„Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“

Betrachtet man den staatliche Angriff auf das linke, politische Nachrichten-Netzwerk Indymedia.linksunten sind Parallelen zur staatlichen Repression in der DDR auf Medien der Opposition im Jahre 1987 feststellbar.

Von Peter Nowak und Dietmar Wolf

(Aus telegraph telegraph #135/136. telegraph bestellen)

Wenn in diesem Jahr 30 Jahre Fall der Berliner Mauer gefeiert wird, werden pathetische Reden über den Sieg von Freiheit und Demokratie über die SED-Diktatur nicht fehlen. Unter den Tisch fällt, dass es eine Kontinuität von Verfolgung gibt, welche die Law-and-Order-Politiker*innen der ehemaligen DDR mit denen verbindet, für die auch heute gewisse oppositionelle Bewegungen und Medien ein Fall für den Verfassungsschutz, Polizei und Justiz sind.

In der Nacht zum 25. November 1987 drangen Mitarbeiter der Staatssicherheit und des Generalstaatsanwalts in die Druckräume der Umwelt-Bibliothek (UB) ein. Zu dieser Zeit wurde gerade eine neue Ausgabe der Umweltblätter produziert. Die Druckmaschinen wurden konfisziert und alle Anwesenden festgenommen. Die ursprüngliche Planung, die Drucker bei der Herstellung des neuen Grenzfalls, einer von der Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM) herausgegebene Publikation, zu überrumpeln, ging nicht auf. Dem MfS war durch ihre zahlreichen IM bekannt, dass die Redaktionen der Umweltblätter und der Grenzfall kooperierten – zuweilen auch bei der technischen Herstellung der Zeitschriften. Nachdem die Sicherheitsorgane zwecks Beendigung der Publikationstätigkeit des von jungen Oppositionellen herausgegebenen Periodikums Grenzfall im Oktober 1987 ursprünglich noch erwogen hatten, die Drucker bei der Herstellung des Blattes in einer Privatwohnung zu ertappen und mit moderaten Ordnungsstrafen abzufertigen, begannen schließlich die Vorbereitungen für die sehr viel weiter ausgreifende „Aktion Falle“: Die Grenzfall-Drucker sollten veranlasst werden, den Abzug ihrer nächsten Ausgabe, wie schon einige Male zuvor, wieder in der Umwelt-Bibliothek auszuführen, um sie dort „auf frischer Tat“ festzunehmen und im gleichen „Aufwasch“ damit auch die Umweltblätter zu kriminalisieren.2
Da ein Auto nicht ansprang, kamen die Grenzfall-Redakteure nicht wie vereinbart in die UB. Somit beschlossen die Drucker den geplanten Druck des Grenzfalls zu verschieben. Als die Stasi die Druckerei stürmte, fand sie daher lediglich UB-Redakteure beim Druck der Umweltblätter vor. Die anwesenden Redakteure und Mitarbeiter der Umweltblätter werden festgenommen. Sämtliche Druckmaschinen wurden beschlagnahmt, dabei handelte es sich um Wachsmatrizenmaschinen der Jahrgänge 1900, 1936, 1953, 1970. Auch die gerade gedruckte Seite 28 der Umweltblätter und eine nicht fertiggestellte Ausgabe der Umweltblätter und eine nicht fertiggestellte Ausgabe der Zeitschrift Grenzfall Nr.11 werden von den Organen der Staatssicherheit beschlagnahmt.

Solidarisierung mit der Umwelt-Bibliothek

Bis zum nächsten Abend werden fünf der Festgenommenen wieder freigelassen. Wenn es das Kalkül der Staatsmacht war, mit der Razzia die Opposition zu lähmen, hatte sie sich verrechnet. Vielmehr kommt es nach der Stasiaktion gegen die „Druckerei der Berliner Opposition“ zu bis dahin nicht für möglich gehaltenen öffentlichen Protestaktionen innerhalb und außerhalb der DDR. Dabei stand nicht zufällig die Zionskirche im Mittelpunkt. Dort fand ein Monat vor der Razzia das Konzert der oppositionellen Szene stand, das unter den Augen der Stasi und Volkspolizei von Nazi-Skins überfallen wurde. Der Faschoangriff in Ostberlin sorgte auch im Ausland für Aufmerksamkeit und kratzte das antifaschistische Image der DDR an, um das die Staatsführung bemüht war. Auch die Razzia der Umwelt-Bibliothek lähmte die linke Opposition in der DDR nicht, sondern euphorisierte sie, wie es ein Beteiligter später ausdrückte.

Die Berliner Basisgruppenvertreter riefen zu einer Protestkundgebung auf dem Zionskirchplatz auf. Nach Polizeidrohungen und ersten Festnahmen zogen sich dieTeilnehmer*innen in die Kirche zurück. Daraufhin bildeten die 200 Teilnehmer der Andacht in der Zionskirche die erste Mahnwache auf freiem Gelände vor der Kirche. Sie forderte die sofortige Freilassung der Inhaftierten, die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Umwelt-Bibliothek und die Einstellung von Repressalien gegen kritische Bürger. Sie wurde umgehend durch die Volkspolizei (VP) „zugeführt“, woraufhin die nachfolgenden Mahnwachen in Kirchentürnähe stattfanden und sich die Beteiligten in die Kirche zurückzogen, wenn sich die Volkspolizei näherte.
Ein Zeitzeuge beschreibt später die Stimmung:
„Ich erfahre von der Inhaftierung am nächsten Tag und mache mich gleich nach Feierabend auf den Weg zur Zionskirche. Dort angekommen befinden sich schon eine Menge Leute in und vor der Kirche. In sicherer Entfernung patrouillieren Volkspolizisten und Herren in Zivil. Aussehen und Verhalten lassen auf auffällig unauffällige Stasi-Leute schließen. Es könnten natürlich auch Zivilpolizisten gewesen sein, oder beides. Auch in den Gemeinderäumen und der UB ist reges Treiben. Zwischen Gemeindehaus und Kirchplatz wuselt es hin und her. Die umliegenden Bewohner des Zionskirchplatzes und der angrenzenden Straßen bringen Essen und Trinken, sprechen ihre Anteilnahme aus. Trotz des traurigen Anlasses bin ich euphorisiert. Derartiges habe ich bis dahin noch nicht erlebt. Mein Entschluss, Teil der DDR-Oppositionsbewegung zu werden, manifestiert sich in diesen Tagen des Offenen Widerstandes gegen die staatliche Repression der SED. In den folgenden Tagen nimmt die Solidarität der Menschen weiter zu. Eine Welle der Sympathie und der Solidarität schwappt durch das ganze Land. Die Umwelt-Bibliothek und die Zionskirche werden innerhalb kürzester Zeit erneut landesweit bekannt. Dafür sorgen natürlich auch die Westmedien, gefüttert mit Informationen aus dem Osten.
Nach einer Woche werden alle Inhaftierten entlassen. Am gleichen Abend findet eine Art Siegesveranstaltung in der Zionskirche statt.“3
Die oppositionellen Medien, die eigentlich mit der Razzia unterdrückt werden sollten, standen danach auch technisch wesentlich besser da.
Neue Ausgaben der Umweltblätter erschienen danach weiter kontinuierlich, auch weil Vervielfältigungsmaschinen sowie neueste Technik, wie ein grafikfähiger Computer Amiga 2000, aus dem Westen gespendet wurden. In der Umwelt-Bibliothek wurden Oppositionelle in die Bedienung von Computern eingewiesen. Neben Textverarbeitung und besseren Gestaltungsmöglichkeiten faszinierte vor allem der Nadeldrucker. Mit seiner Hilfe konnten Matrizen erstellt werden. Auflage und Umfang der Umweltblätter stiegen und in der UB wurde nun auch für andere Gruppen gedruckt. Es entstand ein kleiner Untergrundverlag mit angeschlossener Druckerei. Die Unterstützung aus dem Westen kam aus Teilen der außerparlamentarischen Linken, die ein Jahr später auch bei den IWF-Protesten im Herbst 1988 mit den unabhängigen Linken im Osten kooperierten. So könnte man auch die bessere Kooperation als eine unbeabsichtigte Folge der Razzia bezeichnen. Eine massive Protestbewegung legte in den Tagen Westberlin lahm… Was weniger bekannt ist. DieOrganisator*innen des IWF hatten auch in Ostberlin Hotels und Schlafplätze für die Kongressteilnehmer*innen reserviert. Und es gab auch dort Anti-IWF-Proteste von oppositionellen Linken. Schließlich konnte hier besonders gut die Heuchelei der herrschenden SED aufgezeigt werden, die sich propagandistisch auf die Seite der IWF-Kritiker*innen stellte und natürlich nicht auf die Devisen der IWF-Teilnehmer*innen verzichten wollte. Dass fast ein Jahr nach der Razzia der UB die oppositionelle Linke Ostberlins in Kooperation mit Gleichgesinnten im Westen die Proteste mitorganisieren konnte, zeigte deutlich, dass das Kalkül der DDR-Repressionsorgane nicht aufgegangen ist. Man kann die Erfolgsserie der Ostberliner oppositionellen Medien bis ins Jahr 2019 fortschreiben. Denn den aus den Umweltblättern hervorgegangenen „telegraph“ gibt es schließlich heute noch, sonst könnten Sie diesen Artikel nicht lesen.

„Die Bewegung blieb auf halbem Weg stehen“

Doch kann man die Ereignisse nach der Razzia auch als eine Niederlage sehen, wenn man den Fokus auf die Rolle der oppositionellen Linken in den Umwälzungen lenkt, die schließlich nur zwei Jahre später die SED-Nomenklatura auf den Müllhaufen der Geschichte beförderte?
Der schon zitierte Zeitzeuge schreib: „… Die Forderungen nach Rückgabe der beschlagnahmten Sachen und nach demokratischen Grundrechten bleiben jedoch unerfüllt. Bei mir macht sich neben der Freude auch Enttäuschung breit. Aufrufe weiter zu kämpfen, bis alle Forderungen erfüllt sind, bleiben vereinzelt und ungehört. Die Bewegung bleibt auf halbem Weg stehen und begnügt sich mit dem Erreichten.“4
Bereits im September 1989, als sich die Umbrüche deutlich abzeichneten, fand sich ein Text, der sich heute gelesen, ungemein prophetisch liest:
„… Die SED hat zustande gebracht, was kapitalistischen Ideologen nie gelungen ist. Indem sie behauptete, ihre Behördendiktatur sei der einzige Weg zum Sozialismus, wurde die Idee des Sozialismus bei der Bevölkerung der DDR völlig diskreditiert. Diese Art von Politik steht jetzt vor ihrem politischen und wirtschaftlichen Bankrott. … Längst werden von den Herrschenden die Standards nur noch durch den Ausverkauf des Landes gehalten: Billiglohnarbeit für kapitalistische Firmen oder zum Dumping auf dem kapitalistischen Weltmarkt, Giftmüllimport im großen Maßstab aus ganz Westeuropa, … Wir haben in der Vergangenheit … oft genug zu einer Umkehr zu einem echten, freiheitlichen Sozialismus aufgerufen. … Wir sehen, dass die zweite große Bevölkerungsbewegung im Land neben der Ausreisebewegung nicht eine ist, die auf Emanzipation drängt. Latent und manifest fassen in immer weiteren Teilen der Bevölkerung rechte Ideen Fuß. … Statt Gesellschaft als soziale Verbindung und Freiheit wiederherzustellen, grenzen sich Deutsche von Ausländern ab und rekultivieren den Hass auf Fremdgruppen. … Wir fordern die Menschen des Landes auf, sich zu einer Kraft zu sammeln, die solche Entwicklungen aufhalten kann.“

Hier wird nicht nur die Verantwortung der SED-Führung genannt. Es wird auch schon eine Entwicklung nach rechts benannt, die im November 1989 in deutschnationalen Aufmärschen mit schwarz-rot-goldenem Farbenmeer in Leipzig und Dresden kulminierten, wo es nicht mehr um Freiheit, Gerechtigkeit und Emanzipation, sondern um Deutschland ging. Dieser Teil der Geschichte ist es, der auch in diesem Jahr rund um den Jahrestag des Mauerfalls wieder gefeiert wird. Die unabhängige Linke in Ost und West ist dort nicht eingeladen und genau das sollte sie als Auszeichnung begreifen. Sie blieb auch in Deutschland das, was sie schon in der DDR und der BRD war: Unregierbar. Mit ihnen war und ist kein Staat zu machen. Und sie sollten auch unter den neuen Verhältnissen die Repression zu spüren bekommen, wie im Editorial des telegraph 115 aus dem Jahr 2007 nachzulesen ist:
„Am 31. Juli 2007 dringen bewaffnete Spezialeinsatzkommandos gewaltsam in mehrere Wohnungen ein. Die Zeitschrift telegraph, wie die Umweltblätter seit Herbst 1989 heißen,  ist erneut ins Visier der Staatssicherheit, diesmal jedoch ihrer gesamtdeutschen Ausgabe, geraten: Drei langjährige Redakteure und Autoren und ein Unterstützer der Zeitschrift sind von Ermittlungsverfahren, Hausdurchsuchungen und  im Fall des Soziologen Andrej Holm  von wochenlanger Haft betroffen, zwei weitere Redakteure, einer mit längerer Stasi-Hafterfahrung, wurden als Zeugen von der Bundesanwaltschaft vorgeladen und mit Geldstrafen und Beugehaft bedroht. Der Vorwurf diesmal: § 129a – Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Dieser Paragraph ist der Schlüssel zum Gruselkabinett eines totalen Überwachungsstaates: Er öffnet den Ermittlungsbehörden dieses Landes die Tür zur gesamten Palette von Observations- und Kontrollmaßnahmen gegen die politische Opposition, teilweise zu Methoden, von denen die DDR-Staatssicherheit nur träumen konnte: GPS-Wanzen am Auto, stündlich zugesandte stumme SMS aufs Handy, Überwachungskameras rund ums Wohnhaus,  Überwachung des Surfverhaltens im Internet, Speicherung und Auswertung der Emails, Observationen, Überprüfung des Freundeskreises  und vieler weiterer Personen (in den bisher freigegebenen Ermittlungsakten tauchen Namen von 2.000 (!) Menschen auf) – das volle Programm, rund um die Uhr.
In mindestens einem Fall, so ist aus dem Kreis der Betroffenen zu hören, wären auch die persönlichen Stasi-Opferakten zur Erstellung eines aktuellen Personenprofils herangezogen worden – die Akten eines DDR-Oppositionellen, der 1988 zu jenen Organisatoren gehörte, die auch im Osten erfolgreich gegen den Westberliner IWF- und Weltbankgipfel mobilisierten. Das BKA habe versucht, mit Hilfe der Arbeit ihrer Kollegen von der DDR-Staatssicherheit zu belegen, dass ja schon damals Kontakt zu „terroristischen Kreisen“ im Westen bestanden hätte. Im konkret angeführten Fall meinte die Stasi damit übrigens die Umweltorganisation GREENPEACE.5
Und auch im Jahr 2019 gibt es in Deutschland Repression gegen linke Medien, auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen.Seit nunmehr zwei Jahren ist ein linkspluralistisches Onlinemagazin verboten. Nicht in der Türkei, in Kuba, Russland oder Venezuela. In Deutschland ist die Online-Plattform indymedia.linksunten seit Ende August 2017 abgeschaltet. Die staatliche Maßnahme war erklärtermaßen eine Reaktion auf die teilweise militanten Proteste gegen den G20-Event in Hamburg im vorletzten Jahr. Danach wurden zahlreiche linke oder alternative Zentren und Einrichtungen von Medien und Politiker*nnen an den Pranger gestellt. Nur stellte sich heraus, dass die meisten rechtlich nicht so einfach abzuräumen sind. Daher war das Linksunten-Verbot auch ein Symbol der Politik, sie reden nicht nur über Repression, sie handeln auch. Im Übrigen sollte hier nicht das Vorurteil bedient werden, dass die Repression immer schlimmer wird. Das ist keine lineare Entwicklung. Es sei nur daran erinnert, dass während der Anti-AKW-Proteste in den 1980er Jahren in der BRD immer wieder Publikationen dieser Bewegung beschlagnahmt und verboten wurden. Damals gab es auch Razzien in Infoläden und Asten, die die Publikationen ausgelegt und unterstützt haben, aber auch in Druckereien, in denen sie hergestellt wurden. Die Berichte darüber sind denen sehr ähnlich, die wir im vorigen Teil über die Razzia gegen die Umwelt-Bibliothek gelesen haben. Heute wird eben für ein Onlinemagazin ein Verein konstruiert, der dann verboten wird. Endgültig über die Rechtmäßigkeit des Verbots ist noch nicht entschieden, die Prozesse stehen noch aus. Doch das Verbot war sofort vollziehbar und so ist in Deutschland seit über zwei Jahren ein Organ des linken Medienpluralismus abgeschaltet, das in der Hochzeit der globalisierungskritischen Bewegung entstanden ist. 

Kurze Geschichte des Medienaktivismus

Ende der 1990er Jahre entstand eine neue transnationale Linke, die die bleierne Zeit des TINA-Denkens, nach dem Ende der sogenannten Blockkonfrontation durchbrochen hat. Dieses Denken besagte, dass der Kapitalismus gesiegt hat und damit die Geschichte zu Ende sei. Also könnte höchstens noch über die reformerische Ausgestaltung des Kapitalismus gestritten werden. Doch mit der „Battle von Seattle“, als Tausende Menschen in den USA vom 30. November – 1. Dezember 1999 gegen das WTO-Treffen in der USA-Universitätsstadt auf die Straße gingen, war der Beginn eines transnationalen Kampfzyklus eingeleitet, der eng mit dem Medienaktivismus verbunden war. In den Protesten von Seattle wurde die internationale Onlineplattform Indymedia geboren. Natürlich war sie ein Ausdruck der technischen Möglichkeit via Internet zu kommunizieren. Doch für die globalisierungskritischen Aktivist*innen bedeutete Indymedia, dass sie selber nun gleichzeitig Sender*innen und Empfänger*innen sein konnten.

Die Verheißung von Indymedia

Im Grunde bestand damals die Hoffnung, die Filterfunktion der Medien überflüssig zu machen. Nie wieder wollte man nach den liberalen Journalist*innen suchen, wenn es um die Verbreitung des eigenen politischen Anliegens geht. Das war die Verheißung, die von Indymedia ausgegangen ist.
So konnten eine erfolgreiche Blockade, eine Plakataktion, aber auch Beispiele für Polizeirepression mit Foto und Text, um die Welt geschickt werden und es gab auf allen Kontinenten Menschen, die das Minuten später gelesen und auch darauf reagiert haben. Wenn bekannt wurde, dass in einem Land Menschen bei Protesten verletzt oder verhaftet wurden, dann gab es in vielen Ländern oft schon wenige Stunden späte Proteste vor Botschaften und Konsulaten dieser Länder. So wurde Indymedia nicht nur ein Informationsorgan, sondern auch ein Organ der Organisierung und Solidarität. Genau das bedeutete der Begriff Medienaktivismus; und der war schneller als es auch wohlmeinende Journalist*innen von Printmedien sein konnten. Natürlich war klar, dass die Staatsapparate auf diese neuen Formen des Medienaktivismus reagieren würden.
Bereits im Juli 2001, anlässlich des G8-Gipfels in Genua, gab es einen massiven Repressionsschlag der italienischen Staatsapparate gegen Indymedia-Aktivist*innen in der Diaz-Schule. Es gab Massenfestnahmen und zahlreiche Protestierende wurden von der Polizei misshandelt und schwer verletzt. Damals solidarisierten sich weltweit viele Menschen und Organisationen mit Indymedia. In vielen Ländern gab es Proteste vor italienischen Botschaften und Konsulaten. Auf jeden Angriff auf Indymedia-Einrichtungen und Aktivist*innen folgte damals eine transnationale Solidarität.
Doch schon bald sollte sich zeigen, dass manche Hoffnungen, die in der Anfangsphase mit Indymedia verbunden wurden, naiv waren. Ein Medium, in dem Sender*innen und Empfänger*innen zusammenfallen, kann auch schnell zur medialen Müllhalde werden. Internettrolle können dort jede sinnvolle Debatte verhindern. So gab es bald Indymedia-Aktivist*innen, die auf eine stärkere Moderation drängten. Es war die Geburtsstelle von Indymedia-Linksunten. Anlässlich der transnationalen Mobilisierung gegen den Natogipfel in Straßburg und Kehl im Jahr 2009 wurde schließlich Indymedia-Linksunten gegründet. Es wurde von vielen Aktivist*innen genutzt, weil es durch eine striktere Moderation besser lesbar war. Es ist kein Zufall, dass der Repressionsschlag genau dieses Medium traf. Juristisch fällt das Verbot noch hinter die Zensurgesetze der Bismarck-Zeit zurück. Damals gab es sogenannte Sitzredakteure, die so genannt wurden, weil sie als presserechtlich Verantwortliche für Zeitungen in den Knast kamen, wenn dort ein Artikel veröffentlicht wurde, der der Obrigkeit nicht gefiel. Bei der Wahl der Sitzredakteure, es waren damals immer Männer, wählte man die ohne Familie aus, die eine mehrmonatige Inhaftierung nicht gleich in große Not stürzt. Der Anarchist Gustav Landauer war Ende des 19. Jahrhunderts ein solcher Sitzredakteur für die Presse der libertären Bewegung. Die Zensurgesetze vieler Länder sahen auch vor, dass die schon gesetzten Seiten vor dem Druck einem Zensurbeamten vorgelegt werden mussten, der die Veröffentlichung von Artikeln untersagen konnte. Mit dem Verbot von Indymedia-Linksunten wird aber nicht angeordnet, dass veröffentliche Texte vorher einer Zensurbehörde vorgelegt werden müssen. Es wird gleich das ganze Medium verboten.
Trotzdem blieb eine Solidarität, wie sie noch beim Repressionsschlag gegen Indymedia 2001 in Genua zu verzeichnen war, beim indymedia.linksunten-Verbot weitgehend aus, in Deutschland und international. 

Das Schweigen der Prantls und Roths dieser Republik

Auch von den linksliberalen und gewerkschaftlichen Spektren in Deutschland gab es nur wenige kritische Reaktionen, sieht man von einer kritischen Presseerklärung der Organisation Reporter ohne Grenzen und einigen Artikel in liberalen Medien wie der „Zeit“ ab. Wäre eine kritische Online-Plattform in Venezuela, Russland oder Kuba abgeschaltet worden, wäre die Zahl der Kritiker*innen hierzulande vermutlich groß, die Pressefreiheit anmahnen würden. Doch, wenn in Deutschland eine linke Onlineplattform abgeschaltet wird, schweigen die Heribert Prantls und Claudia Roths dieser Republik, die sonst dauerempört über all die Übel dieser Welt lamentieren. Ein Grund dafür liegt in der Einteilung in Medienaktivist*innen und „richtige Journalist*innen“. So mussten die Kolleg*innen, die bei den G20-Protesten in Hamburg die Akkreditierung verloren oder gar nicht erst bekamen, immer betonen, dass sie eben ‚richtige’ Journalist*innen und keineswegs Medienaktivist*innen sind, um als Opfer von staatlicher Repression anerkannt zu werden. Gerade die linksliberale Kritik verlangt „richtige“, d.h. durch Staatsapparate beglaubigte und durch Presseausweise legitimierte Journalist*innen. Wer eine solche Legitimation nicht besitzt, hat oft wenige Chancen, Gegenstand linksliberaler Solidarität zu werden, wenn er nicht in Kuba, Venezuela oder Russland aktiv ist. Viele der in diesen Ländern verfolgten Journalist*innen sind Medienaktivist*innen, übrigens auch der von dem saudi-arabischen Staatsapparat ermordete Jamal Khassoggi, der für islamistische Organisationen tätig war, die in Opposition zum saudischen Staatsislamismus stehen. Doch, wenn sich in Deutschland Journalist*innen auch als Medienaktivist*innen verstehen, wird die Solidarität schnell verweigert.

Kein Kuscheln von Medien und Staatsapparaten

In die Kritik würden wir auch die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) bei ver.di mit einbeziehen, die DGB-gewerkschaftliche Interessenvertretung von Journalist*innen. Dazu wurde auf dem Journalist*innentag der DJU 2018 ein Kritikpapier unter dem Titel „Kein Kuscheln mit dem Gewaltapparat“ verteilt, das auf labournet.de nachlesbar ist.6 Es geht dort besonders um das Schweigen der Medien in Bezug auf das Linksunten-Verbot, aber auch in Bezug auf andere Staatsrepression nach dem G20-Gipfel. Es ist unseres Wissens nach das einzige Kritikpapier, das diesen Aspekt ohne moralisierende Anklage beleuchtet. Zum indymedia.linksunten-Verbot heißt es dort: „Schwer von Begriff ist der Großteil der deutschen Presse auch in Sachen indymedia.linksunten-Verbot. Das Innenministerium konstruiert einen inoffiziellen Verein hinter diesem Portal und verbietet den – das kann es mit jedem Internetauftritt machen, denn das Vereinsgesetz erlaubt das! Indymedia ist ein Medium. Es stellt eine Plattform zum Zweck der Publizistik zur Verfügung. indymedia.linksunten hat im Laufe der Jahre schon mit Enthüllungen von sich reden gemacht. Für ein Online-Medium gilt das Telemediengesetz, das besagt, dass das Medium auf rechtswidrige Inhalte hingewiesen werden muss, bevor sie ihm zur Last gelegt werden können. Das ist nicht geschehen.“ 
Die Staatsapparate sind im Fall von indymedia.linksunten gar nicht erst in Erklärungsnöte gekommen, weil die Proteste gegen das Verbot so klein geblieben sind. Anders als die Razzia bei der Umwelt-Bibliothek hat die Repression die linke Bewegung nicht euphorisiert, sondern eher gelähmt. Indymedia-Linksunten ist weiter abgeschaltet, auch wenn Mitte August 2019, die Strafverfahren gegen Linke aus Freiburg eingestellt wurden, die beschuldigt wurden, Mitglieder des Vereins Indymedia-Linksunten zu sein. Dass Verbot der Plattform ist allerdings genau weiterhin in Kraft, wie auch gegen einige der wenigen Unterstützer*innen Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. Das ist kein gutes Zeichen, wenn man bedenkt, dass in Zukunft die Grenzen der Legalität noch enger gezogen werden könnten. So könnte den Staatsorganen heute gelingen, was ihnen in der DDR nicht gelungen ist. Aber es liegt auch an uns, den unabhängigen Linken.

1 Rosa Luxemburgs berühmteste Schrift „Die Russische Revolution“
2 Unter Verwendung von: Explosive Texte – Gegenöffentlichkeit und kritischer Diskurs – von den Umweltblättern zum telegraph, Von Dirk Teschner,
http://umwelt-bibliothek.de/umweltblaetter.html
3 aus: “Dietmar Wolf – Die Berliner Umwelt-Bibliothek – Links, anarchistisch und auch immer ein wenig chaotisch“, http://umwelt-bibliothek.de/umwelt-bibliothek.html
4 aus: “Dietmar Wolf – Die Berliner Umwelt-Bibliothek – Links, anarchistisch und auch immer ein wenig chaotisch“, http://umwelt-bibliothek.de/umwelt-bibliothek.html
5 Editorial telegraph #115_2007,
http://telegraph.cc/archiv/telegraph-115/editorial-telegraph-115/
6 www.labournet.de/wp-content/uploads/2018/01/dju_tag2018.pdf

Peter Nowak ist Journalist, dokumentiert seine Texte auf http://peter-nowak-journalist.de und hat auf der Plattform indymedia.linksunten Texte namentlich veröffentlicht und sich gemeinsam mit Detlef Georgia Schulze und Joachim Schill nach dem Verbot dazu bekannt. Gegen sie hat die Justiz ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Der Aufruf, sich zu bekennen, richtet sich weiterhin an Gruppen und Einzelpersonen. Weitere Infos hier: http://systemcrashundtatbeilinksunten.blogsport.eu/category/von-uns-bei-linksunten/nowakschillschulze-bei-linksunten/

Dietmar Wolf ist Redakteur der Zeitschrift telegraph.

(Aus telegraph telegraph #135/136. telegraph bestellen)