Editorial

Ende Gelände?

(Aus telegraph telegraph #137/138. telegraph bestellen)

Das Gelände bewegt sich. Gleichgewichte definieren sich plötzlich anders und alte Orientierungen werden zu Stolperfallen. Merkwürdige neue Allianzen entstehen. Alte Gewissheiten führen in statische Kreisläufe. Was ist los?

Die alte radikale Linke kommt nicht mehr mit. Die neuen „Normalzustände“ überfordern ihren Orientierungssinn. Eine neue radikale Linke ist nicht in Sicht. Das Sichtfeld bestimmen stattdessen diverse um abgrenzende Alleinstellungsmerkmale ringende konkurrierende „Linksidentitäre“, deren Blick scheuklappenbegrenzt und argwöhnisch den „linken Nachbarn“ abschätzt und die überall „Verrat“ wittern. Der verzweifelte Ruf „Alle Kämpfe gehören zusammen“ signalisiert im Gegenteil vor allem die Unfähigkeit, Bündnispotentiale und Kompromissfelder auszumachen und den Versuch, dieses Defizit durch aggressive Gemeinschaftsvergewisserung und entschlossene Kritikabwehr auszugleichen.

Manche verunsicherte Alt-Linke wollen in dieser neuen Unübersichtlichkeit ihr Heil in der Flucht zurück zum Denken im Zeichen bewährter alter Frontstellungen suchen, die längst nicht mehr existieren. Folgt man andererseits den Debatten über Identitätspolitik in der Öffentlichkeit, könnte man tatsächlich den Eindruck gewinnen, die heutige Identitätspolitik vereine nicht, sondern spalte, ziele auf den Universalismusanspruch der alten Linken und führe zunehmend zu Tribalismus: Schwarze und Muslime gegen Juden, Frauen oder Homosexuelle, Queer und Trans gegen Feministinnen, Weiße working class gegen Migranten, urbane Westlinke gegen Ost-„Prolls“ und -Kleinbürger. Der Wesenskern linker Politik, nämlich die Frage danach, wie sich gegen private Aneignung und für Vergesellschaftung von Eigentum gesellschaftlicher Reichtum gerecht verteilen lässt, trete unter vielen jungen Linken heute fast gänzlich in den Hintergrund. Stattdessen definierten sie sich über kulturelle und identitätspolitische Themen. Das zentrale progressive Anliegen sei mittlerweile die unbedingte Gleichstellung von Minderheiten. So erhielten jene postmodernen Linken im Tausch „Klassenpolitik gegen Identitätspolitik“ den Lohn der Teilhabe am System, werde zunehmend zur Avantgarde des globalistischen Bürgertums und merke es noch nicht einmal.

Manche Verteidiger der Identitätspolitik räumen mittlerweile selbst ein, dass zwar der ursprüngliche Impuls vieler identitätspolitischer sozialer Bewegungen durchaus auf die gesamte Gesellschaft abzielte, heute aber zunehmend zum Selbstzweck werde und damit diesen gesamtgesellschaftlichen Impuls verlöre.

Mit Recht wehren sich Menschen gegen Unterdrückung, Benachteiligung, Ausgrenzung, Ungleichbehandlung und Herabwürdigung. Der Zusammenschluss von Menschen mit ähnlichen Diskriminierungserfahrungen stärkt die eigene und schafft eine positive soziale Identität. In nicht-wohlwollendem oder gar feindseligem Umfeld ist dies für die Selbstverständigung und Selbststärkung eine notwendige, manchmal überlebensnotwendige Entwicklung. Und doch kann es nur eine Zwischenphase sein. Was für den Einzelnen gilt, gilt auch für die vielen Klein- und Großgruppen, die für ihre Partikularinteressen kämpfen:

„Allein machen sie dich ein
Schmeissen sie dich raus, lachen sie dich aus
Und wenn du was dagegen machst
Sperr’n se dich in den nächsten Knast

Zu zweit, zu dritt, zu viern
Wird auch nix and’res passiern
Sie werden ihre Knüppel hol’n
Und uns ganz schön das Kreuz versohlen

Zu hundert oder tausend kriegen sie langsam Ohrensausen
Sie werden zwar sagen: „Das ist nicht viel“
Aber tausend sind auch kein Pappenstiel
Und was nicht ist, das kann noch werden
Wir können uns ganz schnell vermehren
In dem Land, in dem wir wohnen
Sind aber ’n paar Millionen
Wenn wir uns erstmal einig sind
Weht, glaub ich, ’n ganz anderer Wind
Dann werden se nicht mehr lachen
Sondern sich auf die Socken machen

Und du weißt, das wird passieren
Wenn wir uns organisieren…“

(Ton Steine Scherben – Allein machen sie Dich ein – 1972)

Das Ende von Ausbeutung, Unterdrückung und Diskriminierung als ökonomisches oder gesellschaftliches System wird nicht durch Abgrenzung, Rückzug auf das Eigene, einer freiwilligen manchmal trotzigen Reduktion auf die „Besonderheit“, das „Alleinstellungsmerkmal“, die „Identität“ der eigenen Gruppe erreicht, nicht durch Abwertung der anderen Gruppen oder den Versuchen, diesen die eigenen Ansichten, die eigene Sprache, die eigenen Codes aufzuzwingen. Es scheint: Nur Kritik, Auseinandersetzung, Verständigung über die Differenzen und die Suche nach Gemeinsamkeiten und übergeordneten Zielen, in denen die eigenen aufgehoben sind, werden die notwendigen Zusammenschlüsse ermöglichen, um dem kapitalistischen System den Garaus zu machen.

Auf US-Amerikanisch: Der rechtspopulistische Chefstratege Steve Bannon spekulierte noch kurz nach seinem Rauswurf aus der Trump Administration: „Wenn sich die Linke auf ´race and identity´ konzentriert und wir uns dem Wirtschaftsnationalismus anschließen, können wir die Demokraten vernichten.“ [1]

Was tun? Unser Autor Gerhard Hanloser versucht sich an die gegenwärtigen widersprüchlichen Charakteristika linker identitätspolitischer Autosuggestion heranzutasten.

Das „New Normal“ zeitigt aber auch auf der Gegenseite, den Kommandohöhen des real existierenden Kapitalismus, vergleichbar hilflose Ausweichbewegungen. Besonders gut lässt sich das in den USA beobachten. Über die Wahlniederlage Trumps jubelten hierzulande auch viele Linke. Doch ist das Ende der Ära Trump bereits mehr als eine Vorentscheidung des Kampfes der Neoliberalen gegen die rechtspopulistischen Verächter eines globalen, weltoffenen kapitalistischen Ausbeutungsregimes? Wie das neoliberale Establishment nach seinem knappen Sieg über den reaktionärsten Präsidenten der amerikanischen Neuzeit sein Heil in der Flucht zu einer Wiederindienststellung längst entwerteter krisenträchtiger alter globaler (Un)ordnungsdogmen sucht und sich gleichzeitig Elemente von Trumps episodisch erfolgreichem nationalistisch-isolationalistischem Kurs aneignen will, beschreibt unser Autor Tomasz Konicz.

Die „Globalisierungs-Grippe“ Covid-19 findet in Deutschland mit ihrem überraschenden Auftreten ein Symbol: die Klopapierrolle. Wohl jeder hat sie gesehen, die leergekauften Regale in den Supermärkten. Erinnerungen an die Mangelwirtschaft in der DDR wurden wach. In welchem Ausmaß die Covid-19-Pandemie weltweit als politische Randbedingung das Geschäft der Herrschenden prägt, ist überall sichtbar. Allein der Blick auf die profitgetriebenen Gesundheitssysteme im reichen Westen, jahrelang kaputtgespart, zeigt, wie schnell sie sich in der Pandemie dem Kollaps nähern. Daran ändert das gebetsmühlenhafte Hochloben des hiesigen Gesundheitssystems auch nichts. Vor dem Hintergrund der Diskussion über den Grad der Lockdown-Maßnahmen, gemessen an den noch zur Verfügung stehenden Intensivbetten und des sie betreuenden zuvor ausgedünnten Personals, klingt es eher wie das „Pfeifen im Walde“. Der schaurige Begriff „Triage“ macht auch außerhalb der Medizin die Runde.

Um die Kosten wieder hereinzuholen, erwartet uns nach dem Ende der Pandemie wohl eine massive Kürzungswelle im Sozialbereich, in Kunst und Kultur und (trotz gegenteiliger Beteuerungen) natürlich wieder einmal im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich. Sicher aber nicht in der größten Schrottproduktion des Landes, im sogenannten „Verteidigungshaushalt“. Schließlich verlangt auch der große Bruder jenseits des Atlantiks, Deutschland müsse, anstatt am Frieden mit seinen Nachbarn zu arbeiten, wieder mehr „verteidigungspolitische Verantwortung” zu übernehmen. Was heißt: Rüstungsausgaben steigern! Vorbote ist unter anderem ein vor der Tür stehender milliardenschwerer Rüstungsvertrag. Er wird Deutschland mit 181 Maschinen zur größten Eurofighter-Bestellnation machen.

Im Lackmustest der Pandemie hinterlässt vielerorts der als Freiheit getarnte Egoismus, die Religion des Neoliberalismus, seine Spuren. Mehr und mehr verbreitet sich ein egoistischer, parasitärer Freiheitsbegriff. Die „Partyszene” feiert hemmungslos. Die zum Glück in der Gesellschaft immer noch verwurzelte Empathie für Schwächere, vor allem für sogenannte Risikogruppen, hat Grenzen, meist wirtschaftliche. Denn der als „Rückgrat der Leistungsgesellschaft“ geadelte deutsche Mittelstand steht gerade mit eben diesem Rücken an der Wand. Die gesellschaftlichen Kollateralschäden des vielfach zweifelhaften Bemühens der Herrschenden um wirtschaftliches Überleben und Systemerhalt in der Pandemiezähmung sind beträchtlich. Schulen werden mit allen Mitteln offen gehalten, Kinder stehen Home Office oder dem klassischen Gang zur Arbeit im Wege. Der Maßnahmestaat bevorteilt die Großkonzerne.

Auch der sogenannte Corona-Widerstand ist meist getragen von Egoismus, aber auch von Irrationalismus und Existenzängsten. In der Bundesrepublik hat sich eine merkwürdige regierungsfeindliche Koalition aus ernstzunehmenden Kritikern des sich selbst ermächtigenden deutschen Maßnahmestaates, seriösen medizinischen Zweiflern an dessen Seuchenstrategie, zivilgesellschaftlichen „Verfassungsschützern“, wirtschaftlichen Opfern der verfügten Beschränkungen, Anhängern verschwörungstheoretischer Interpretationen des medizinischen, ökonomischen und politischen Begründungszusammenhangs staatlichen Umgangs mit der Seuche, durchgeknallten Impfgegnern und eifernden Heilpraktikern sowie „Corona-Leugnern“ und –Verharmlosern unter dem Dach der „Querdenken“-Bewegung formiert. An diese überwiegend vorpolitische Protestbewegung der „Corona-Rebellen“ haben sich hochpolitische rechtsradikale Parteien wie die AfD, die NPD und die Parteien „Dritter Weg“ und „Die Rechte“, sowie die „Reichsbürger“ und diverse rechtspopulistische rassistische Bürgerbewegungen) angehängt, (noch) ohne sie „kapern“ zu können. Unter den linken und liberalen Konterprotestlern werden die antifaschistischen und autonomen linken Gegendemonstranten (etwa: „Omas gegen Rechts“) von der AfD genüsslich als die neuen Kombattanten der verhassten Regierenden („Systemhure Antifa“) neu verortet.

Und die Linken? Gehen sie für höhere Löhne in der Pflege, für ein besseres Gesundheitssystem oder für ein besser ausgestattetes Bildungssystem, für mehr Unterstützung von Kunst und Kultur in der Pandemie auf die Straße? Mit Bezug auf die fehlende Distanz zum bürgerlichen Maßnahmestaat unter einigen Protest-Organisatoren gegen die „Corona-Rebellen“ fragt unser Autor Peter Nowak, ob die Antifa jetzt staatstragend geworden sei und beantwortet die Frage gleich selbst: „Nüchtern betrachtet vollzog sich im Bereich des Antifaschismus eine ähnliche Entwicklung wie bei den Themen Ökologie oder Feminismus. Ein Teil der Aktivist*innen wurde staatstragend und so in das bürgerliche  Herrschaftsmodell integriert.“

Der übergroßen Mehrheit der Menschen hier scheint nichts weiter übrig zu bleiben, als nach den massiven Glaubwürdigkeitsverlusten bei Politik und Mainstream-Medien auf die vermeintlich letzte Bastion von Glaubwürdigkeit in der neoliberalen Gesellschaft zu setzen: auf die Wissenschaft. Allzu oft wird dabei aber die Abhängigkeit der Wissenschaft von wirtschaftlichen Interessen ausgeblendet. Der angeblich „wertfreien Wissenschaft“ ist mit nicht weniger Misstrauen zu begegnen, als dem bürgerlichen Maßnahmestaat.

Auch die mächtige europaweite Bewegung „Ende Gelände“ mitsamt der Jugendbewegung „fridays for future“ für die Bewältigung der Klimakrise gegen das Atomkartell und die Kohle & Öl-Lobby hat im Schatten der Corona-Krise Mühe, die Einsicht „Mit einem Systemwandel zum Klimapolitik-Wandel“ zu vertiefen. „Das System ist der Fehler!“ Das rufen inzwischen auch die rechtsradikalen Rosstäuscher. Doch weit entfernt davon, wie die Linken den „Kapitalismus als System“ zu meinen, attackieren sie „das Regime“, die windelweichen „Liberalen“, die Regierung, die Linken sowieso – nicht aber den Kapitalismus, den sie „bloß“ reaktionär zu wandeln trachten.  Ende Gelände? So bald wohl nicht …

Eine weitere verbreitete linke Wahrnehmungsverknappung ist zu beklagen: Die Enthauptung eines Lehrers auf offener Straße in Paris, der im Unterricht die Meinungsfreiheit thematisierte, und die Ermordung eines Touristen aufgrund seiner sexuellen Orientierung in Dresden durch Islamisten, verdeutlichen erschreckend die Anwesenheit islamfaschistischer Strukturen in Europa. Ebenso wie die faschistischen Grauen Wölfe sind diese immer noch zu wenig im Blickfeld von Linken, Antifa und Migrantifa. Daran vermochten auch der Angriff auf ein linkes Zentrum in Wien sowie Jagden auf kurdische und armenische Menschen im französischen Lyon leider nur wenig ändern. Kemal Bozay schreibt im neuen „telegraph“ über die Grauen Wölfe: „Mit schätzungsweise mehr als 18.000 Mitgliedern dürfte sie die stärkste rechtsextreme Organisation hierzulande in Deutschland sein – zahlenmäßig mehr als dreimal so groß wie aktuell die NPD.“

Und da war doch noch was? Ach ja, da ist ja noch das coronageschüttelte dreißigste Jahr „deutscher Wiedervereinigung“, wie der Anschluss der DDR an die alte Bundesrepublik immer noch euphemistisch fehlbenannt wird. An diesem Jubiläum sind unsere Autoren Malte Daniljuk, Andrej Holm und Thomas Klein nicht vorbeigekommen. Insbesondere die erinnerungspolitischen Verwerfungen im Diskurs um Herbstrevolution und kapitalistischer Rekonstruktion Ostdeutschlands sowie die jüngsten Frakturen im Normengefüge des staatlichen geschichtspolitischen Gedenkkartells kommen zur Sprache. Erinnert sei auch daran, dass vor 30 Jahren mit der brutalen Niederschlagung des Widerstands gegen die Räumung der Mainzer Straße in Berlin (Ost) das damals vermutlich freieste Land der Welt sein symbolisches Ende fand. Die anschließende radikale Privatisierung in Ostdeutschland verlief mithilfe der bereits andernorts bewährten Schockstrategie, wie Malte Daniljuk in seinem Beitrag für dieses Heft entwickelt. Das unmittelbare Erleben dieser gigantischen Enteignungskampagne wurde Teil der entstehenden widersprüchlichen ostdeutschen Identität.

Wir wünschen viel Denkspaß und hoffen auf politischen Gebrauchswert unserer neuen Ausgabe des „telegraph“!

Die Redaktion

(telegraph bestellen)

[1] “The longer they talk about identity politics, I got ’em,” he said of Democrats. “I want them to talk about racism every day. If the left is focused on race and identity, and we go with economic nationalism, we can crush the Democrats.” New York Times, “What if Steve Bannon is Right?”, 25.8 2017.