Ich wollte nie ernsthaft über solchen Scheiß schreiben, aber wenn es der Sache dient – schließlich erörtere ich hier die Probleme des anarchistischen Pazifismus, auch anhand aktuellpolitischer Abschweifungen.
Von Bert Papenfuß
Aus telegraph #141/142 2022/2023 (telegraph bestellen?)
Wir stehen auf den Ruinen einer – hoffentlich letzten – „Zivilisation“, die auf dem Wahn basiert, daß es „Unzivilisierte“ gibt; Menschen, die sich nicht dem Dogma des sogenannten industriellen Fortschritts durch zunehmende technologische Revolutionen unterwerfen. Für diese Menschen und viele andere Lebewesen allerdings ist die sogenannte Zivilisation ein Trümmerfeld. Betonschluchten, Asphaltstraßen, Pipelines, Plastikabfall und Elektroschrott sind – für einige Zeit im globalen Maßstab – Sondermüll; Stockrüttler und Eierschneider hingegen Vermeider, oder? Wer sich arrogant aufschwingt und Sanktionspakete schnürt, ist schuld und stirbt eher früher als später – meinetwegen als effizienzoptimierte transhumanistische Menschmaschine.
Gerechtigkeit steigt aus dem Zorn der Unterdrückten, die sich kraft ihrer Wassersuppe ehrlich machen und Gleichheit walten lassen wollen. Das kapitalistische Wachstumsmodell hat seine Grenzen erreicht, jetzt herrscht Kanzelkultur. Knappe Ressourcen werden von unten nach oben verteilt, die Meritokraten der Ellenbogengesellschaft frönen dem fröhlichen Postenergattern. Die Außenstehenden pflegen entwaffnende Bescheidenheit, und zwar militant, notfalls selbstgebastelt.
Sten gun
Der Glücklichste stirbt am ehesten,
der Klügste scheißt auf falsche Gesten,
der Superlative bleibt bei seinen Leisten[1],
schustert seine Knarre selber,
wenn Gegengewalt es gebietet:
Widerstand ist mehr als Erwartung.
Hoffnungen sind mit Freiheiten zu entsorgen;
aufwiegelnd schwerem Gerät entgegenzutreten,
gebieten Selbstbehauptung und Befreiungskampf.
Mittlerweile ist der Ukraine-Konflikt eskaliert. Kein Krieg „bricht aus“, sondern wird aus staatspolitischen Interessen vorbereitet, durchgezogen und verloren. „Sieger“ ist vordergründig irgendein Staat (oder mehrere), „Gewinner“ der profitorientierte militärisch-industrielle Komplex und die ihm untergeordneten politischen Eliten, „Helden“ sind die Gefallenen, also die aus irgendwelchen irrationalen – zumeist nationalistischen und/oder (oft vorgeschobenen) ideologischen bzw. religiösen – Gründen Ermordeten. In Kriegen kommt niemand um, sondern wird ermordet; das gilt ebenso für sog. „Kollateralschäden“, Insassen von Konzentrationslagern und sonstigen Gefängnissen, sowie die alltäglichen Opfer des kapitalistischen Konkurrenzkampfes in sog. friedlichen Zeiten. Auch in Befreiungskriegen werden Feinde ermordet, ebenso bei „humanitären Einsätzen“, „speziellen Militäroperationen“ oder gar „gezielten Tötungen“ angezählter Übeltäter. – Im Nachhinein, wenn sich das politische Blatt mal wieder gewendet hat, werden allerdings oft auch die „Verlierer“ zu „Helden“. Störtebeker ist und bleibt ein Held, weil er den berechtigten Kampf für soziale Gleichheit gegen einen übermächtigen Feind, das kapitalistische Pfeffersackgesocks, verlor. Außer Befreiungskämpfen sind alle Kriege Verbrechen. Aus Befreiungskriegen kehren Veteranen zurück, die genauso soziopathisch sind, wie ihre Kameraden aus den Angriffskriegen. Morden ist nicht gesund, auch nicht für beherzte Gegengewalttätige. Nicht „Krieg dem Kriege“ sollte es heißen, sondern „Kampf dem Krieg“, bis zum letzten. Aber ob das einen Unterschied macht …
Deutschland war der Paradeverlierer des 20. Jahrhunderts und ist heute ein „Gewinner der Geschichte“ – aus durchsichtigen politischen Gründen. Jedoch kann man die Bevölkerung eines Landes nicht auf ihr Land, ihre Nation, ihren Staat reduzieren. Im Widerstand gegen Monarchismus, Imperialismus, Faschismus, Militarismus und Revanchismus, Chauvinismus, Nationalismus und Etatismus gab und gibt es Helden. Die sog. „Gewinner der Geschichte“ sind vorübergehende Sieger im Sinne einer indoktrinären Geschichtsschreibung, deren Irrationalität auf jeder Seite steht, die weggeblättert werden wird.
Die Militaristinnen ACAB (Annalena Charlotte Alma Baerbock) und MASZ (Marie-Agnes Strack-Zimmermann) kämpfen gegen „Kriegsmüdigkeit“[2] und für ein „Feindbild“[3]. Ja, „laßt uns dieses Europa gemeinsam verenden“[4]! Als eingeschworener Antieuropäer und Undeutscher bin ich ganz ihrer Meinung; die sinnlosen Halbinseln an Eurasien müssen „verendet“ werden, die südliche noch dazu völlig übervölkert, was sich leicht beheben ließe, in Skandinavien ist viel Platz unter den Mückenschwärmen. Natürlich gibt es noch mehr alte weiße Männer unter Europas mehr oder weniger jungen Politikerinnen und Propagandistinnen, aber ich habe keine Lust, mich in diesen medialen politischen Abgrund zu versenken … ohne vorher noch der aktuellen Bundesministerin der Verteidigung Christine Lambrecht eine Anagrammskizze mit auf den Karriereweg zu geben:
Als die Blechamtsrichterin mit dem Meilenschritt brach,
durch Milchtrichterbasen wie eine Schmeichlerin trabt,
und mit blanchiertem Strich jede Eilnachricht bremst,
war klar, daß sie nur bitterlichen Ramsch propagiert
und als Schirmrechtebaltin mit Schmaltieren bricht.
Crass und Konsorten wie meinesgleichen könnten hinzufügen: „Steißgeburt einer unbefleckten Empfängnis, aufgepäppelt mit Dosenkohl, der ich einen Heldentod wünsche, am besten durch Drohnenschlag.“ Oder ähnliches. Warum hat der Krieg neuerdings auch ein weibliches Gesicht? – Ursula von der Leyen, ACAB, MASZ, Katrin Göring-Eckardt, „Annegret Kramp-Karrenbauer, Marieluise Beck, Florence Gaub, Ulrike Herrmann, Serap Güler, Agnieszka Brugger, Ronja Kempin“[5], Mary Elizabeth „Liz“ Truss (MELT). – In den sog. alternativen, oft schlampig edierten, Medien ist nach ACABs Warnung vor der „Kriegsmüdigkeit“ eine Glosse von Karl Kraus verbreitet worden, auf die die Rechercheure wohl gestoßen sind, als sie in der Fackel nach „Ukraine“ gesucht haben. In der Fackel Nr. 474-483 vom Mai 1918 geht es immer mal wieder um den Krieg in der Ukraine, und speziell auch um die Getreidelieferungen, die heute wieder Thema sind. Parallelen zu heute sind unverkennbar, schlagt selber nach.[6] Im folgenden Karl Kraus’ Glosse zur Kriegsmüdigkeit vollständig, und im Originalwortlaut:
„Kriegsmüde – das ist das dümmste von allen Worten, die die Zeit hat. Kriegsmüde sein[,] das heißt müde sein des Mordes, müde des Raubes, müde der Lüge, müde der Dummheit, müde des Hungers, müde der Krankheit, müde des Schmutzes, müde des Chaos. War man je zu all dem frisch und munter? So wäre Kriegsmüdigkeit wahrscheinlich ein Zustand, der keine Rettung verdient. Kriegsmüde hat man immer zu sein, das heißt nicht nachdem, sondern ehe man den Krieg begonnen hat. Aus Kriegsmüdigkeit werde der Krieg nicht beendet, sondern unterlassen. Staaten, die im vierten Jahr der Kriegführung kriegsmüde sind, haben nichts besseres verdient als – durchhalten!“[7]
Friedensmüde kann man natürlich auch sein, insbesondere dann, wenn Unterdrückung, Ausbeutung, Entfremdung und Zuschiß so unerträglich werden, daß jede Veränderung einen Ausweg bedeuten könnte. Das war die Ausgangssituation vor dem 1. Weltkrieg – damals war von „Weltwende“ die Rede –, später dem 2., dem kalten 3., und heute hier bei uns im 4. Reich, als das der Untergrundtheoretiker Hakim Bey die Europäische Union bezeichnete[8], ist von „Zeitenwende“ die Rede. Was Bände spricht, zumal von Frieden nicht die Rede sein kann, wenn die Regierenden Krieg gegen die Regierten führen, seit Jahren mit einem Ausnahmezustand nach dem anderen.
Die derzeitige Verteidigungsministerin verlautbart: „Deutschlands Größe, seine geografische Lage, seine Wirtschaftskraft, kurz, sein Gewicht, machen uns zu einer Führungsmacht, ob wir es wollen oder nicht. Auch im Militärischen.“[9] So bricht sich Militarismus Bahn; das Vierte Reich unter der Führungsmacht Deutschlands bekriegt Mordor im Auftrag des Weltpolizisten. Die Ukraine dient hierbei als Spielball US-amerikanischer, britischer und europäischer Interessen. – Ich wollte nie ernsthaft über solchen Scheiß schreiben, aber wenn es der Sache dient; schließlich erörtere ich hier die Probleme des anarchistischen Pazifismus, auch anhand aktuellpolitischer Abschweifungen. Also:
Kriege werden durch staatliche Interessen provoziert, ausgelöst und geführt, nicht „gespielt“, wie ACAB formuliert: „Dieser Krieg wird auf verschiedenen Ebenen gespielt – nicht nur mit Waffen, nicht nur mit Gas und Öl, sondern auch mit Lügen und falschen Narrativen.“[10] – Staatliche Interessen sind Interessen des Staates, haben mit den Bedürfnissen der Bevölkerung nichts zu tun, sind das „falsche Narrativ“ per se und werden durch Lügen kommuniziert: Wahlversprechen, Meinungsänderungen, Erfordernisse der „Zeitenwende“, also Verrat. Regt sich wirklich mal Widerstand im Land, wird er als rechts- oder linksextrem diffamiert, notfalls durch einem weiteren Ausnahmezustand abgewürgt. Schließlich vertritt die atlantische „Wertegemeinschaft“ die Mitte der Gesellschaft, die nirgends definiert ist, ohnehin schwer zu fassen ist, sich noch dazu ständig verschiebt, also verarmt.
Wir brauchen Ideen gegen Interessen, um Kultur gegen Konsum zu setzen. Kultur hat Ecken und Kanten, Konsum folgt Algorithmen. Je digitaler, desto scheiße; es ist der Draht zur Welt, der uns vom Leben abhält. Wir brauchen Systemkritik gegen Hedonismus, Nachrichten-, Streaming- und Lieferdienste, Kreuzworträtsel und Patiencen; brauchen Anarchie gegen Zivilisation, die immer wieder „Barbaren“ definiert, die der „westlichen Werteordnung“ entgegenstehen. Die Realität ist eine Verzerrung unwirklicher Ereignisse von jestern, die ins Morgen schwappen und kippen. – Und was wir brauchen, können wir nur selber schaffen. Scheitern heißt, ein paar Schritte in die herrschaftsfreie Richtung gemacht zu haben, obwohl man weiß …
Heute kämpfen ukrainische, russische, weißrussische und andere Anarchisten auf Seiten der Ukraine; italienische, spanische und andere internationale Anarchisten auf Seiten Russlands um den Donbass und die Südukraine. Beide Fraktionen noch dazu an Seiten von Extremisten und Söldnern wie dem Regiment Asow auf ukrainischer und der Gruppe Wagner auf russischer Seite: Die Übergänge zwischen Patrioten, Nationalisten, Chauvinisten, Faschisten und gemeinen Söldnern aus Eigennutz sind fließend. – Immer war klar, daß Anarchisten sich keinen regulären Armeen anschließen, keine hierarchische Befehlsstruktur akzeptieren, sondern eine selbstgewählte; aber damit hatten auch schon Machno und Durruti in Bürgerkriegssituationen ihre Probleme – schließlich waren sie selbst „Väterchen“ und „Kommandeur“.
In dem später als Manifest der Sechzehn bezeichneten, von Peter Kropotkin und Jean Grave im Februar 1916 zusammen geschriebenen (zusammengeschriebenen) Text plädieren beide für eine Unterstützung der Entente gegen Deutschland und die sog. Mittelmächte. Diese Parteinahme sorgte unter Anarchisten für eine Kontroverse; Malatesta, Goldman und Rocker erhoben Protest, auch Landauer und Mühsam bewahrten Vernunft. Anarchistische Parteinahme in aktuellpolitischen Prozessen geht immer in die Hose, ist durch Moralismus und Irrationalismus motiviert, den auch Anarchisten nicht locker aus der Hand abschütteln können. Kropotkin war von Bakunin inspiriert, der für das 20. Jahrhundert einen Konflikt zwischen dem Pangermanismus und Panslawismus voraussagte, der ja auch wirklich stattgefunden hat, sowohl im Großen Krieg als auch besonders im Unternehmen Barbarossa, in dem es um die Vernichtung, Unterjochung und Versklavung der mongolisch und turkvölkisch versifften russischen „Rasse“ ging. 27 Millionen Tote auf sowjetischer Seite: Jetzt möchte ACAB Russland „ruinieren“; Helm ab – zum Gebet.
Bakunin bemühte sich, dem zaristischen Panslawismus und Expansionismus, sprich Imperialismus, einen revolutionären Panslawismus entgegenzusetzen, indem er sich mit polnischen, tschechischen, slowakischen usw. Revolutionären – und leider auch Nationalisten – zu verschwören suchte, um Preußen und Reußen anzugreifen, was in die Hose ging. Michail Alexandrowitsch war zwar ein konspirationistisches Schlitzohr, oft weitblickend, aber den antiglobalen Panamerikanismus konnte er natürlich nicht vorausdenken, geschweige denn das antiregionalistische Paneuropa des „4. Reiches“. Nach dem 2. Weltkrieg wurde der sowjetische Panslawismus als „Völkerfreundschaft“ verbrämt. Das Konstrukt Vielvölkerstaat Jugoslawien und die Fusion Tschechoslowakei wurden nach dem Kollaps des Ostblocks auf Betreiben der westlichen Wertegemeinschaft aufgelöst; wenn nicht im Guten durch „Samtene Revolution“ und „Gedankenstrich-Krieg“, dann im Bösen durch banalen Krieg und Bombenterror.
Dugin und Konsorten mit ihrem Eurasien-Flitz setzen auf ihre konservativ-revolutionäre Art den Panslawismus mit anderen Mitteln fort, bemühen sich jedenfalls auf ihre reaktionäre Tour darum. Und wenn sie nicht ermordet werden, werden sie das wohl noch eine Weile tun. Mir geht das Eurasien-Geschwafel am Arsch vorbei. Eurasien ist sowieso Eurasien, und bleibt es geologisch auf längere Sicht auch. Da beißen auch die Transatlantiker keinen Faden ab. Was auf allen Kontinenten doch sehr stört, sind Herrschaftssysteme aller Arten, ob nun sog. Autokratien, Demokratien, Theokratien oder sonstwelche Staaten. Geopolitik ist – wie jede Politik – von äußerstem Übel für alle Untertanen, alle Regierten, die man „Staatsbürger“ nennt, um ihnen das Privileg, Steuern zu zahlen, schmackhaft zu machen – und mit Brosamen wie zunehmend privatisierter und für viele unerschwingliche Gesundheitsfürsorge und gemäß den Inflationsraten sinkenden Renten abzuspeisen.
Angesichts der Querfronten in europäischen Parlamenten und dem bürokratischen Wasserkopf der Europäischen Union in Brüssel[11] ist es Anarchisten heute unmöglich, politisch Partei zu ergreifen. Anders ist es bei kriegerischen Auseinandersetzungen, da hat dann doch jeder seine Präferenzen. – In meiner Jugend war es für mich einfach, Partei zu ergreifen: Nach Diskussionen im Freundeskreis fällte man Urteile je nach Gerechtigkeitsgefühl; zumeist „begründet“ durch irrationale Sympathien, oft mangelnder Bildung und Information geschuldet, und einer prinzipiell antikapitalistischen Grundhaltung, die zumindest uns Ostlern als Nachfahren von Opfern von „Vertreibung und Umsiedlung“ nach dem 2. Weltkrieg gemein war – die dafür verantwortlichen Täter saßen ja angeblich alle im Westen; ehemalige – mehr oder weniger entnazifizierte, eher weniger – Mitläufer jedoch gab es im Osten so sehr zuhauf, daß sich unser Jugendprotest antiautoritär, antifaschistisch und antiimperialistisch gebärdete, in einigen Fällen auch anarchistisch.
Im zarten Alter von 8 Jahren las ich 1964 ein Kinderbuch[12] über die Heldin der „Befreiungskriege“ Eleonore Prochaska[13], das mich zu Tränen rührte. Mein Vater, Sohn eines Ludendorff-Anhängers, Absolvent der Militärmedizinischen Sektion an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald[14], hatte es mir geschenkt. Seine militärische Laufbahn war auch inspiriert von den „Befreiungskriegen“ 1812/13-1815. Daß irgendetwas mit den „Befreiungskriegen“ nicht stimmte, merkte ich erst einige Jahre später, denn nach Einstellung der Kampfhandlungen war niemand „befreit“, die Ausbeutung der verbliebenen Untertanen und Veteranen ging weiter wie gehabt. Wer für Kaiser, König, Führer, Volk und Vaterland ins Feld zieht, muß damit rechnen, den Heldentod zu verdienen, meist als unbekannter Soldat in einem Massengrab.
Als „nonkonforme“ – heute würde man sagen: renitente[15] – Jugendliche der 60er/70er Jahre war unsere Parteinahme in kriegerischen und politischen Auseinandersetzungen stets gegen Deutschland gerichtet. Selbstverständlich waren wir gegen Kaiser und Führer, gegen die Bonner Ultras und gegen den Spitzbart, seinen Nachfolger Honecker und Konsorten. Neugier und Konfusion geschuldet lasen wir die Mao-Bibel, Kim Il-sungs Dschutsche-Quatsch und Gaddafis Grünes Buch, hörten Radio Tirana, waren pro Jugoslawien, die zumindest so etwas wie Volkseigentum – statt Staatseigentum – versuchten, hatten wir jedenfalls im Feindsender gehört. Wir sympathisierten rückblickend mit den Anarcho-Syndikalisten der FAUD und den Rätekommunisten der KAPD und plädierten aktuell für die Bewegungen mit drei Buchstaben: IRA, ETA, PLO, RAF und B2J.
Apropos KAPD: Paul Mattick (1904-1981) trat schon als Jugendlicher in die rätekommunistische KAPD ein und war an zahlreichen Kämpfen beteiligt, emigrierte 1926 in die USA, wurde dort Mitglied der anarchosyndikalistischen IWW und war vielfältig engagiert aktiv. 1935 antwortete er auf die Frage „Was wirst du tun, wenn Amerika in den Krieg zieht?“: „Ich persönlich habe weder Freude noch Interesse daran, in irgendeinen Krieg zu ziehen; aber sich gegen den Krieg auszusprechen, erscheint mir albern und nutzlos. Man muss ihm materielle Kräfte entgegensetzen, nicht bloße Verhaltensweisen, und jeder, der sich nicht an der Gestaltung dieser Kräfte beteiligt, ist auch nicht gegen den Krieg, so sehr er das auch beteuern mag. Die Frage selbst legt den Gedanken nahe, dass man sich für den Frieden und gegen den Krieg einsetzen soll, aber ich bin genauso gegen den kapitalistischen Frieden wie gegen den kapitalistischen Krieg. Ich habe auch keine Wahl zwischen den beiden Situationen; ich kann nur dazu beitragen, einem System ein Ende zu setzen, das seine Existenz durch die Tendenz zum Wechsel zwischen Krieg und Frieden sichern muss. Um sich dem kapitalistischen Krieg entgegenzustellen, muss man sich dem Kapitalismus entgegenstellen, denn Kriege sowohl als die Krise gehören zu den Existenzbedingungen des Systems. Es versteht sich von selbst, dass ich keineswegs helfen werde, ein System zu verteidigen, das ich völlig widerwärtig finde und das mein Leben ruiniert.“[16]
Diese schnörkellosen Sätze sind heute ebenso gültig wie damals. Staaten und Nationen produzieren Kriege, schließlich herrscht Konkurrenzkampf unter enormem Wachstumszwang. Ein Ausstieg aus diesem System ist möglich, wenn genügend Leute die Ungerechtigkeit begreifen und angreifen. Alle Grenzen von Nationalstaaten – wie alle Grenzen überhaupt – sind ungerecht und nur durch das Gewaltmonopol jeweiliger Staaten „gerechtfertigt“. Wenn die Basken und Katalanen nicht zu Spanien gehören wollen, sollen sie sich abspalten und autonom werden, möglichst ohne einen weiteren Nationalstaat zu gründen, sondern eine libertäre Selbstverwaltung. Gleiches gilt für die Bretonen und Korsen in Frankreich, für die Schotten – und hoffentlich auch bald die Waliser – in „Großbrittanien“, für die Sami in Norwegen, Schweden, Finnland und Russland usw. usf.
Daß man aus einer diktatorisch regierten Sowjetrepublik mit Grenzen, die durch Kriege, Bürgerkrieg und wiederum Krieg entstanden, nicht problemlos einen Nationalstaat machen kann, sollte eigentlich jedem klar sein. Ebenso wenig wie es eine Ukraine gibt, existiert auch kein Russland, kein Deutschland, Frankreich, Spanien usw. – Hört mir auf mit „historisch gewachsen“ – Grenzen werden durch Siege und Niederlagen herbeigeführt, durch Kriege oktroyiert. Darum: Nicht „Give Ireland back to the Irish“[17], was niemals geschehen wird, sondern „Take Ireland back from the British“. Nehmt Vorpommern weg von Mecklenburg, nehmt Vorpommern weg von Deutschland, weg vom deutschen Staat, nicht um einen Freistaat zu gründen, sondern gar keinen, organisiert euch selber, oder …
Menschen ohne Fische und Katzen
Zuschiß bereitet Überdruß und Unmut,
Narzißmus breitet sich globalmedial aus,
konzertierter Widerwille bricht sich Bahn –
was Besseres als das Leben[18] finden wir immer.
Menschen ohne Fische und Katzen
können sich gleich salutieren lassen.
Wie alles im All,
endet’s mit’n Knall.
Naturgesetze existieren nur so lange,
bis wir ihre Ungültigkeit erkannt haben.
Genau so ist es mit der Gesetzgebung
und dem Strafrecht, das Eigentum schützt.
Menschen ohne Fische und Katzen
können sich gleich salutieren lassen.
Wie alles im All,
endet’s mit’n Knall.
Jegliche Satzung ereilt ihre Ächtung,
Willkür bekämpft man nur mit Willkür;
wer auch nur Rahmen absteckt – eckt an:
Regeln sind Ausnahmen der Gesetzlosigkeit.
Menschen ohne Fische und Katzen
können sich gleich salutieren lassen.
Wie alles im All,
endet’s mit’n Knall.
Gesetzwidrigkeit zwirbelt Gesetze,
die sich der Regeländerung widersetzen.
Zivilisation gleich Kannibalismus
plus Digitalisierung der ganzen Welt.[19]
Tja, Poesie ist keine Theorie, kein Expertismus, sondern Praxis, Lebenspraxis; auch wenn sie nicht gut ausgeht, bleiben Versuche, die es wert waren – werden unsere Nachkommen einander sagen, nachdem sie die „sozialen Medien“ in die Tonne getreten haben. – Apropos Katzen: Nicht unerwähnt soll bleiben soll an dieser Stelle das herzergreifende Lied Человек и Кошка (Mensch und Katze)[20] von Fjodor Valentinowitsch Tschistjakow und seiner Band НОЛЬ, in dem es zwar um die allgemeine – und nur diffus geschilderte – Bedrückung des „zivilisierten“ Menschen und Drogensucht geht, also das „Allzumenschliche“, aber das so eindrucksvoll, daß Generationen davon zehren werden. Katzen, so sehr sie ihre „Halter“ auch knechten, fördern Unbeherrschbarkeit, Köter hingegen Autoritarismus. Noch gibt es in Deutschland mehr Katzen als Köter.
Wir haben alle eine offene Rechnung mit dem selbstgebastelten und zusammengelebten Schicksal, den restriktiven Lebensbedingungen unter den speziellen Verhältnissen des Spätkapitalismus; wenige sind dafür (Oligarchen, „Philanthropen“ und ihre Bonzen, Schergen und Wähler), andere dagegen (die sog. Linke, von etatistisch bis „kritisch“ und extrem[autoritär]), die meisten so verunsichert, daß sie sich nicht äußern können, wollen und sollen. „Links“ im klassischen emanzipatorischen Sinne sind heute nur noch die zersplitterten Anarchisten. – Man kann sich gut einrichten im Niedergang, wir machen das schon ein Leben lang. Hauptsache, man macht einen guten Eindruck. Abbildung ist Überwältigung, Andeutung vollendet Ausmalung, Übertreibung wird zur Wahrheit, die niemand gepachtet hat, denn sie gehört dem Machtapparat. „Lost am I in this world of timelessness and woe.“[21]
[…]
Es geht um den Rhythmus; ohne Entschlossenheit keine Zuversicht, das Stampfen der Zukunft, die wir uns bereitet haben, kann uns vernichten. Ist das ein Verlust für Schlaffzahn, Schnapphahn, Raffzahn, Schnapsdrossel, Unkrieg, Freudentod und Gieremund? – Nichts in der Welt stirbt wirklich; Metempsychose ist nur Metabolismus, Empörung führt zu Entrüstung; fehlen nur noch Durchblick und Witz. Schließen möchte ich mit einer Notiz:
Akme, Aura, Amok;
Eris, Eros, Ouroboros:
Thetys peitscht Okeanos.
„Bumms, aus.“[22]
Bert Papenfuß ist Schriftsteller. Er lebt in Berlin-Weißensee.
Vorliegender Text besteht aus Auszügen aus einem Essay mit dem Untertitel „Freie Assoziationen über Probleme des anarchistischen Pazifismus, Teil 1: Die Musik“. Als Einstieg und roter Faden diente ihm das Werk englischen Anarcho-Punk-Band Crass (1977-1984). In diesem Vorabdruck wurde die Musikdebatte weggelassen.
[1] Frei nach: „Wisest is he who has fewest expectations, and happiest who dies young.“ Zitiert nach: Fredy Perlman. Against His-tory, Against Leviathan! Black & Red, Detroit, 1983, S. 91. Perlman wiederum zitiert frei nach Menander.
[2] Ende Mai 2022 tagte der Ostseerat der Anrainerstaaten, diesmal unter Ausschluß Russlands, sicherheitshalber an der Nordsee, im norwegischen Kristiansand, dessen Kneipen ich sehr geschätzt habe, als man dort noch rauchen durfte. Der Spiegel berichtet über ACABs Auftritt: „Die demokratischen Staaten müssten dafür sorgen, dass man keinen ‚Moment der Fatigue‘ erreiche, sagt sie auf Englisch. Ein Punkt, an dem in europäischen Gesellschaften erklärt werde, ‚nun dauert der Krieg schon seit Monaten, lasst uns zu anderen Themen übergehen‘.“ (spiegel.de/politik/deutschland/annalena-baerbock-auf-ostsee-konferenz-urlaubsziel-als-sicherheitszone-a-863cca46-99dd-4b13-a6e5-6e920c982c43, 1. 6. 2022)
[3] Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, in einem Interview mit Eva Quadbeck (rnd.de/politik/strack-zimmermann-zur-neuausrichtung-der-bundeswehr-wir-brauchen-ein-feindbild-64c33020-d0ef-4bbe-a2a2-fb92c0ab3a5b.html, 1. 6. 2022): „ … das mag jetzt martialisch klingen, sie [die Politiker] brauchen auch, um aus der Sicht der Bundeswehr zu agieren, ein Feindbild, und wir haben in den letzten Jahren der Appeasement-Politik Russland nicht mehr als ein solches empfunden. Jetzt wissen wir, wie ein Feind aussehen könnte, in diesem Fall aussieht, und deswegen muss auch die NATO angepasst werden, an das Thema China, was passiert mit dem Iran, wie gehen wir weiter mit Russland um? Das heißt, sie brauchen das Bild eines möglichen Feindes, der unsere Freiheit und Demokratie beseitigen will.“
[4] Aus einer Ansprache von ACAB nach Prognose und ersten Hochrechnungen zu irgendeiner Wahl, die niemand hatte, am 26. 5. 2019 (youtube.com/watch?v=yhzrRf4wzc8, 1. 6. 2022).
[5] Nach: Ulrike Baureithel. Toll, dieser Panzerfeminismus! (freitag.de/autoren/ulrike-baureithel/wieso-sind-so-viele-frauen-begeistert-von-aufruestung-militaer-und-heldentod, 11. 5. 2022)
[6] https://fackel.oeaw.ac.at/
[7] In: Die Fackel, Nr. 474-483, Mai 1918, S. 153.
[8] Hakim Bey (Peter Lamborn Wilson): „I’ve always thought of the European Union as the Fourth Reich—this is a scam for Germany to take over the world.“ Siehe unten, Fn. 19.
[9] Aus einer Rede der Verteidigungsministerin Christine Lambrecht bei der Veranstaltung zur „Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Implikationen der Zeitenwende für Deutschlands erste Nationale Sicherheitsstrategie“ am 12. September in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. (bmvg.de/de/aktuelles/lambrecht-bundeswehr-muss-kern-deutscher-sicherheit-sein-5494860, 14. 9. 2022)
[10] Aus: Rede von Außenministerin Annalena Baerbock zur Einbringung des Bundeshaushalts 2023 im Deutschen Bundestag, 7. 9. 2022 (auswaertiges-amt.de/de/newsroom/haushalt-auswaertiges-amt/2550546, 13. 9. 2022).
[11] Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament, der Rat der Europäischen Union, die Europäische Verteidigungsagentur EDA, die Exekutivagentur für Bildung, Audiovisuelles und Kultur, die Exekutivagentur des Europäischen Forschungsrates, die Exekutivagentur für kleine und mittlere Unternehmen, die Exekutivagentur für Forschung, die Exekutivagentur für Innovation und Netze, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss, der Europäische Ausschuss der Regionen, das Sekretariat und die Überwachungsbehörde der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA, das Generalsekretariat der Benelux-Union, das NATO-Hauptquartier usw. usf. – das ist nur der Scheiß, der mir ohne große Recherche im Internet entgegensprang. Kost’ ja nüscht; außer dem digitalen Wegzoll der GEZ, und die Unkosten der zahlreichen Behörden und die opulenten Gehälter zigtausender Beamter, die übrigens – apropos Demokratie – niemand gewählt hat, fallen nicht ins Gewicht.
[12] Charlotte Thomas. Das Mädchen von Potsdam. Erzählung aus der Zeit der Befreiungskriege. Gebr. Knabe Verlag, Weimar, 1964.
[13] Marie Christiane Eleonore Prochaska (1785-1813) war ein deutscher Soldat in den Befreiungskriegen. Als August Renz schloß sie sich 1813 dem Lützowschen Freikorps an, erst nach einer tödlichen Verwundung in Schlacht an der Göhrde am 16. 9. 1813 wurde entdeckt, daß sie eine Frau war. Sie wurde zu nationalistischen Zwecken glorifiziert.
[14] Die Universität Greifswald hieß von 1933 bis 1945 und von 1954 [sic!] bis 2018 Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, seither wieder Universität Greifswald.
[15] bzw. verhaltensauffällig und erlebnisorientiert auf die „Delegitimierung des Staates“.
[16] Aus: Paul Mattick. What will I do when America goes to War? (A Symposium). In: Modern Monthly, Vol. IX, No. 5. September, 1935, S. 267 f. – Zit. nach: Soligruppe für Gefangene. Anarchismus, Nationalismus, Krieg und Frieden (Quelle: panopticon.blackblogs.org/2022/10/06/anarchismus-nationalismus-krieg-und-frieden/#more-2789, 7. 10. 2022. Dort findet man auch das englische Original.)
[17] Give Ireland Back to the Irish (Paul McCartney, Linda McCartney), Apple, 1972. Erste Single von Paul McCartneys Band Wings.
[18] Nach: „Vielleicht gibt es etwas Besseres als das Leben.“ Aus: Clifford D. Simak. Die Viecher [Im Original: Drop Dead; aus dem Englischen von Walter Ernsting]. In: Erik Simon (Hrsg.). Maschinenmenschen. Science-fiction aus Großbrittanien und den USA. Verlag Das Neue Berlin, 1980, S. 72.
[19] Frei nach Peter Lamborn Wilson (a.k.a. Hakim Bey, 1945-2022): „Wilson: […] The tipping moment I came to feel was in Sumeria, about 4000 BC, when irrigation, agriculture, and writing developed together. This made possible action at a distance and social hegemony. One city could conquer another city and turn everybody into a serf. And then you have civilization. Recently I coined my new slogan, which is Civilization Equals Cannibalism Plus Electricity—to paraphrase Lenin.“ In: Civilization Equals Cannibalism Plus Electricity. Peter Lamborn Wilson [im Gespräch] with Lucía Hinojosa, Diego Gerard, Raymond Foye, and Anne Waldman (https://brooklynrail.org/2021/05/art/Civilization-Equals-Cannibalism-Plus-Electricity?fbclid=IwAR0BIY1Nd-q8cOpaZx3wjGR2BfTkHHvfMxcG2V3rUNC1kUdvQs8koL5pkv8, 25. 5. 2022) – „Welt“ in Sinne von althochdeutsch weralt (= Menschen[zeit]alter); die „Welt“, die uns immer wieder morgen schon gehören soll – und über uns hinweggeht, wie alles im All. „Anthropozän“ ist auch so ein Schimpfwort; mit „Neuen Menschen“ will ich erst recht nichts zu tun haben, mir reichen schon die alten. Mildernd wirken, wie gesagt, Frösche und Ratten; wohlgemerkt „Milchfrösche“ und natürlich „Kanalratten“.
[20] Auf: НОЛЬ. Песня о безответной любви к Родине (Lied über die unerwiderte Liebe zur Heimat), Feelee Records, 1991.
[21] Aus: Seven By Seven (Dave Brock). Auf: Hawkwind. The Space Ritual Alive in Liverpool and London, United Artists, 1973.
[22] So Hartmut „Tex“ Köppen, Direktor des Ernst-Fuhrmann-Institutes Stolpe; vulgo: Jedankenstrich, Absatz, Freizeile, neuet Thema. –
Konsequenterweise ist dieses Elaborat nicht gut ausgegangen. Seit Jahren geht es nicht mehr um die „Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen“, sondern um Schadensbegrenzung. Politisch sind wir von parlamentarischer Querfront und Retrogarde umzingelt – Totalitarismus, ick hab dir trapsen jehört, jetz biste einjetreten. Eine irritierte und zujeschissene Jesellschaft hatte nüscht dajegen. Aber antipolitisch rüttelt und schüttelt sich wat. Merkt ihr, wie das Blatt sich kräuselt? Bevor wir es wenden. Mit aller Macht gegen Herrschaft!