Editorial

(Aus telegraph 139/140 2021/2022. telegraph bestellen)

Zeitenwende

Wer einen Krieg beginnt setzt sich ins Unrecht.

Am 24. Februar 2022 startete die offene Intervention Russlands in der Ukraine. Russlands Präsident nennt sie nicht Krieg sondern euphemistisch „militärische Spezialoperation“.

Unschuldige Menschen sterben in den belagerten ukrainischen Städten, Millionen sind auf der Flucht, junge ukrainische und russische Soldaten sterben zu Tausenden.

Spätestens mit den verheerenden Jugoslawien-Nachfolgekriegen und der dabei stattfindenden völkerrechtswidrigen NATO-Intervention war entgegen landläufiger Illusionen bereits überdeutlich, dass die entstehende „neue kapitalistische Weltordnung“ globalen neoliberalen Zuschnitts den Krieg – ob als Stellvertreterkrieg, Regime-Change-Operationen oder in Gestalt von Wirtschaftskriegen um Einflusssphärendominanz – als „gewöhnliches Mittel von Politik“ imperialer und regionaler Konkurrenten rehabilitiert hatte. Auch das staatsoligarchische Russland hat im Kampf um seine Geltung als imperiale Großmacht dieses „Mittel“ erneut angewandt – nicht als „legitime Antwort“ auf westliche Machtpolitik, sondern als deren Übernahme. Und es droht, diese Perversion in neue Dimensionen zu steigern.

Und wie reagiert die deutsche Politik auf den Ukraine-Krieg? Überwiegend heuchlerisch: Erst mit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist die Rede von einer „Zeitenwende“ und es wird sogleich ein kolossales Rüstungsvorhaben für 100.000 Millionen Euro angekündigt. Die Partys in den Rüstungskonzernen nehmen kein Ende.

SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz am 24.02.2022 in seiner Rede an die Nation:
„Gerade erleben wir den Beginn eines Krieges, wie wir ihn in Europa so seit mehr als 75 Jahren nicht erlebt haben.“

Zur Erinnerung:

SPD-Bundeskanzler Schröder in seiner Rede an die Nation am 24.03.1999: „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, heute Abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen. Damit will das Bündnis weitere schwere und systematische
Verletzungen der Menschenrechte unterbinden und eine humanitäre Katastrophe im Kosovo verhindern. Wir … sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen!“

Präsident Putin am 24. Februar 2022: „Das Ziel der russischen Spezialoperationen ist es, die Menschen zu schützen, die acht Jahre lang vom Kiewer Regime misshandelt und ermordet wurden.“

Wer einen Krieg beginnt setzt sich ins Unrecht.

Und wie reagiert die deutsche Öffentlichkeit auf den neuen Krieg in der Ukraine? Bislang ist keine Mobilisierung für eine neue Antikriegs- oder Friedensbewegung zu verzeichnen. Die großen Demonstrationen in Deutschland haben überwiegend den Charakter von Solidaritätsbekundungen mit der Regierung des gescheiterten NATO-Anwärters Ukraine und den Opfern der Kriegshandlungen. Blau-gelbe Nationalfarben allerorts.

Die bürgerlichen Medien, und nicht nur diese, feuern in den Wochen nach Kriegsbeginn aus allen Rohren gegen den Feind. Gegen den Feind? Das mediale Dauerfeuer zielt in erster Linie auf die Köpfe im eigenen Land, auf unsere Köpfe. Ganz nach Definition läuft der Versuch der gezielten Beeinflussung des Denkens, Handelns und Fühlens von Menschen – auf Hochtouren.

Der Irrsinn galoppiert: Mehr und mehr Waffenlieferungen an, die militärische Durchsetzung einer Flugverbotszone über, sogar eine militärisches Eingreifen in der Ukraine werden zuweilen gefordert. Die Aussagen auch vieler Linker, Liberaler und Alternativer erinnern fatal an die Sozialdemokratie des Jahres 1914. Das ist das Spiel mit einem Großkrieg!

Wer einen Krieg beginnt setzt sich ins Unrecht.

In den Medien existieren keine Vorgeschichte und kein Kontext für die Situation in der Ukraine mehr, mahnende Stimmen werden auf stumm geschaltet, der „Irre im Kreml“ ist an allem Schuld.

Vor der „Zeitenwende“ sah das noch teilweise anders aus:
In seinem immer noch lesenswerten Beitrag „Kriegspropaganda“ (telegraph #129/130 2015) schrieb unser Redakteur Thomas Leusink:

„Am Anfang der intensivierten Berichterstattung über die Ukraine wurden die Gründe für die massiven Einmischungen von außen nur einmal so eindrücklich geschildert und nur begrenzt verschleiert, so daß es mir im Gedächtnis blieb:
In einem einfachen Mickey-Mouse-Kurzfilm mit Schautafeln wurde am 24. Februar 2014 (Zeitlicher Kontext: Die Frage „Wer schoß am 20. Februar auf dem EuroMaidan in Kiew?“ beschäftigte immer noch die Interessierten) auf ARD-online in 1: 47 Minuten dargestellt, worum es bei diesem Konflikt in der Ukraine geht: Interessenlage der EU und Russlands – Was macht die Ukraine interessant? Die Ukraine ist für Russland und die EU nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch von großem Interesse. Doch warum ist das eigentlich so? Welche Ziele verfolgen die beiden Länder genau? Und wie viele Russen leben eigentlich in der Ukraine? Gerade mal 600 km liegen zwischen der Ostgrenze Deutschlands und der Westgrenze der Ukraine. Sie ist nach Russland der zweitgrößte Flächenstaat Europas. 46 Millionen Menschen leben dort, 78 % von ihnen sind Ukrainer [in der Karte wird die Zahl links platziert] 17 % sind Russen [rechts platziert]. Der von den Ukrainern dominierte Westen ist die Kornkammer des Landes, der von den Russen dominierte Osten ist das industrielle Zentrum: Bergwerke und Schwerindustrie produzieren dort den Reichtum des Landes. Von jeher war der Osten die Einflusssphäre Moskaus, auf der Krim liegt die Russische Schwarzmeerflotte vor Anker.

Nicht nur militärisch, auch wirtschaftlich ist die Ukraine von größtem Interesse [der EU-Sternenring wird aufs Land gelegt] Die EU will sie per Freihandelsabkommen an sich binden. Damit würden die Europäer ihre eigenen Absatzmärkte erweitern und leichteren Zugang zu denBodenschätzen der Ukraine gewinnen.

Ähnliches plant Russland: Für Präsident Putin ist der westliche Nachbar wichtiger Mosaikstein in seiner Eurasischen Union, die er als Gegengewicht zur EU plant.

Würden sich aber die pro-europäischen Kräfte in der Ukraine durchsetzen, könnte dies auch der Opposition in Russland Auftrieb geben.“

Wer einen Krieg beginnt setzt sich ins Unrecht.
Die Waffen nieder!
Verweigert Militär!
Verhindert mit allen Mitteln, dass wir in diesen Krieg hineingezogen werden.

Eure Redaktion telegraph

 

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