Blick zurück im Zorn

Nur so, hieß es, wären die erstrebten individuellen Freiheiten zu erlangen. Dass daran Preisschildchen klebten, wollte jedenfalls 1990/91 kaum einer wissen.

Von Wolfram Kempe

Ich kann mich noch gut an den Abend der ersten “freien” Volkskammerwahlen im März 1990 erinnern. Die Redaktion der Wochenzeitung “DER ANZEIGER” in Gründung hatte sich in meinem Wohnzimmer versammelt, drei Fernseher waren aufgetrieben worden, wir verfolgten die Wahlberichterstattung auf drei verschieden Kanälen gleichzeitig. In der folgenden Woche sollte die erste Nummer unserer “unabhängigen Wochenzeitung” erscheinen, die Seiten mit Hintergrundberichten zum Wahlkampf waren schon im Satz, nun musste nur das Ergebnis kommentiert und bewertet werden, um auf den aktuellsten Seiten der Wochenzeitung zu erscheinen. Ausdruck mindestens meiner damaligen Naivität war, dass ich wirklich gespannt war, wie es ausgehen würde. Gerade so, als hätte ich in den paar Wochen zuvor nicht erlebt, wie die dümmliche Losung westdeutscher Wahlstrategen für die “Allianz für Deutschland” “Ja, besser leben” bei meinen Mitbürgern verfing; wie zu den Wahlkampfauftritten von Helmut Kohl im Osten, der in Tat und Wahrheit gar nicht zur Wahl stand, busladungsweise westdeutsche CDUler nach Dresden, Leipzig, Erfurt oder Karl-Marx-Stadt (Rückbenennung erst am 1.6.1990) gekarrt wurden. Es schien niemanden zu stören, denn alle anderen machten es auch so. Jens Reich, Mitbegründer des Neuen Forums, sagt später den Satz: “Das waren in die DDR exportierte Westwahlen.” Ich aber war an jenem Märzabend – gespannt. Das lag vielleicht daran, dass ich im Grunde meines Herzens Philanthrop war (und bis heute geblieben bin), der sich wider alle Vernunft weigert zu glauben, dass vermeintlich gebildete Menschen irgendwelchen Rattenfängern mit schwachsinnigen Parolen hinterherlaufen.

Aber sie liefen. CDU, SPD und PDS bekamen zusammen rund 80 Prozent der Stimmen, die Bürgerbewegungen im weiteren Sinne rund 580.000 Stimmen, gut 5 Prozent. Wenn es denn eine Revolution war, an der wir bis dahin teilgenommen hatten, war sie spätestens jetzt zu Ende, und diese “Revolution” hatte an jenem Abend ihre Kinder gefressen. Ob ich das an jenem enttäuschenden Abend schon so genau wusste, weiß ich nicht mehr. Aus dem Leitartikel, den ich am nächsten Tag schrieb (“Männer in Anzügen”), kann man es herauslesen oder hinein, wie man will. Von heute aus würde ich sagen (nach 10, in der Kneipe), das Vorziehen dieser Wahl von Mai auf März hatte auch darin seinen Grund; ein klein wenig ist ja jeder empfänglich für Verschwörungstheorien.

In den folgenden Tagen, Wochen und – nach jeder weiteren Wahl erneut bis zum Ende der 90er Jahre – erging sich die westdeutsche Journaille und Publizistik im Zusammenhang mit den “Wahlauswertungen” allein in der Frage, warum ein nennenswerter Teil (im März 90 knapp 17 %) “der Ostdeutschen” wohl immer noch den alten Staatssozialisten folgten und sich beharrlich den Versprechungen einer “goldenen Zukunft” unter “fürsorglicher” westdeutscher Führung verweigerten. Ich erinnere mich noch an den Aufmarsch selbsternannter “Experten” von Politologen und Soziologen im Fernsehen. In Zeiten des kalten Krieges hatten uns zum Teil dieselben Leute noch als “Kreml-Astrologen” erklärt, warum im Kreml ein Sack Reis umgefallen war und was das bedeuten “könnte”. Ganz ungehört blieb dieser Unsinn nicht: Erst nach dem die CDU in den frühen 2000er Jahren zum wiederholten Mal mit ihren “Rote-Socken-Kampagnen” vermeintlich erfolglos blieb (“vermeintlich” – gemessen am Stimmenanteil der PDS, der sich im Osten einfach nicht unter 5 Prozent drücken ließ), endete endlich diese Propaganda. Ich erwähne das, weil dieses Verhaltensmuster westdeutscher politischer Kräfte zu einem späteren Zeitpunkt und unter anderen politischen Voraussetzungen, oberflächlich betrachtet, wiederkehrt.

Was schon zum Ende des Jahres 1989 begonnen hatte, beherrschte nun die sogenannten Montagsdemonstrationen vor allem in Leipzig und Dresden: Aus “Wir sind das Volk” wurde: “Wir sind ein Volk” und “Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht gehn wir zu ihr.” Diese Wünsche und Forderungen wurden umgehend erfüllt. Aber nicht, weil auf der Straße laut genug gerufen worden war, sondern weil es in den – ideologisch überhöhten – Kram der bundesdeutschen Wirtschaft passte. Denn soweit es die Realwirtschaft betraf, waren sie an den Bewohnern der “neuen Länder” allenfalls als Konsumenten interessiert. Darüber hinaus galt es, sich Realien, also Grund und Boden, zu sichern und mögliche Konkurrenten vom Hals zu schaffen.
Was folgte, war nahezu unvermeidlich. Unvermeidlich jedenfalls, wenn man sich die politischen, volks- und betriebswirtschaftlichen Voraussetzungen und Spielregeln einer Neo-Kolonialisierung unter den Bedingungen einer entwickelten kapitalistischen, im Wesentlichen liberalen Staatsordnung am Ende des 20. Jahrhunderts vergegenwärtigt. Unvermeidlich im Rahmen eines gigantischen Wirtschaftsförderungsprogrammes West, ausgegeben als “Aufbau Ost”. Nur so, hieß es, wären die erstrebten individuellen Freiheiten zu erlangen. Dass daran Preisschildchen klebten, wollte jedenfalls 1990/91 kaum einer wissen – und die Mahner und Bedenkenträger wurden als Stimmungskiller und Spielverderber von der veröffentlichten Meinung hingestellt und breit wahrgenommen. Denn es galt ja nun das Freiheitsversprechen einer bürgerlichen Republik: Jeder sei seines Glückes Schmied, die Stellung in der Gesellschaft hänge einzig von der individuellen Leistungsbereitschaft und vom individuellen Leistungsvermögen ab; und wenn man nur für eine gute Bildung der eigenen Kinder sorge, wird es ihnen einmal besser gehen als einem selbst. Das aber ist das Versprechen und Ziel der Französischen Revolution mit Abschaffung der Standesschranken, das in Deutschland erst 1918 Fuß fasste und auf das sich auch die DDR positiv bezog und zur vollständigen Durchsetzung nach 1945 nach eigenem Selbstverständnis angetreten war – nur eben nicht nur für Bürgerliche, sondern für alle. In meiner Familie waren mein Bruder und ich am Ende einer längeren Reihe von Landarbeitern die ersten, die eine Universität besuchten. Meine Eltern waren darauf stolz. Dass dieses Versprechen unter den Bedingungen des realexistierenden Sozialismus (“in den Farben der DDR”) mit den Jahren zunehmend nicht eingelöst wurde und aus ideologischen Beschränkungen nicht werden konnte, ist für mich – von heute aus betrachtet – ein Grund (unter mehreren anderen) für den Untergang der DDR. “Ich leiste was, ich leiste mir was”, kann sich noch einer an diese “Parole zum Ersten Mai” (die Wochen vorher auf der Titelseite des ND bekanntgegeben wurden) erinnern? Aber dafür war politische Konformität notwendig.
Dass in der Bundesrepublik die sogenannte “Durchlässigkeit” der Gesellschaft gerade unter Sozialdemokraten einen ganz anderen Stellenwert hatte, habe ich erst spät begriffen. Ein enger Bekannter, als Biologe mit eigener Beratungsfirma im Umweltbereich tätig, sprach zu weinseliger Stunde darüber, dass sein Vater kleiner Bahnbeamter gewesen sei – Schrankenwärter, wenn ich mich recht erinnere – und er der erste und der Einzige aus seiner Familie sei, der eine Universität besucht habe. Darauf war er stolz. Doch er hatte trotzdem ein Minderwertigkeitsgefühl, wenn er mit Leuten mit mehr Geld, mehr Einfluss, mit “Höhergestellten” umgehen musste. Mir war das völlig fremd, so fremd, dass ich in der Folge beim Umgang mit Westdeutschen darauf achtete, ob noch andere diese internalisierten Dünkel zeigten. Ich habe das dann öfter, natürlich unterschiedlich ausgeprägt und in unterschiedlichen Formen, angetroffen. Das hat mich tief verblüfft, denn die einzige Referenz, die ich dafür hatte, war die Literatur der zwanziger Jahre.
Dabei war der “Volkskapitalismus” ordoliberaler Denkungsart, späterhin als “soziale Marktwirtschaft” bezeichnet, unter den Bedingungen des Kalten Krieges die erfolgreichere, vor allem aber für die Mehrheit der Deutschen in West und Ost attraktivere Wirtschaftsform. Die damit verbundene “Entproletarisierung” (d.i. die Auflösung des Klassenbewusstseins und damit des organisierten Proletariats) der Arbeitswelt und damit der Gesellschaft war kein Nebeneffekt, sondern Ziel dieser Wirtschaftsordnung, die die Reproduktionsbedingungen des Kapitals als auch die Rendite gewährleistete. Mindestens bis zu der Stelle von Sein und Bewusstsein hatte der deutsche Kapitalist seinen Marx schon gelesen und die Dialektik verstanden. Der westdeutsche Proletarier schon der sechziger Jahre hatte weit mehr zu verlieren als bloß seine Ketten, wodurch aus diesen Ketten weitaus subtilere Fesseln geworden waren.
Aus meiner Sicht gehört es zur Tragik der deutschen Linken, diesen Prozess nur unzureichend reflektiert und folgerichtig auch keine Antworten darauf entwickelt zu haben, sieht man von akademischen Zirkeln ab. Mehr noch, die westdeutsche Sozialdemokratie hat ihn aktiv gestaltet. Und sowohl die organisierten als auch die unabhängigen Linken in der DDR kümmerten – “kümmerten”! – sich nach dem Untergang des Landes vor allem um die Folgen dieses Anschlusses, anstatt die Entwicklungen des kapitalistischen Systems, die sich unter ihren Augen vollzogen, wahrzunehmen und mindestens zu durchdenken. So blieb der Riss innerhalb der bürgerlichen Klasse, der mit der zunehmenden Abwendung vom kontinentalen Ordoliberalismus und der Hinwendung zum atlantischen Neoliberalismus Hayek’scher
Prägung begann, größtenteils unbemerkt. Altmarxistisch würde man das als „Rumwurschteln in den Untiefen der Erscheinungen und Institutionen“ bezeichnen, ohne zum Wesen gedanklich durchzudringen. Dabei war mit den “Reganomics” und dem “Thatcherismus” der Weg der Spaltung zwischen Real- und Finanzwirtschaft beschritten, mit vagabundierendem “freien” Kapital, das der Realwirtschaft entzogen wird – allein weil diese dingliche Grenzen findet oder finden wird – und sich fast zwangsläufig im Grundbesitz sammelt und so leistungsloses Einkommen generiert. Das ist die Rückkehr der Rentiers viktorianischer Zeiten – in neuem Gewand.
Mit der zunehmenden Übernahme des Neoliberalismus (im Sinne von Marktradikalismus bzw. “Marktreligiosität”) und dem damit verbundenen Abschied vom Primat der Politik über die Wirtschaft wurde auch spürbar das oben erwähnte alte Freiheitsversprechen des bürgerlichen Republikanismus obsolet. Unter den Bedingungen einer Globalisierung von Wertschöpfungsketten und Profitmaximierung zeigte sich in den neunziger und frühen Zweitausender Jahren auch in Deutschland immer deutlicher, dass es innerhalb der besitzenden Klasse Gewinner und Verlierer dieser Entwicklung gibt und zunehmend geben wird: Und die Verlierer waren eben jene “Volkskapitalisten”, die sich Ludwig Erhard bei der von ihm betriebenen Durchsetzung der “sozialen Marktwirtschaft” vorgestellt hatte und die man heute gemeinhin als “Mittelstand” bezeichnet. Diese Situation führte in breiten Kreisen vor allem des unteren Mittelstandes zu einer diffusen Verunsicherung. Insbesondere die – vermeintlich – sichere Zukunft für die eigene Familie wird mehr und mehr in Frage gestellt. Wohin das führt, wenn gerade diese Schichten in derartige “Bewegung” geraten, wissen wir eigentlich alle, wenn wir die kollektive Erinnerung an die Jahre 1929 bis 1932 – bei aller Vorsicht, was historische Vergleiche betrifft – bemühen. Immerhin muss man dem “Kapitalismus in den Farben der BRD” zugutehalten, dass es, verglichen mit anderen Staaten Westeuropas, in Deutschland länger gedauert hat, bis dieses “Unbehagen” organisatorische Gestalt gewann.
Wenn man nachliest, was mit dem marktradikalen Neoliberalismus in seiner Theorie verbunden ist: hegemonialer Unilateralismus, Ablehnung internationaler Institutionen (Weltbank, UNO, EU), Ablehnung von Sozialstaatsprogrammen, radikale Steuersenkungen, Reduktion des Staates auf eine Art Universal-Risikoversicherung für die Wirtschaft, Privatisierung der allgemeinen Daseinsvorsorge (Energie, Wasser, Verkehr, vor allem aber Wohnen) etc., erscheinen die Parolen sogenannter “Rechtspopulisten” quer durch Europa und in den USA gar nicht mehr als so beliebig zusammengewürfelt und auch die Gegenstände der Brexit-Kampagne erscheinen plötzlich in einen größeren Zusammenhang gestellt. Natürlich mit den jeweiligen nationalen Arabesken, zum Beispiel in den alten kolonialen Mutterländern Frankreich, vor allem aber Großbritannien, die Trauer um den Untergang einstiger nationaler Größe und den Bedeutungsverlust.
All diese “rechtspopulistischen” Parteien, die in den letzten 30 Jahren entstanden sind (Lega Nord, UKIP, PiS, Fidesz, Pegida und AfD, entsprechend Tea Party) oder die sich entsprechend entwickelten (Frond National, FPÖ), zeichnen sich durch größte Nähe zur Neuen Rechten aus und haben den schweigenden “Neofaschismus der bürgerlichen Mitte” bis hin zum gewalttätigen Neofaschismus der Straße in sich aufgenommen. Insofern ist der Begriff “rechtspopulistisch” für all diese Leute furchtbar verharmlosend. Aber warum diese Kumpanei? Aus einer Betrachtung der inneren Widersprüche der bürgerlichen Klasse ergibt sich das nicht zwingend.
Den entscheidenden Fingerzeig für eine mögliche Erklärung lieferte für mich ein Zitat des österreichischen Ökonomen Stephan Schulmeister, der den marktradikalen Neoliberalismus als “das erfolgreichste Projekt der Gegen-Aufklärung” bezeichnete. Gegen-Aufklärung aber ist der verbindende Terminus von der Neuen Rechten bis hin zum diffus-verunsicherten Mittelstand, auch wenn sie diesen Begriff nie in den Mund nehmen. Stattdessen heißt es “links-rot-grün versifftes 68-Deutschland” (Jörg Meuthen), was man ablehne. Voraussetzung für die reibungslose Durchsetzung der eigenen volkswirtschaftlichen Vorstellungen ist in jedem Fall die Erlangung der kulturellen Hegemonie in der Gesellschaft. Da ist jeder Bündnispartner recht, und es ist offensichtlich so, dass man dazu allen Unflat aufsammeln und/oder neu beleben muss, den die bürgerliche Klasse in den letzten zweihundert Jahren zwar hervorbrachte (vor allem die Benennung von “Schuldigen”), aber schließlich mehrheitlich doch überwand.

Bleibt schließlich noch zu erörtern, warum denn nun die AfD – verglichen mit Westdeutschland (10-15 %) – ausgerechnet im Osten (15-25%) einen so großen Zulauf hat. Ein Umstand, der ganze Heerscharen von Hofastrologen und sonstigen Experten auf den Plan gerufen hat, die wieder, wie Anfang der 90er Jahre, den Osten und den Ostler “erklären”. Ich will nicht ungerecht sein: Insbesondere viele der soziologischen Untersuchungen und Annäherungen an das Phänomen, vor allem, wenn sie die Entwicklung der letzten 30 Jahre in der ehemaligen DDR als Schlaglichter thematisieren (Treuhand, Bischofferode, Rückübertragung, Hartz 4), erinnern an viele Enttäuschungen und Demütigungen, die “dem Ostler” durch die westdeutschen Kolonisatoren zugefügt wurden. Aber all diese klugen Analysen erklären bestimme Dinge, die mich umtreiben, eben nicht. Zum Beispiel: Warum rennen 75% der ostdeutschen Wähler diesen Rattenfängern nicht hinterher? Warum erfüllten die ersten Pegida- (oder Bergida-) Demonstranten das Klischee vom kleinbürgerlichen Vorstadtbewohner? Warum sind so viele Funktionsträger der AfD – zum Beispiel im Pankower Bezirksparlament – Kleinunternehmer, Lehrer oder Ärzte (abgesehen von dem üblichen irren Pflicht-Querulanten) – und sind und bleiben dabei doch relativ einfach strukturierte Personen?
Über die Entproletarisierung auch der sozialistischen Gesellschaft der DDR in Folge der 1971 beschlossenen “Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik” wurde meiner Erinnerung nach Mitte der 80er Jahre auch jenseits akademischer Zirkel, aber immer noch in geschlossenen Kreisen, erstmals gesprochen. Immerhin ist es für eine selbsterklärte “Diktatur der Arbeiterklasse” erheblich, wenn ihr unversehens der Diktator abhandenkommt. Man könnte ja auf den Gedanken kommen, dass so eine Gesellschaft unter der Hand zu einer “Diktatur der Partei der Arbeiterklasse” verkommen ist. Und so war’s dann ja auch. Jedenfalls waren zu DDR-Zeiten Unterhaltungen, gar Diskussionen zu diesem Thema heikel. Ich erinnere mich aber nicht, dass es unter den Bürgerbewegten der Jahre 89 und 90 eine Rolle gespielt hätte, aber vielleicht war mein Einblick auch zu begrenzt. Dreißig Jahre später glaube ich aber zu wissen, warum der Aufruf für die Bildung einer unabhängigen Gewerkschaft, den Heiner Müller auf der großen Demonstration am 4. November 1989 in Berlin verlesen hat, so wenig Zuspruch fand: Freie gewerkschaftliche Selbstorganisation erschien niemandem mehr nötig. Weil es auf dieser Demonstration nach eigenem Selbstverständnis keine Arbeiter gab? Oder es keiner mehr sein wollte? Vielleicht.
Ich glaube, der Zeitversatz, mit dem sich diese Entwicklung (der Entproletarisierung) in beiden deutschen Staaten vollzog, unabhängig von den Mechanismen, wie und aus welchen Gründen sie sich vollzog, sind der Grund für den Zulauf der AfD. Denn bei nüchterner Betrachtung braucht es eine, eigentlich zwei Generationen, um sich bzw. die eigene Familie in diesem “Mittelstand” westdeutscher Prägung zu verankern. Denn alle, die sich, zum Beispiel, auf “Unternehmens”gründungen” (Ich-AG) einließen, sahen sich schon bald wieder von einer Reproletarisierung “bedroht”, vor allem durch den Zusammenbruch der Finanzmärkte im Jahre 2008, weil es plötzlich gerade für Kleinunternehmen keine Arbeitskredite mehr gab. Noch immer kein “Volkskapitalist” im Erhardschen Sinne, drohte ihr Traum nach zehn oder fünfzehn Jahren schon wieder vorbei zu sein. Und dem, der hier mit einfachen Schuldigen schnell zur Hand ist, der EU, der “Elite”, der “Lügenpresse”, den “Fremden”, den Andersgläubigen, den anders Liebenden, den Andersdenkenden, folgt man – wieder einmal – besinnungslos. Es ist in der Tat obszön und bester Ausdruck der Umwertung aller Werte, wenn die brandenburgische AfD im aktuellen Wahlkampf “Die Wende vollenden” plakatiert. (Ich gebe zu, die Sache mit der “Lügenpresse” ärgert mich besonders: Wer zwanzig Jahre “Super-Illu” liest und dann von “Lügenpresse” krakelt, ist wirklich nicht mehr zurechnungsfähig!)
Es gibt aber noch ein anderes Indiz, das nicht unerwähnt bleiben darf. Anfang der 90er Jahre haben wir aus Antifa-Zusammenhängen heraus eine Bilanz über die neofaschistische Organisierung in Deutschland und erstmals auch in der untergegangenen DDR vorgelegt. Darin findet sich eine Karte über die Zentren dieser Organisierung in der ehemaligen DDR. Vergleicht man diese Karte mit den höchsten Wahlergebnissen der AfD, fällt eine bemerkenswerte Überschneidung ins Auge. Auch “Faschos” sind mittlerweile 30 Jahre älter geworden. Insofern ist hier von Regionen mit Bewohnern mit einem verfestigten, neofaschistischem Weltbild auszugehen.

Blicke ich zurück, ärgern mich die praktischen Versäumnisse, vor allem aber auch die Versäumnisse in der abstrakten Durchdringung dessen, was auf dieser Welt stattfindet. Wir haben uns in Nebenwidersprüchen verzettelt! Wir hatten das intellektuelle Handwerkzeug, um es besser zu machen, aber wir waren zu sehr mit uns selbst beschäftigt. Das macht schon zornig.

Wolfram Kempe war 1990 Mitgründer der Zeitung Der Anzeiger, er lebt als Autor in Berlin.