann mich auch erinnern mal mit auf Streife gefahren zu sein, in so einem kleinen Auto, das von oben bis unten voll war mit Knüppel und Zeugs. Du musstest erstmal die Waffen bei Seite schieben, um dich ins Auto zu setzen. Und dann sind wir durch Potsdam gefahren: „Da ist ´ne Glatze, hin, Tür auf, los!“.
Josephine: Da könnte man schon die Frage stellen, ob es dabei um´s sich gegen Nazis wehren ging, so wie ich das meinte, oder ob es nicht dann auch zum Automatismus bei einigen Leuten wurde, die das dann auch einfach cool fanden.
Paul: Definitiv. Ich wollte aber noch kurz was Anderes sagen. Nach dem Mauerfall war mindestens ein dreiviertel Jahr, dass die Polizei einen in Ruhe gelassen hat. Bildlich gesprochen: Man konnte hingehen zum Polizisten. Man konnte dem ins Gesicht spucken. Und der hätte gelächelt. Das wäre zu DDR-Zeiten nicht vorstellbar. Was Josephine sagt, dass sich Sachen als Selbstläufer entwickelt haben, das stimmt. Ich weiß noch eine Situation in Guben, das war schon zu Westzeiten, genau weiß ich es nicht mehr. Das war wirklich eine krasse Situation, wir haben uns wirklich wie die Axt im Walde benommen. Später haben uns die Leute von vor Ort gesagt – ich sag es jetzt mal mit meinen Worten – „Habt ihr ´ne Macke, wir müssen hier weiterleben und ihr fahrt wieder nach Hause“. Es gab einige Situationen, wo ich hinterher auch dachte, wir hätten uns sicher wohl anders verhalten sollen. Zum Beispiel in Schwedt wurden nachdem wir dagewesen sind, Leute vor Ort zusammengeschlagen, einer musste operiert werden und hat jetzt eine Platte im Kopf. In der Zeit, so 1991/92, hat sich richtig viel hochgeschaukelt, gerade auch an Militanz.
Helge: Um die Geschichte mit den Bullen abzuschließen: Beim letzten großen Angriff auf unser Haus war es tatsächlich so, da haben die Bullen eine Querstraße weiter gestanden und haben gebibbert und gewartet. Dann haben sie zwei Zivis [Zivilpolizisten, Anm. d. V.] zu uns in die Kneipe geschickt und gesagt, da komm‘ sie [die Neonazis, Anm. d. V.] jetzt. Dann sind wir raus und haben die schon gehört. Dann kamen die dreißig Nazis, aber die wussten nicht, dass wir schon Bescheid wussten und dann gab es richtig Saures. Die Jungs sind nicht wiedergekommen.
Die Bullen haben sich auch nie dafür interessiert, es gab keine Razzien oder so. Am Wochenende, da hat es geknallt und gekracht. Aber es war nicht so, dass die Bullen dann am nächsten Morgen oder so noch in der Nacht, noch irgendwie vor der Tür gestanden hätten. Das war in der Phase überhaupt nicht vorstellbar. Wir hatten das Gefühl, wir müssen es selber in die Hand nehmen, weil die VoPos [Volkspolizei, Anm. d. V.] überhaupt nicht wissen, wo sie stehen.
Alex: Das war so eine Art Machtvakuum. Also der Staat hat sich in Form von Polizei komplett zurückgezogen. Das war so eine Phase von ungefähr einem Jahr, ab dem Fall der Mauer. Die VoPos wussten gar nicht, wie sie sich einsortieren sollen. Niemand war da, der durchgegriffen hat und gesagt hat „Das können wir hier nicht zulassen, diese Freiräume akzeptieren wir hier nicht!“. Es gab nicht die Westberliner Linie, wo innerhalb von 24 Stunden die Häuser zu räumen sind. Das war nicht durchsetzbar. Politisch nicht und gegenüber dem Personal auch nicht. Nach deren Verständnis, oder nach unser aller Verständnis war das ja Volkseigentum. Was soll man da jetzt durchsetzen. Volkseigentum enteignen? Wer wird denn jetzt enteignet und wer kriegt das denn? Also das hat alles nicht funktioniert. Aber mit dem Fall der Mainzer Straße im November [1990, Anm. d. V.] war das vorbei. Die staatliche Macht hat sich mehr oder weniger konsolidiert und die Bullen haben durchregiert von Westberlin bis nach Ostberlin. In dieser Phase kann ich mich erinnern – Lottumstraße im Sommer als die Weltmeisterschaft war – gab es die ersten Formen von Public Viewing am Alex[anderplatz, Anm. d. V.]. Also sind die Nazis vom Alex hoch bis zum Cantian-Stadion, oder wie das da Schönhauser heißt, und wieder zurück. Und haben alles in Schutt und Asche gelegt.
Egal ob es irgendwie besetzte Häuser waren in der Schönhauser, Kastanienallee oder in der Lottum oder irgendwelche Läden. Die Nazis haben sich ausgelebt. Die haben natürlich auch diesen Freiraum genutzt. Später als es sich hochschaukelte, hatte ich das Gefühl, dass sich die Antifas im Osten eher der Doktrin der Westberliner Antifa untergeordnet haben. Dabei waren die Lebenswelten unterschiedlich, die politischen Stile und das militante Agieren. Zum Beispiel eben Guben, ich war ein- zweimal da. Beim zweiten Mal war eine Großdemo angesagt, als `koloniale Bestrafungsaktion`. Da ist ein Riesentrupp aus Berlin hingereist, mitten im Winter, es war dunkel, die Straßen waren leer, niemand wusste, wo es langgeht. Wir sind kreuz und quer mit dem Demozug, im Schwarzen Block, durch die Gegend gerast und haben irgendwas gebrüllt von, weiß ich jetzt gar nicht mehr, aber um so zu symbolisieren, hier marschiert die Antifa und „Wir haben euch was mitgebracht: Hass, Hass, Hass“. Aber es war niemand auf der Straße und es hat einfach niemanden interessiert. Was machen wir eigentlich hier? […] Das war nur symbolische Politik, das war ja nix mit Militanz. Da war ja niemand, keine Nazis – die haben sich verpisst. […]
Paul: Für mich persönlich kann ich sagen, es gab in meinen Augen berechtigte Militanz beziehungsweise gewaltsame Auseinandersetzungen mit Nazis. Aber unsere eigentliche Arbeit, die jahrelange Umlandarbeit, Antifa Berlin-Brandenburg, die hat zur damaligen Zeit sehr große Früchte getragen. Wir haben zum Beispiel Zeitungen und Broschüren rausgebracht, wie die „Hinter den Kulissen“, haben Konzerte, Veranstaltungen und Demos organisiert. In der Arbeit find ich mich eher wieder.
Josephine: Da stimme ich dir zu. Ich bin immer schon eher die Peacer-Fraktion gewesen und fand diese Kloppereien oftmals wirklich blöd. Es gab so bestimmte Aktionen, die fand ich völlig überflüssig und mich gefragt hab, wo unterscheidet man sich jetzt in der Form von der Gewalt und in der Massivität der Gewalt von den Nazis denn überhaupt noch. Wenn ‚drauf drauf drauf‘ und immer noch ‚drauf‘ ohne Nachzudenken. Es ist echt ein Wunder, dass da keiner gestorben ist. Trotz alledem würde ich sagen, dass es auch gut war, dass in bestimmten Orten in Brandenburg und das bestimmt kann man DDR-weit oder deutschlandweit sagen, in bestimmten kleineren Städten es gut war, dass die Nazis ab und zu mal ordentlich eins auf die Fresse gekriegt haben. Sozusagen als Ansage: „Ihr könnt hier nicht machen was ihr wollt!“. Auch wir können uns verteidigen und können uns Freiräume erkämpfen. Auf der einen Seite sehe ich es problematisch, wenn Militanz nur noch einen Selbstzweck hat, also Gewalt zum Selbstzweck wird und gar keine kritische Auseinandersetzung mehr dazu stattfindet. Aber auf der anderen Seite gibt es in meinen Augen trotz alledem ‘ne Notwendigkeit, dass ab und zu mal ne Ansage verteilt wird. […] Ich kann mich erinnern, dass ich am Alex[anderplatz, Anm. d. V.] dazwischen gegangen bin, als die Nazis ein Hakenkreuz gestellt haben. Da ist ein kleiner Skinhead von weiß der Himmel wieviel Leute umzingelt worden. Die haben den vermöbelt bis zum geht nicht mehr. Ich bin dazwischen gegangen und hätte auch fast auf die Fresse gekriegt. Glücklicherweise haben mich Leute erkannt und dann verschont. Ich konnte es nicht ertragen, da zuzugucken. Ich fand das so widerlich.
Ihr habt von unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven auf Militanz und Gewalt gesprochen. Wie habt ihr das damals diskutiert?
Max: In meiner Erinnerung war Militanz selbstverständlich, in allen, also vor allem Berliner Antifa-Zusammenhängen, egal Ost oder West nach der Wende, in denen ich mich bewegt habe. Nur da gab es überhaupt gar keine Diskussion drüber. Es wurde zwar angeschnitten in der Bündnisarbeit. Aber selbst in den bürgerlichen Bündnissen war klar, das Thema müssen wir ausklammern, weil dann würde das Bündnis nicht funktionieren. Weil dann nämlich die Antifa sagen würde „Tschüss“.
Helge: Das habe ich so tatsächlich nicht erlebt. Immer wenn wir irgendwo hingefahren sind, irgendwas gemacht haben, irgendwo anders hin zu einer Demo oder so, haben wir geklärt, was ist da vor Ort. Aber das hat sich auch erst entwickelt. Ich denke, dass es direkt nach der Wende und direkt nach Rostock-Lichtenhagen noch viel selbstverständlicher war, so ‘ne Art Bestrafungsaktionen durchzuziehen.
Max: Ich kann mich auch an Aktionen in Halbe, auch ´91, erinnern. Es gab eine Vorbereitung aus Berlin heraus mit einer Demo in Königs Wusterhausen. Gleichzeitig gab es Sportgruppen, die geguckt haben, wer denn alles so nach Halbe will und die abgefangen haben. Es gab in den Jahren immer die klare Überlegung in der Berliner Antifa, z.B. gab es – ich denke ´92 – eine Kampagne „S-Bahn-Fahren“. Jeden Samstag sind viele Antifaleute verkleidet und konzentriert in den Problembezirken S-Bahn gefahren – in Gruppen durch Lichtenberg, Marzahn, Hellersdorf, Hohenschönhausen.
Helge: Ja, das gab es auch. Aber was ich eigentlich sagen wollte, ich bleib mal bei dem Begriff Bestrafungsaktionen. Auch wenn der salopp ist und dem eigentlichen Kern nicht gerecht. Es waren nicht einfach nur in dem Sinne Bestrafungsaktionen, sondern bei Ereignissen wie Hoyerswerda, wo sich alle einig waren, da gibt es jetzt keine Debatte, da fahren wir jetzt hin, fertig. So war das in Hoyerswerda und Rostock. Da gab es keine Debatten, da war ganz klar, wir fahren da hin. […]
Alex: Bei der Organisierung von den Demos dort vor Ort, in Guben, Lichtenhagen oder Hoyerswerda, ging es auch darum Bündnisse zu schaffen und dann haben sie dir natürlich die Militanzfrage um die Ohren gehauen. Dazu musstest du dich dann positionieren und das war dann immer ein bisschen haarig.
Paul: Für mich war klar während Rostock-Lichtenhagen, die Frage nach Militanz stellt sich nicht mehr. Hätte ich da ein Messer beigehabt, ich hätte bestimmt zwei Leute mitgenommen.
Josephine: Und warum hast du kein Messer bei gehabt?
Paul: Ich wollte das nicht. Ich wollte ausschließen, dass sowas passiert.
Max: Ich denke, dass wir, also die mit denen ich unterwegs war, nicht die wilden Prügeltypen waren, sondern in dieser Gruppe war klar, wir nehmen den Tod nicht billigend in Kauf, sondern wir bewaffnen uns natürlich und wir greifen die Nazis an, wir wollen sie umhauen, aber wir wollen sie nicht ermorden.
War es für dich oder auch für die anderen eine persönliche oder politische Entscheidung eine Grenze zu ziehen und den Tod nicht billigend in Kauf zu nehmen?
Max: Eine politische Entscheidung. Ich denke, das war bei allen so.
Josephine: War es nicht beides, persönlich und politisch?
Paul: Ich würde beides sagen.
Max: Also ich höre das zum ersten Mal, dass jemand sagt, er wäre bereit gewesen, einen Nazi zu töten. Ich wäre dazu nicht bereit gewesen. Das ist eine Schwelle. Also in Kauf zu nehmen, dass er vielleicht auf die Intensivstation muss, aber ich wollte ihn nicht umbringen.
Paul: Nur in der Situation. Das war nicht schön, drei gegen fünfzehn.
Max: Klar hat man da blanken Hass. Da kann einem schon die Sicherung durchbrennen.
Josephine: Ich glaube in Lichtenhagen zum Beispiel ist so einigen eine Sicherung durchgebrannt.
Paul: Zu Recht.
Josephine: In so einem Rauschzustand macht man andere Sachen, die man bei klaren Verstand nicht machen würde.
Max: Ich würde nicht sagen, dass ich in so einer Situation besinnungslos werde und nicht mehr weiß was ich tue. Ich bin Hass gesteuert gewesen, aber ich habe gewusst, was ich tue. Und ich wusste auch wo die Grenze ist, wenn jemand aufm Boden liegt, dann muss ich nicht noch mit dem Fuß nachtreten.
Helge: Ich kann für mich nicht sagen, dass es eine politische Entscheidung war, sondern mehr mein Umfeld und ich nenn es mal: ein sozialer Konsens. Wir haben uns aufgeregt darüber, dass irgendwie mit Ende der Neunziger die Leute urplötzlich Messer dabeihatten. Anfang der Neunziger war das noch gar nicht `in`. Das kam erst später mit Messern, mein ich, glücklicherweise.
Diese Entscheidung Grenzen zu ziehen oder einen bestimmten Punkt nicht zu überschreiten, war eher ein sozialer Konsens. Bei uns in der Stadt gab es auch ein paar – ich sag mal – Verrückte. Da gab es drei Leute, drei Punker, die sind auch alleine in einen Klub mit 30 Nazis gegangen. Am Ende sind die 30 weggerannt. Das war wirklich so, die waren völlig durchgeknallt. Die haben alle in einem dreiviertel Jahr oder so, haben die wirklich alles weggedroschen. Darauf haben sich viele ausgeruht und mussten sich sozusagen die Finger nicht mehr schmutzig machen. Und die drei haben Glück gehabt, dass dabei niemand liegen geblieben ist. Wenn wir losgezogen sind, hatten wir zwar alles Mögliche dabei, aber keine Messer.
Es gab viel viel später, so eine Art Flashback: Die Nazis haben sich immer am Herrentag den Spaß gemacht und sind einfach so provomäßig an unseren Häusern vorbeigelaufen. Da gab es dann auch mal einen Moment von „Jetzt müssen wir es ihnen mal richtig zeigen!“. Aber auch so dumme Geschichten mit drei offenen Armeejeeps, in jedem acht Mann drin, mit Hassis und brennenden Mollis. Dann durch die Potsdamer Innenstadt. Einfach nur um zu zeigen, wir haben hier die dicken Hosen an. Aber gleichzeitig war es in der Zeit auch so, dass uns tatsächlich die Vorstadtviertel oder die Neubauviertel nicht interessiert haben. Wir hatten ja unseren Kiez, da durften die Nazis nicht hin. Aber in Waldstadt oder so, da waren die Hools, die Faschos und die Rocker.
Max: Wir springen auch ständig zeitlich hin und her, das war in ´90, Rostock war ´92. Die Zeit spielt eine Rolle, wann waren wir militant, wann nicht. Ich überlege, wann habe ich eigentlich aufgehört militant zu sein. Ich habe aufgehört militant zu sein, als ich keine Antifaarbeit mehr gemacht habe. Das geht bei mir tatsächlich bis ´97. 1992 war auch Thälmann-Park: 1. Mai ´92, wir hatten ja die FAP in Prenzlauer Berg, das war ihre Hochburg. Am 1. Mai ´92 machte die FAP einen bundesweiten Aufmarsch am Thälmann-Park, an diesem Ernst-Thälmann-Denkmal. Wir kriegten das ein, zwei Tage vorher mit und es gibt ‘ne Massenmobilisierung, die war legendär. Die FAP wurde wirklich weggeprügelt, weggedroschen, weggehauen. Die Bullen, die die schützen sollten, die haben es nicht auf die Reihe gekriegt. Nach dem 1. Mai hat die FAP im Prenzlauer Berg nur noch Probleme gekriegt, weil alle gemerkt haben, die müssen hier weg. Die hatten ‘ne WG hinterm S-Bahnhof Greifswalder. Da war auch der Harakiri-Laden und so. Da gab es eine richtige Kampagne ‘92, ‘93, ´94, mit der wir es geschafft haben, die wirklich aus dem Kiez zu jagen. Die haben ihre Sachen gepackt und haben sich verpisst. 1993 ging es dann in Schöneweide los. Am 1. Mai ´93, da haben Nazis in Schöneweide versucht zu demonstrieren. Die Demo ist nicht wirklich zustande gekommen. Wir haben die da weggehauen, in Schöneweide wurden sie weggeknüppelt und dann 1. Mai ´94 haben sie versucht eine Demo zu machen in Lichtenberg, in der Weitlingstraße, mitten in ihrer Homebase. Daran kann ich mich noch ziemlich gut erinnern: Die haben eine Demo gemacht, Spalier der Polizei drumherum, lauter unscheinbare Leute und auf ein Signal hin, stürmten von allen Seiten Leute, in normalen Klamotten auf die Nazis zu und haben die Demo auseinandergeprügelt. Das war einfach so, keine Viertelstunde und sie sind die gelaufen und es war zu Ende. Ich finde, sowas sind erfolgreiche militante Aktionen. Würde ich auf jeden Fall immer noch zu stehen. Das ist eine Form von offensivem Antifaschismus, der auf jeden Fall zu begrüßen ist.
Max hat seine aktuelle Sicht eben schon angerissen. Wir schaut ihr denn heute auf die damalige Zeit und euer Verhältnis zu Militanz? Wie schaut ihr im Rückblick auf eure Praxis?
Paul: Meiner Meinung nach gab es definitiv einen Zeitraum, vielleicht so ungefähr ab einem halben Jahr nach der Wende, dann die nächsten vier fünf Jahre, da gab es definitiv für mich berechtigte Gewalt gegenüber Nazis. Und ich bin mir auch ziemlich sicher, wenn – sagen wir mal – sechzig Prozent der gewalttätigen Auseinandersetzungen nicht gelaufen wären, dann denk ich, hätten sich die Nazis definitiv noch mehr ausgebreitet, sowohl in den ländlichen Regionen oder auch in Berlin. Es gab auch gewisse Aktionen wie in Guben, bei denen sich einfach über das Verständnis der Leute von vor Ort hinweggesetzt wurde, einfach wie eine Horde durch das Dörfchen gezogen ist. Das finde ich im Rückblick schwachmatenmäßig. Aber bei einigen Aktionen kann ich nach wie vor nur sagen, die kann ich zu hundert Prozent vertreten und würde es genauso wieder machen.
Max: Militanz braucht einen politischen, ich würde mal sagen einen politisch-intellektuellen Unterbau. In Halle gab es ´88 die SVKs, mit so einem beschissenen Namen „Skinhead Vernichtungskommando“. Das war eine Gruppe von Punks, die im Prinzip die gleichen Voraussetzungen hatten wie wir auch. Nur, dass die eben dann in Halle gesagt haben, wir kriegen von den Nazis hier nur auf die Glocke und haben Angst, wir haben Angst. Wir haben Angst, wir müssen was dagegen tun. Also haben sie sich organsiert, haben Kampfsport gemacht und haben gesagt, wir nehmen den Kampf an und wir jagen die hier aus unserer Stadt. Das war der einzige gemeinsame Nenner. Sie waren sozusagen eine Straßentruppe mit roter Armbinde. Sie sind losgezogen und die Nazis haben sich über eine lange Zeit nicht mehr getraut, irgendwas gegen sie zu machen. Aber damit war der Zweck dieser Gruppe auch weg. Die Gruppe hat sich dann auch in Wohlbefinden aufgelöst, weil der politische Unterbau fehlte. Dagegen haben wir gesagt, man muss auch Überzeugungsarbeit machen, Bildungsarbeit, Aufklären. Wir haben militante Aktionen in den meisten Fällen aus einem bestimmten politischen Antrieb herausgemacht. Das war keine besinnungslose Gewalt, das war konkrete Gewalt, zielgerichtete Gewalt. Und es war eine Form von Selbstverteidigung.
Alex: Wir hatten nicht immer so einen ideologischen Unterbau. Es ging auch um Hass. Man hat die Nazis gesehen, was sie in Hoyerswerda und Lichtenhagen gemacht haben. Blanker Hass gegen diesen tobenden Mob. Und klar, es gab das Antifa-Infoblatt und es gab Flugblätter. Ich war auch in einer Sportgruppe und wir haben nicht nur trainiert und uns nicht nur geprügelt, sondern uns auch Literatur gegenseitig übergeholfen, darüber diskutiert, bei irgendwelchen Zirkeln einmal im Monat gesessen und palavert. Die Selbstverteidigung war notwendig und sinnvoll, um das eigene Leben zu schützen und die eigenen erkämpften oder erarbeiteten Freiräume zu erhalten und weiter auszubauen. Wenn ich das so Revue passieren lasse und mich frage, was hast du da eigentlich früher gemacht und wie sinnvoll war das? Telefonkette, Fahrdienst, wir hatten einen festen Anlaufpunkt an bestimmten Tagen, der immer gewechselt hat – wir haben da schon ziemlich viel Tohuwabohu gemacht. Wenn ich heute auf eine Nazidemo gehe, kann ich daneben her spazieren und es passiert gar nichts. Wo ich mich frage, Moment mal, wo ist denn das, was wir damals vor 20 Jahren gemacht haben und mit welcher Energie und welcher Kraft wir das gemacht haben, uns denen entgegenzusetzen, was ist davon noch übrig? Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Die Bullen sind bewaffneter, die Überwachung ist viel perfekter und die Gegenseite hat natürlich auch aufgerüstet. Die sind auch mit Waffen unterwegs, mit Messern. Da gibt es den sozialen Konsens nicht mehr, wie noch vor 20 Jahren. Sich damals in seinem eigenen Kiez, in seinen eigenen Strukturen angstfrei bewegen zu können, fand ich einfach super. Und ich finde es nach wie vor so. Dass man mit dem, was man politisch gedacht hat und versucht hat umzusetzen, nicht immer die Mehrheit der Bevölkerung erreicht hat, muss man nun schmerzlich nach 20, 25 Jahren zur Kenntnis nehmen.
Josephine: Ich denke, dass es einfach eine politische und soziale Notwendigkeit war. So wie wir das die ganze Zeit gesagt haben, dass es eine Form von aufgezwungener Auseinandersetzung war und eine Form von Selbstverteidigung, um die man nicht drum rumgekommen ist. Die Frage, ob ich das will, hat sich leider gar nicht gestellt. Ich hatte nämlich saumäßig Schiss und fand es total zum Kotzen und trotzdem musste man das machen. Ich denke, dass auch die Leute, die sehr ängstlich waren, bereit waren, Solidarität zu zeigen und nach Rostock zu fahren, wenn da irgendwie Großalarm war, weil es einen Überfall geben sollte aufs AJZ. Oder weiß der Geier wo hinzufahren, wo man sich fast in die Hosen geschissen hat dabei und dann heilfroh war, dass die blöden Nazis nicht gekommen sind. Das war eine Form von gelebter Solidarität, die total wichtig war. Klar, da sind total viele Fehler gemacht worden, auch im Umgang mit Gewalt. Aber es gab auch, wenn man sich das im Zeitverlauf anschaut, bei einem ganzen Teil Leuten einen Lernprozess und auch Verhaltensweisen und Aktionsformen wurden geändert. So größere Events, so größere Aktionen ziehen natürlich auch Leute an, die bekloppt sind. Und die nicht unbedingt aus einer politischen Notwendigkeit heraus Sachen tun oder sich überlegen, was gibt es für adäquate Handlungsoptionen und ist Gewalt davon eine, oder ein militanter Angriff einer? Darüber gab es meines Erachtens zu wenig Auseinandersetzung. Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns diese Zeit nicht genommen haben, uns darüber ernsthaft auseinanderzusetzen oder ob uns die Zeit nicht gegeben wurde. Ich glaube eigentlich, dass es ein bisschen billig ist, sich rauszuschleichen und zu sagen, dass uns die Zeit nicht gegeben wurde. Ich kann mich schon an Diskussion erinnern, in kleineren Zusammenhängen, z.B. über die Ästhetik dieser Göttinger Antifa M mit ihren Plakaten. Erinnert ihr euch noch daran? Das bunte Plakat mit den Helmen, was alle nur saumäßig cool fanden und in allen Infoläden hing.
Max: Das war autonomer Pop. Das war eben keine gelebte Militanz und kein politischer Unterbau. Das war Kasperle.
Josephine: Ich will gar nicht über Göttingen reden. In den Räumen, in denen wir uns bewegt haben, war Militanz nicht nur autonomer Pop, sondern das war gelebte Realität, dass man sich auseinandersetzen musste. Aber alle fanden diese militante, martialische Ästhetik total cool und haben das auch gelebt und sind auch so rumgerannt und haben groß auf dicke Hose gemacht. Ich fand das damals ätzend und finde es in der Rückschau nach wie vor bekloppt.
Helge: Ich würde in der Rückschau sagen, das war gut und notwendig. Mit allen Rückschlägen. Mit allen Fehlern, die wir gemacht haben, war es gut auch zu wissen: Du kannst in solchen Situationen immer jemanden anrufen, du kannst irgendwo hinfahren und kannst den Leuten helfen, ob das nun eine Wohnung in Rathenow oder ein Haus in Neuruppin oder eine WG in Strausberg ist. Du bist vernetzt. Und auch die Leute vor Ort und ich genauso in meinem Popelpupsnest kann jemanden anrufen und ich kriege Hilfe. Mit allen Fehlern und mit allem Drumherum. Es war scheiße, dass kein ausreichender politischer oder gedanklicher oder sozialer Unterbau dafür da war. Die Entwicklung war ja auch immer wellenförmig. Leute kommen, sind gegangen oder lieber beim Techno oder rund um die Welt, fangen an zu Studieren oder kriegen Kinder. Alles super. Das Problem ist einfach nur, wir haben es damals nicht geschafft, nach der Phase – von uns waren viele auch einfach ausgebrannt – gab es keinen Draht zu der jüngeren Generation. Die haben dich angeguckt, als ob du aus dem letzten Jahrhundert kommst und den Zaren kennst. Deswegen, glaub ich, gab es diesen Unterbau eben nicht.
Alex: Also du meinst, wir haben es nicht geschafft unsere Erfahrungen, unser Gefühl von Vernetzung und Solidarität sinnvoll weiterzugeben?
Helge: Richtig.
Max: Ich denke, die B‘Null [Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation (AA/BO), Anm. d. V.] hat auch viel kaputt gemacht. Die hat aus Antifa und Militanz Pop gemacht. Die hat eine Marke draus gemacht. Buntes Hochglanz. Popmarke. Das Ende der Militanz der Antifa in Berlin würde ich sagen, ist der Beginn der B‘Null. Und das betrifft auch andere Städte. Wo die stark waren, da wurde ein Hebel umgelegt. Die B‘Null hat einen Strategiewechsel vorgenommen, weg von einer wehrhaften militanten Antifa hin zu einer politischen Bewegung, die Militanz nur noch als Label und Fähnchen vor sich herträgt. Und Gewalt als Mittel ausschließt.
Alex: Neben dem ausgebrannt sein, die führenden Aktivisten geben ab und zudem, dass was Max grad sagte, da entsteht was, was so ein propagandistischer Popanz ist, aber nicht aus den gelebten Strukturen entstanden ist. Und dann sind das auch diese Spaltpilze, die dort auftauchen. Da hatte ich keinen Bock mehr drauf. Ich will mit meinem Leben noch irgendwie was Sinnvolleres anfangen, als mich mit diesen Spaltpilzen auseinanderzusetzen.
Helge: Ich denke, dass man das weder alleine der B‘Null anlasten kann, genauso wenig kann man das diesen Spaltsachen anlasten. Genauso wenig kann man das Leuten anlasten, die ausgebrannt sind und dann aussteigen. Eher schon, kann man das Leuten anlasten – wozu ich mich auch zähle, weil in Potsdam waren wir fünf Leute – und das hätte an uns gelegen, das Wissen weiterzugeben. Aber wir haben das nicht gemacht.
Ein Einschnitt, vor allem in der Westberliner Szene, war der Kaindlprozess. Der Neonazi Kaindl starb 1992 nach einem Angriff in einer Kneipe. 1994 lief der Prozess gegen Aktivist_innen. Der Fall wird in verschiedenen Publikationen zur autonomen Bewegung aufgegriffen. Welche Rolle spielte der Prozess für euch?
Helge: Ja, irgendein Hinterzimmer, militante Aktion und am Ende liegt der Herr Kaindl tot danieder, in der Gaststätte. Das hat dazu geführt, dass damals die Westberliner Antifaszene hochgenommen wurde. Mit Prozessen. Mit Haftbefehlen. Im Ergebnis ist es immer noch recht glimpflich ausgegangen. Auch die Szene hat sich ganz gut zur Wehr gesetzt, was aber auch dazu geführt hat, dass unglaublich viele Leute hinterher total ausgebrannt waren.
Paul: Oder verrückt geworden sind.
Max: Und es gab Leute, die gesagt haben, das geht mir zu weit, damit will ich nichts mehr zu tun haben. Und auch eine politische Entscheidung getroffen haben, sich von der Antifa zu distanzieren. Kaindl war eine krasse Nummer.
Helge: Ja, das war eine krasse Nummer und hat damals nicht nur richtig viel kaputt gemacht, sondern war auch sozusagen so ein Moment, genauso wie B‘Null, Spaltungen, das ist in der gleichen Zeit. Natürlich gab es in der Zeit endlose Militanzdiskussionen, völlig neben der Rolle, völlig entglitten, ohne jede Substanz. Alle hatten Schiss, dass sie abgehört wurden und alle ständig kontrolliert werden und wenn sie einen falschen Ton sagen. Da war dann auch durchaus so ein gewisses Misstrauen da in der Szene. Das hat viel kaputt gemacht. Aber es hat immer noch funktioniert, sich zu wehren und der Staat, die Staatsanwaltschaft und die Cops haben nicht erreicht, was sie wollten. Aber das ist auch das einzig Positive in dem Zusammenhang, was man erwähnen kann, dass man sich da nochmal erfolgreich auf einer ganz anderen Ebene, aber zusagen als Nachwirkung von Militanz zur Wehr gesetzt hat, gegenüber dem System und dann eben in dieser juristischen diskursiven Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Milieu.
Vielen Dank für die anregende Diskussion.