„Geschichte wird gemacht.“

Geschichtsbildkonstruktionen haben eine eigene Geschichte, die zuweilen voller unfreiwilliger Komik ist. Bis einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Wer in der DDR gelebt hat, weiß, was es kosten kann, den Kotau vor der herrschenden Geschichtsschreibung zu verweigern. Wie sah es in der BRD und wie sieht es im wiedervereinigten Deutschland aus? Der Essay untersucht dies am Beispiel des Zusammenhangs von Geschichtsrevisionismus und staatlich verordnetem Antikommunismus.

Von Thomas Klein
aus telegraph #124


1. Vorspruch

Das sarkastische Bonmot „Die Zukunft liegt klar vor uns, die Vergangenheit ist noch ungewiss“ dürfte heutzutage nicht nur Historikern immer wieder durch den Kopf schießen, wenn sie sich die jüngere Geschichte von Geschichtsbildproduktionen der Zäsuren des 20. Jahrhunderts vergegenwärtigen. Doch so neu ist es nicht, dass bekannte Deutungsmuster (zeit)geschichtlicher Vorgänge plötzlich revidiert werden oder bereits revidierte Geschichtsbilder Wiederauferstehung feiern: In den Gefilden untergegangener nominalsozialistischer Gesellschaften gehörte so etwas zum Trainingsprogramm für ihre Bewohner. Und das erwähnte Bonmot wird ja auch dem legendären fiktiven „Sender Jerewan“ jener Hemisphäre zugeschrieben. Das freche Umfälschen oder Leugnen weithin bekannter geschichtlicher Tatsachen, das skrupellose Beschweigen von offensichtlichen und in der Erfahrungsgemeinschaft mitunter ganzer Völker verankerten Vorgängen, das Erfinden von absurden Begründungszusammenhängen für die Folgen peinlicher machtgeleiteter Fehlentscheidungen von historischer Tragweite – all das gehörte sozusagen zum Kernbestand einer als Geschichtswissenschaft getarnten legitimatorischen Ideologieproduktion. Häufig waren jähe politische Neujustierungen innerhalb des Ostblocks oder im Verhältnis zum Systemantagonisten und nicht etwa neue Erkenntnisse auf dem Feld der Historiografie die Ursache für geschichtsrevisionistische Akrobatik. Die stereotype Wiederholung herrschaftsstabilisierender Geschichtslügen trotz Kenntnis der Unglaubwürdigkeit dieser Konstrukte demonstrierte (durchaus gewollt) die Arroganz der Macht jener östlichen Systemsachwalter. Bei der Herstellung solcherart konstruierter Geschichtsbilder bedurften die Kopflanger derartiger historiografischer Auftragskunst einer gesteigerten Verdrängungsleistung: Wider besseren (Fach)wissens daran mitzuwirken, erforderte die Überzeugung von der Notwendigkeit „parteilicher Geschichtsschreibung“, deren Deutungen sich eben auch die „Realgeschichte“ zu beugen hatte und die den vermeintlichen „Siegern der Geschichte“ auch zustand. Der Gebrauchswert dieser Sorte „Geschichtswissenschaft“ wurde damals an ihrem vermeintlichen Beitrag zum Sieg in der Systemauseinandersetzung gemessen, in welcher auch der Deutungskampf um den „Sinn der Geschichte“ inkorporiert war. Insoweit kleinere oder größere Geschichtsfälschungen der parteilichen Sinngebung dienlich waren, wurden sie nicht nur als tolerabel, sondern sogar als unausweichlich eingestuft und in den Rang der „objektiven Wahrheit“ erhoben. Historiker mit wissenschaftsethischen Skrupeln gegenüber einer politisch gelenkten Geschichtsfälschung flüchteten zumeist in die Erforschung weniger brisanter Themenfelder. Historiker, die solche Fälschungen sogar anprangerten, sahen sich wegen dieses Dienstes an der Wahrheit umgehend selbst als „Fälscher“ entlarvt und wurden als dissidente Wissenschaftler bestenfalls stillgelegt. Unter ihnen sahen sich die radikalen marxistischen Kritiker der verantwortlichen Konstrukteure jener Ruinen sozialistischer Utopie in den staatskapitalistischen Regimes Ost- und Südosteuropas sowie Ostasiens[1] als Staatsfeinde behandelt und verstanden sich in der Regel selbst auch so, wenn sie stalinistische Geschichtsklitterung als Spielart von Antikommunismus qualifizierten. Erstaunlich kann es allenfalls genannt werden, dass einige Historiker unter solchen Bedingungen auf manchen Gebieten (so in der DDR zur Geschichte des 3. Reiches oder des antifaschistischen Widerstands) trotzdem respektable Leistungen erbrachten, die auch heute Bestand haben.

Wie fragil ein solcher herrschaftsgeleiteter Umgang mit der Geschichte und wie grotesk die Lage dienstwilliger Komplizen in der Historikergilde waren, hat György Dalos bereits 1970 (!!) in einer fiktiven Ansprache eines devoten Systemwächters satirisch verdichtet:

„Genossen! Im Jahre 1990 werden bei uns nicht wieder gutzumachende Dinge geschehen. Um was für Dinge es sich dabei handeln wird, ist vorläufig wegen der schlechten Quellenlage unerklärlich; aber eines ist sicher: wir müssen diese Dinge enthüllen und konsequent bekämpfen, und zwar mit Stumpf und Stiel. Einige Genossen werden wir dabei ablösen, andere aus der Partei ausschließen, wieder andere begraben oder umgekehrt aus dem Grab holen müssen. Ich bin jedoch der Ansicht, dass abgesehen von einigen Sektierern und Revisionisten alle ehrlichen Genossen mir beipflichten werden, wenn ich sage: Das was bei uns im Jahre 1990 geschehen wird, ist unserem Wesen völlig fremd und unvereinbar mit unseren Grundsätzen und wir können es mit Fug und Recht als verbrecherische Vergangenheit bezeichnen, wenn es uns nicht erst bevorstünde. … Dabei dürfen wir natürlich nicht übersehen, dass im Jahre 1990 auch positive Dinge geschehen werden, allerdings nicht auf Grund von Verdiensten der damaligen Führung, sondern vielmehr ungeachtet ihrer Fehler … Wir werden aber auch im Jahre 1990 zweifellos über genügend gesunde Kräfte verfügen, die sich für die richtige Perspektive entscheiden. Nur unverbesserliche Anarchisten und wirklichkeitsfremde Utopisten werden sich dann einbilden, dass es in unserer Gesellschafft noch etwas zu enthüllen gebe.[2]

2. Die „andere Seite“

Dass ehedem auf der „Gegenseite“, beim westlichen Systemantagonisten, namentlich in der Bundesrepublik, die Dinge so gänzlich anders lagen, ist nur mit einigen wesentlichen Einschränkungen richtig. Im Deutungskampf während der Systemauseinandersetzung dementierten westliche Geschichtswissenschaftler nicht bloß die grotesken Elaborate östlicher staatsbediensteter Auftragshistoriker. Westliche Historiker hatten sich vor allem zur dominanten Doktrin des staatlich verordneten Antikommunismus in der jeweils geltenden Variante zu positionieren, die das Feindbild „links“ in jeder Spielart erzeugte. Was „links“ war, bestimmten die zuständigen Leitbilddogmatiker – und nicht nur mit Blick auf den benachbarten Systemkonkurrenten: Gerade nach 1968 gab es in der Bundesrepublik Geschichtswissenschaftler, die sich sowohl dem antikommunistischen Leitkonsens entzogen, als auch der stalinistischen Geschichtsklitterung entschieden entgegentraten. Im dominanten Koordinatensystem des gewöhnlichen Antikommunismus waren sie als „linke Historiker“ gleichwohl verdächtig und – ganz entgegen ihrer tatsächlichen Haltung – dem Argwohn einer Affinität mit dem östlichen Systemantagonisten ausgesetzt, sobald sie den legitimatorischen westlichen Geschichts- und Gesellschaftbildkonstruktionen nur hinreichend kritisch gegenüberstanden.[3] Egal, ob zu Recht oder zu Unrecht dieser Affinität zum Osten verdächtig, setzten sich mit solchen als „links“ etikettierten Kantonisten nicht nur die staatsnahen Historiker im Rahmen des wissenschaftlichen Diskurses auseinander, sondern es wurden staatlicherseits auch Instrumente administrativer Natur wie Lehr- und Berufsverbote angewandt. Folglich hatten nicht allein die westlichen Komplizen östlicher Legendenschreiber ein keineswegs bequemes Berufsleben. Es war also gänzlich unerheblich, ob es sich um radikale linke Kritiker der nominalsozialistischen Diktaturen handelte, oder um westliche Parteigänger solcher Despotien, ausgewiesen etwa durch ihre Mitgliedschaft in westlichen Bündnisvereinigungen der östlichen Staatsparteien. Dass es zum Beispiel den belgischen marxistischen Ökonomen und Historiker Ernest Mandel, einen ausgewiesenen Antistalinisten, dessen Lehrtätigkeit in der Bundesrepublik nicht allein durch Genschers Einreiseverbot von 1972 zeitweilig verunmöglicht wurde, sondern der auch die USA, Frankreich, die Schweiz und Australien jahrelang nicht betreten durfte, ebenso traf, wie westdeutsche Adepten stalinistischer Geschichtsklitterung, ist keineswegs absurd: Gemäß der antikommunistischen Leitdoktrin des Kalten Kriegs waren westliche parteihörige Parteigänger der östlichen Regime als „Agenten des Systemantagonisten“ ebenso feindbildbesetzt, wie die linken antistalinistischen Kritiker sowohl dieses „Realsozialismus“, als auch des real existierenden Kapitalismus.

Von den daraus erwachsenden Pressionen waren Historiker noch am wenigsten betroffen – diese gingen schon früh quer durch alle Berufsgruppen. Nach der ersten Welle von Verfolgungen aufgrund des „Adenauer-Erlasses“ vom September 1950, welcher die Verfassungstreue öffentlich Bediensteter festschrieb und mit dem Mitglieder von zehn KPD-nahen Organisationen sowie der damals noch nicht verbotenen KPD diskriminiert wurden, rollte die Berufsverbotswelle in den 70er Jahren erst richtig an: Mit gesetzgeberischer Ausgestaltung der „Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“ vom 28. Januar 1972, später „Extremistenbeschluss“ oder „Radikalenerlass“ genannt, wurde anfangs mittels Regelanfragen beim Verfassungsschutz nicht etwa nach verfassungswidrigem Tun, sondern massenhaft (in ca. 1,4 Millionen Fällen) nach verdächtiger Gesinnung geforscht, wobei „begründete Zweifel“ bereits die Beschäftigung „in der Regel“ verhindern sollten.[4] Während der Konjunktur von Berufsverboten und gewerkschaftlichen sowie parteidisziplinarischen Unvereinbarkeitsbeschlüssen in den 70er Jahren zwang diese Spielart von „wehrhafter Demokratie“ in der Bundesrepublik so disparate Akteure wie die strikt antisowjetischen maoistischen K-Gruppler, die mit ihnen verfeindeten Angehörigen der nicht weniger dogmatischen prosowjetischen Ableger von DKP und SEW, aber auch parteiunabhängige Linke und selbst linkslibertäre und linkssozialistische Kritiker ebendieser Ausgrenzungspraktiken vor die gleichen Gesinnungsprüfungsausschüsse. Dass sich nicht etwa die (im Vergleich zur hohen Zahl der Überprüfungen relativ wenigen letztlich auch verfügten) Verbote und Ausgrenzungen selbst, sondern die hier aufgebaute Drohkulisse als eigentliches innenpolitisches Mittel zum Zweck der präventiven Einschüchterung entpuppte, spiegelt eine systemstabilisierende Notwendigkeit in den Zeiten der ostpolitischen Entspannungswende und der Duldung der DKP im Landesinneren ausgangs der 60er Jahre wider. Diese Einschüchterung dürfte damals den Normalzustand gesellschaftlicher Zivilcourage in der Bundesrepublik durchaus beeinflusst haben. Gefragt war ein regulierender Damm, denn es drängten während dieser Zeit massenhaft politisierte „68er“ in den öffentlichen Dienst. So wurde wenigstens innenpolitisch durch eine große Parteienkoalition der antikommunistische Konsens praktisch wieder gefestigt, was auch deshalb um so nötiger erschien, als inzwischen das vornehmlich gegen tatsächliche oder vermeintliche Kommunisten angewandte politische Strafrecht erheblich entschärft worden war. Immerhin wurden noch bis 1968 in schätzungsweise mehr als 200 000 Ermittlungsverfahren zwischen 7 000 und 10 000 der ca. halben Million in sie verwickelten Bundesbürger durch politische Sonderstrafkammern strafrechtlich verfolgt und in einigen Fällen zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt.[5] Auch wenn die benachbarte bürokratische Diktatur in der DDR bei der Verfolgung selbstdefinierter politischer Gegner und in der Praktizierung von Berufsverboten die bundesrepublikanischen Demokratiewächter stets locker übertraf, fiel in der jungen Bundesrepublik erheblich ins Gewicht, dass dort die Strafverfolgung Richter vornahmen, von denen sich etwa 80% bereits im Staats- und Justizdienst des Dritten Reiches betätigt hatten. Beim berüchtigten Landgericht Lüneburg durften sich wegen des Verstoßes gegen das KPD-Verbot angeklagte Kommunisten zuweilen anhören, sie hätten aus ihrer Inhaftierung zwischen 1933 und 1945 „nichts gelernt“[6]. Doch die Alarmrufe vieler Demokraten waren unbegründet: Wenn auch der demokratisch umzuerziehenden bundesrepublikanischen Gesellschaft im Kalten Krieg der Antikommunismus als Leitparadigma erhalten bleiben sollte, war der Rückweg zu einem kryptofaschistischen Regime verstellt. So laut auch die von der Justiz bedrängten Kommunisten in den 50er und die von den Notstandsgesetzen alarmierten rebellierenden Studenten der 60er Jahre vor diesem Gespenst warnten, blieb der BRD das Schicksal Chiles oder Griechenlands erspart. Nicht die personelle Renazifizierung so ziemlich aller Instanzen junger bundesrepublikanischer Staatlichkeit [7], sondern die Verlässlichkeit des neuen demokratisierten Bündnispartners innerhalb der westlichen antikommunistischen Allianz während der anhebenden Systemauseinandersetzung bestimmte den weiteren Weg des ersten deutschen Nachkriegsstaats. Dass hier (sicher zum Teil „demokratisch geläuterte“) ehemalige Nazirichter wieder über die gleichen Delinquenten wie vor 1945 zu Gericht saßen, war dabei allerdings nicht gerade hinderlich. Bedeutsam war vor allem, dass die Erfahrungsgemeinschaften antifaschistischer Widerständler aller politischer Couleur (und nicht nur die Kommunisten) vor erheblichen Problemen standen, wenn sie in staatlichen Instanzen oder im Wissenschaftsbetrieb Fuß fassen wollten. Und nur diese Gemeinschaften hatten überhaupt ein Interesse, auf einer rückhaltlosen Auseinandersetzung mit der deutschen Nazivergangenheit zu bestehen und diese auch zu führen.

Dass so etwas die westdeutsche Historikerzunft so gänzlich unbeeinflusst gelassen haben soll, mag glauben, wer will. Immerhin musste eine konsequente Analyse der wirtschaftlichen und politischen Verfasstheit der Nazi-Diktatur jeden Historiker zwangsläufig zu den Kontinuitäten zwischen dem alten Regimes und der bundesrepublikanische Realität führen. Dass solchen Enthüllungen mächtige Seilschaften entgegenwirkten, deren Geschäfts- und sonstige Interessen dadurch beschädigt werden konnten, ist evident. Schließlich war es dann auch ein langer mühsamer Weg, bis die Schweigegemeinschaft und die historiographische Schönfärberei in der Auseinandersetzung mit der deutschen Nazivergangenheit seit den 60er Jahren auch gesellschaftlich und mentalitätsgeschichtlich endlich unterhöhlt werden konnte. Die späte „Entdeckung“ des „Holocaust“ durch die Mehrheitsgesellschaft Ende der 70er Jahre in Westdeutschland – trotz Auschwitzprozess und 68er-Revolte – ist hier nur ein Beispiel. 1985 kam es endlich soweit, dass der 8. Mai 1945 mit den Weihen von Bundespräsident Weizsäcker als „Tag der Befreiung“ gesellschaftlich akzeptiert schien – obwohl ebendies von Beginn an die staatsoffizielle Haltung des Systemantagonisten DDR war. Mit dem Aussterben von immer mehr in bundesdeutschen Staatsdiensten gelandeten ehemaligen Hand- und Kopflangern der Nazidiktatur wuchs auch die öffentliche Bereitschaft, von deren Vergangenheit Kenntnis zu nehmen – obwohl seitens der DDR (und dortiger Historiker) seit Jahrzehnten immer wieder genau darauf verwiesen wurde, weshalb dies in Westdeutschland als kommunistische Propaganda abgetan werden konnte. Doch auch westdeutsche Historiker wussten längst Bescheid; eine kleine ehrbare Minderheit unter ihnen (darunter Götz Aly) hatte unbeirrt und wiederholt daran erinnert – aber das dienstbare politische Feuilleton war lange wirkungsmächtiger, als die Orakel von einzelnen Fachhistorikern, welche es wagten, gegen den Zeitgeist anzuschreiben. Doch nun schien der Weg gebahnt.

Nicht anders bei der „Eingemeindung“ der 68er Revolte in das bundesrepublikanische Geschichts- und Gesellschaftsbild. Die radikale Kampfansage der aufbegehrenden Studenten während der 60er Jahre an die Adresse des „Bonner Staates“, das linke Profil der APO und die Bezugnahme großer Teile der rebellierenden akademischen Jugend auf den Marxismus haben zu Zeiten der Konjunktur dieser Revolte gegen den Normalzustand bundesrepublikanischer Gesellschaftlichkeit damals geradezu reflexhaft zu der Einschätzung staatstragender Ideologen geführt, jene „Chaoten und Terroristen“ besorgten das Geschäft kommunistischer Umstürzlerei im Interesse des sowjetischen Blocks. In den folgenden beiden Jahrzehnten – mit dem Versanden dieses antiautoritären Aufbruchs in sektiererischen K-Gruppen, dem Weg vieler Akteure der APO zurück in die etablierten Parteien (vornehmlich in die SPD) bzw. dem neuerlichen Aufbruch über die entstehenden Neuen Sozialen Bewegungen hin zu den Grünen – wandelte sich diese Einschätzung: Nun goutierte auch der publizistische bundesrepublikanische Mainstream den emanzipatorischen Gehalt vor allem des kulturellen Gegenentwurfs dieser 68er-Revolte zum Konservatismus der Adenauer-Ära. Ebenso wurde der Beitrag dieser Bewegung zur im Nachkriegswestdeutschland verschleppten Auseinandersetzung mit der Nazivergangenheit anerkannt. Insgesamt würdigte man auch im Feuilleton schließlich die Verdienste der APO bei der nachholenden »inneren Demokratisierung« des von den Westalliierten auf diesen Weg gezwungenen ersten Nachfolgestaates des Dritten Reiches. Die episodische APO-Revolte schien in den 80er Jahren als im Wesentlichen progressiver soziokultureller Leitimpuls einer sich modernisierenden Bundesrepublik souverän in ihr zeitgeschichtliches Selbstbild und politisches Selbstverständnis integriert. Doch sowohl die anfangs dominierende vehemente politische Ablehnung als auch die integrierend-entschärfende kulturalistische Anerkennung der „68er“ basierten auf einer zweifelhaften Trennung von Politik und Kultur, die dem Inhalt der sozialen Kämpfe jener Zeit, die mögliche Alternativen zu den knechtenden Verhältnissen kapitalistischer und staatssozialistischer Vergesellschaftung aufscheinen ließen, kaum gerecht wurden. Aber immerhin: Nicht nur der zeithistorischen Forschung, sondern auch dem politischen Feuilleton gelang eine erste Annäherung an die Wirklichkeit.

3. Die „Stunde der Einheit“

Die Zäsur 1989/90 verhieß endlich auch einen „Tag der Befreiung“ für die (zeit)historische Forschung insbesondere zur Geschichte der DDR. Schließlich war die Zeit der Maulkörbe vorbei, die Archive untergegangener Diktaturen wurden zugänglich, die Stimmen der Zeitzeugen vernehmbar.
Also endlich Schluss mit der Instrumentalisierung der Geschichtswissenschaft auf beiden Seiten und auf allen Gebieten im Dienste einer Systemauseinandersetzung, die jetzt entschieden war?

Zu früh gefreut. Mit dem Verschwinden der poststalinistischen Diktaturen feiern diverse Geschichtsbilder Wiederauferstehung, die häufig neu aufgewerteten undifferenzierten Diktaturanalysen totalitarismustheoretischer Prägung entstammen. Die Gleichsetzung von Kommunismus und Nazismus begünstigt diverse Spielarten von geschichtsrevisionistischen Relativismus und dogmatischem Absolutismus sowohl in der NS-Forschung als auch in der Erforschung stalinistischer und poststalinistischer nominalsozialistischer Diktaturen. Es reüssieren absurde Thesen über die Kriegszielpolitik der Nazis jenseits des gesicherten Erkenntnisstands der NS-Forschung (etwa bei Götz Aly)[8] , wird der „Tag der Befreiung“ wieder mit einem Fragezeichen versehen (Hubertus Knabe)[9], sehen sich Analysen zur Teilhabe der Deutschen Wehrmacht an den Verbrechen des SS-Staats ins Zwielicht gerückt (Debatte zur Wehrmachtausstellung), geraten die Verfasser der Studie zur Nazi-Vergangenheit von Mitarbeitern des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik wie zu alten Zeiten in den Verdacht, bloß das hetzerische „Braunbuch“ der DDR von anno 1965 rehabilitieren zu wollen (Debatte um „Das Amt“)[10] , wird vom Präventivkrieg Hitlers gegen Stalin gefaselt usw. usf.[11] Ernst Nolte und Co. scheinen gegenüber ihren Kritikern aus dem Historikerstreit seligen Angedenkens (1986) wieder an Boden zu gewinnen. Nicht anders bei der zeitgenössischen Sicht auf 1968: Anstatt der berechtigten Forderung nach einer umfassenden Historisierung dieser Periode zu entsprechen, ist seit den 90er Jahren verstärkt eine merkwürdige Rückkehr zu den Paradigmen der ursprünglichen Einordnung dieses Phänomens in das Kalte-Krieg-Schema „kommunistischer Unterwanderung“ der Bundesrepublik auf dem Vormarsch. Neben der Verlautbarung, was im Westen „links“ gewesen sei, wäre „vom Osten gesteuert“ gewesen (Hubertus Knabe), sind in den zeitgenössischen Feuilletons und historischen Analysen zahlreiche Publizisten, Historiker und einige geläuterte ehemalige Akteure und Zeitzeugen überdies darum bemüht, 1968 und 1977 „kurzzuschließen“: Die Botschaft heißt „Linke Gesellschaftskritik und Terror gehen Hand in Hand“. Die „68er als Wegbereiter des Terrors der RAF“ sind heute bereits eine neue Chiffre der Deutung jener studentischen Protestbewegung geworden. Den Versuch, gleich die ganze APO als „Linksfaschismus“ zu denunzieren („1968 war ein Spätausläufer des europäischen Totalitarismus“), also in ihrer vermeintlich totalitären Verfasstheit zum Nationalsozialismus parallel zu schalten, unternimmt neuerdings Götz Aly[12].
Und was ist mit der Geschichte von Opposition und Widerstand in der DDR?

4. Das sperrige Erbe der „Herbstrevolution“

Es verwundert kaum, dass auch die jüngste Zeitgeschichtsschreibung von abwegigen Konstruktionen überlagert wird. Hier soll im Weiteren nur von einer Variante solcher „Neudeutungen“ die Rede sein, nämlich von dem Geschichtsbild, das von einigen Zeithistorikern und überwiegend im politischen Feuilleton heute von der Opposition in der DDR der 80er Jahre gezeichnet wird. Ganz offensichtlich soll das Bild dieser sperrigen Opposition möglichst reibungslos in die identitätsstiftenden Prägungen des Selbstbilds der wiedervereinigten „Berliner Republik“ eingefügt werden. Diesem Bild gemäß ergab sich der Sinn der demokratischen Herbstrevolution von 1989 als die Herbeiführung der deutschen Einheit zu den Bedingungen der auf das wiedervereinigte Deutschland zu übertragenden unveränderten Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland von vor 1989. Doch Anfang der 90er Jahre war es der Bevölkerung noch sehr gegenwärtig, dass im Herbst 1989 die aus der DDR-Opposition entstandenen „Neuen Politischen Vereinigungen“ ihren Aufruf für eine gegen die SED zu erkämpfende demokratische Revolution in der DDR keineswegs mit einer Absage an den Sozialismus verknüpften. Vielmehr sei ein „Sozialismus der Freiheit und Demokratie“ gegen den von der SED zu verantwortenden Scheinsozialismus, genannt „real existierender Sozialismus“, zu verwirklichen. Obwohl allein die „Initiative Vereinigte Linke“ eine explizit auf den demokratischen Sozialismus orientierende Programmgruppe darstellte und schon deshalb eine revolutionierte eigenständige DDR anstrebte, fanden sich selbst in den Flugblättern und im Grundsatzprogramm des später zur „Allianz für Deutschland“ konvertierenden „Demokratischen Aufbruch“ Sätze wie: „Der Demokratische Aufbruch … tritt für eine sozialistische Gesellschaftsordnung auf demokratischer Basis ein.“ Seine Mitglieder „… wehren sich gegen die Unterstellung, die DDR in kapitalistische Verhältnisse zurückreformieren zu wollen“. Und: „Wir gehen von der deutschen Zweistaatlichkeit aus. Ein aktives Aufeinanderzugehen der beiden deutschen Staaten im Rahmen einer europäischen Friedensordnung unterstützen wir.“[13] Ähnliche Formulierungen finden sich in allen Gründungspapieren der neuen oppositionellen Vereinigungen. Obwohl diese Vereinigungen vor den neuen Herausforderungen im Verlauf der Herbstrevolution und nach der Maueröffnung sowie in der gewandelten historischen Situation seit Ende November 1989[14] versagten, bleibt jedoch zu konstatieren, dass die Mehrheit der oppositionellen Vereinigungen ihre Ablehnung einer Wiedervereinigung in Form eines Anschlusses an die Bundesrepublik mit dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches und seiner Sozialcharta auch substantiell untermauerten. Spätestens im Januar 1990, nach der Maueröffnung, den Kohl´schen Offerten und Modrows „Deutschland einig Vaterland“ wurde auch in der Mehrheitsbevölkerung klar, dass es keine politikmächtige Kraft für die Verwirklichung einer eigenständigen Alternative in der DDR gab – auch nicht die originäre DDR-Opposition und ihre Gruppierungen. So waren neben der PDS ebenso die „Neuen Politischen Vereinigungen“ die Wahlverlierer des März 1990.

Nun sind heute weder die Verlaufsgeschichte der mitunter abenteuerlichen Neujustierungen einiger dieser Vereinigungen noch die „Entsorgung“ ihres „Runden-Tisch-Vermächtnisses“ durch die Wahlsieger und die Treuhand nennenswerte Themen der „Aufarbeitung“: Die Auseinandersetzung damit passt einfach nicht in das erwähnte bieder gezeichnete Sinnbild der Berliner Republik von der Herbstrevolution in der DDR, welches dem Gründungsmythos des „neuen Deutschland“ seit 1990 aufhelfen soll. Erleichtert wird dies auch dadurch, dass die Neuen Politischen Vereinigungen des Herbstes 1989 überwiegend spurlos in ihren westlichen Wirtsparteien verschwunden sind. Die in ihnen noch tätigen Parteiarbeiter aus den absorbierten östlichen Gruppierungen halten sich brav an die jeweilige Parteideutungsorder. Der Zusammenhang dieser „Assimilation“ mit der seit dem Frühjahr 1990 erfolgenden mehrheitlichen „Abwendung“ der Neuen Politischen Vereinigungen von ihren Ursprungspositionen ist deshalb bis heute kaum untersucht. Noch weniger ist dem erwähnten Gründungsmythos die Thematisierung der politischen Ziele, des Selbstverständnisses und der Selbstlegitimation jener oppositionellen Gruppierungen der 80er Jahre (also der Vorläufer der politischen Vereinigungen des Herbstes 1989) dienlich – geschweige denn eine Bilanz der Verwirklichung ihrer Ziele im wiedervereinigten Deutschland. Denn ihre Leitbilder fußten auf einer systemübergreifenden Kritik an den Paradigmen einer wachstumsfixierten industriellen Moderne, an der Degradierung des Menschen zu entmündigten Produzenten in der „Megamaschine“ und ihrer Einzäunung als scheinfreie Konsumenten. Gerade in Hinblick auf sehr gegenwärtige gesellschaftliche Widersprüche verträgt sich die Thematisierung gewisser damaliger oppositioneller Diskurse ganz schlecht mit der heutigen erinnerungspolitischen Norm. So ging es in der DDR-Opposition zum Beispiel auch um die systembedingten Hemmnisse für die Herbeiführung einer „gerechten Weltwirtschaftsordnung“, um den interessengeleiteten Relativismus in der Menschenrechtsfrage während der Blockkonfrontation und um die Ursachen und Verursacher der „Schuldenkrise“ in den 80er Jahren. Deshalb finden sich heute im subventionierten Erinnerungsbetrieb beispielsweise kaum Hinweise auf die DDR-weite Aktionswoche gegen die Westberliner IWF/Weltbank-Tagung 1988. Diese Aktionswoche wurde von den oppositionellen Gruppen zeitgleich mit der Westberliner Parallelkampagne und in Kooperation mit diversen Westberliner NGO´s sowie anderen linken außerparlamentarischen Vereinigungen organisiert und gipfelte in der „Potsdamer Erklärung“ der DDR-Opposition gegen die IWF-Politik. Solche erinnerungspolitischen Defizite sind keineswegs zufällig – nicht allein die kapitalismuskritische Ausrichtung der DDR-Opposition, sondern auch deren Ablehnung eines wachstumsfetischistischen Ökonomismus in Ost und West passen nicht so recht in das heutige Credo von Marktlogik und fortwährender wirtschaftlicher Expansion. Diese Diskurse griffen weit über damals Bestehendes und auch heute Fortexistierendes hinaus. Nicht allein die blockübergreifende unabhängige Friedensbewegung, sondern die DDR-Opposition in Gänze verweigerte sich damals einem Bekenntnis für einen der Systemkonkurrenten. Sie folgte (wie damals auch ihre Bündnispartner im Westen) eher der doppelt zugewidmeten Einsicht „Das System ist der Fehler“[15]. Das wiederum verträgt sich überhaupt nicht mit dem heutigen Konzept der verstaatlichten Erinnerung an diese Opposition.

Anfang der 90er Jahre waren diese Tatsachen auch im Bewusstsein von Zeithistorikern durchaus präsent. Dies löste sogar einen „kleinen Historikerstreit“[16] innerhalb der totalitarismustheoretisch geprägten Historikergilde aus. Er tobte zwischen jenen, die der DDR-Opposition wegen ihrer „sozialistischen Flausen“ die „Demokratiefähigkeit“ (natürlich im Sinne gegenwärtiger bundesrepublikanischer Lesart) und somit auch gleich ihren Charakter als „Opposition“ absprachen und nur noch Dissidenz zu erkennen vermochten (Martin Jander oder Christian Joppke) und jenen, die sich in der „Ehrenrettung“ dieser Opposition versuchten, indem sie wiederum deren sozialistische Attribute herunterspielten, um sie so besser in den Kanon heutiger gesamtdeutscher Gesellschaftlichkeit eingemeinden zu können. Diese doppelte Falschmünzerei fiel natürlich einigen wenigen Zeithistorikern auf (Christof Geisel) und sie konnten sich mit ihrer Lesart von einer „Opposition auf der Suche nach dem dritten Weg“ der Schelte beider Fraktionen sicher sein[17]. Obwohl die politisch alternativen Gruppen in der DDR der 80er Jahre längst nicht mehr wie die stringent linksoppositionell kenntlichen, zumeist konspirativ arbeitenden Programmgruppen der 70er Jahre tätig waren, fehlte in ihren Bekundungen jede Absage an einen demokratischen Sozialismus. Wer die Programmpapiere und Verlautbarungen der 80er-Jahre-Gruppen betrachtet, wird dort Positionierungen finden, die am ehesten libertär-sozialistische Züge aufweisen – ob nun in christlicher, marxistischer, anarchistischer oder sonstiger Ausprägung. Und damals war der Begriff „demokratischer Sozialismus“ zudem eine verbale Kampfansage an den real existierenden Politbürokratismus und den historischen Stalinismus – also gemeinhin in der Opposition positiv besetzt. Heute gefallen sich einige „geläuterte“ Ex-Oppositionelle in der Schutzbehauptung, dies sei eher taktisch begründet und dem Ausweichen vor Verfolgung geschuldet gewesen – eine besonders freche Verfälschung, die höchstens für die Verkünder dieser Deutung zutreffend sein mag. Schließlich wurde der Angriff auf den Stalinismus „von links“ seitens der Herrschenden stets und zu Recht für gefährlicher gehalten als Forderungen nach der Einführung bundesrepublikanischer Verhältnisse in der DDR.

Neben der ritualisierten Feier der „Herbstrevolutionäre“ erfreuten sich gleich nach der „Wende“ die Aktivisten der DDR-Opposition im Feuilleton salbungsvoller Komplimente ob ihrer „Zivilcourage“, ergänzt um ironische Anmerkungen wegen ihrer „Weltfremdheit“ oder kritisiert wegen ihrer Neigung zu „sozialistischen Illusionen“. Der Erfolg der „Herbstrevolution“ wurde ansonsten auf Kohl bzw. die Ausreisebewegung zurückgeführt oder als Folge der Implosion der DDR-Ökonomie und der Legitimationskrise des Regimes erklärt. Die entscheidende Tatsache aber, dass die Machtfrage durch die Massendemonstrationen des Oktober 1989 in Leipzig und Berlin gestellt war und eine letale Herausforderung des SED-Regimes darstellte, an der es letztlich scheiterte, blieb weiter gegenwärtig. Der dort hörbare Ruf „Wir bleiben hier“ – als Drohung gemeint und von den Herrschenden auch so verstanden – war zusammen mit der Botschaft „Wir sind das Volk“ dann auch wirksam. Zuvor hatten die Massenflucht vom Spätsommer 1989 und die Aktionen der Opposition (Aufdeckung der Wahlfälschungen, Proteste gegen die Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung, die Solidarisierung mit den politisch Inhaftierten und die wachsende Öffentlichkeitswirkung solcher Aktionen) zwar die Krise beschleunigt und die Bürokratie geschwächt, aber noch nicht die Machtfrage formuliert. Die Opposition war eher die „Zündkerze“ für die dann entscheidenden Oktober-Demonstrationen als „Motor der Herbstrevolution“, die ganz ohne die Forderung nach einer Wiedervereinigung auskamen. Doch nach dem Kollaps der SED und der Maueröffnung sollte sich das „Gemisch“, was hier gezündet wurde, mit der sich wandelnden historischen Situation bis Dezember erheblich in seiner Zusammensetzung verändern („Deutschland einig Vaterland“). Mit dem Ausgang des revolutionären Umbruchs hinein in die Wiedervereinigung wandelte sich auch der Tenor der medialen Botschaften: Der massenhafte Loyalitätsentzug durch DDR-Bürger in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, welcher zu großen Teilen Ausdruck im Begehren auf Übersiedlung in die BRD fand, war demnach der Nagel zum Sarg der herrschenden Politbürokratie. Entsprechend verengte sich später auch die mediale Repräsentation des Jahres 1989: Überwiegend waren Massenflucht und Ausreise, die Maueröffnung und spektakuläre Fluchtgeschichten des letzten Jahrzehnts im Angebot.

Nun zeichnete sich auch für dienstbare Zeithistoriker ein geschichtspädagogisches Koordinatensystem zur „Aufarbeitung der SED-Diktatur und der friedlichen Revolution in der DDR“ ab: Der Mauerfall sollte als Gründungsmythos der erweiterten Bundesrepublik[18] mehr und mehr auch die Deutungsmuster für die DDR-„Oktoberrevolution“ abgeben. In diesem Sinne wurde das Handeln der Akteure des „Vorherbstes“ (die oppositionellen Gruppen der 80er Jahre in der DDR) als „Wegbereiter der Wiedervereinigung“ neu interpretiert. Dementsprechend etablierte sich in den letzten beiden Jahrzehnten eine staatlich subventionierte „Aufarbeitungsmaschine“ (im Wesentlichen die Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Einrichtungen des Bundesbeauftragten und der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen), welche Lawinen von geschichtspolitischen „Events“ produzieren, denen die Problematisierung von Konfliktstoffen eher fremd ist und in denen vorwiegend die Vermittlung der staatspolitisch „richtigen Botschaft“ betrieben wird. Diese Institutionen sind an ihren Verkündigungsauftrag gebunden, der staatspolitischen Correctness verpflichtet und risikoscheu. Als „Gedenkkartell“ erringen sie, nicht zuletzt mit ihrer Ressourcenausstattung, gesellschaftliche Deutungshoheit und produzieren konforme begriffliche Definitionsmacht. Hier ist der Ort subkutaner Normierungsprozesse für die „erinnerungspolitischen Leitlinien“. An dieser Produktion sind vermehrt auch ehemalige „gewendete“ Akteure der DDR-Opposition verantwortlich beteiligt. Der Konformitätsdruck auf Historiker an universitären oder außeruniversitären wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen ist geringer; in ihrer Mehrheit sind die dortigen Wissenschaftler aber ständig auf der Jagd nach Fördergeldern und getrieben von der Frage: Was mag den potentiellen Förderer wohl geneigt stimmen?

Schließlich gibt es noch die unabhängigen Archive, Begegnungsstätten und Vereine, welche ehedem im Umfeld der oppositionellen Vereinigungen entstanden. In diesen Archiven befinden sich jene Originaldokumente mit den damaligen Positionierungen und Forderungen namentlich der Opposition der 80er Jahre, welche massiv die dominierenden zeitgenössischen Geschichtsbildkonstruktionen infrage zu stellen vermögen. Diese Einrichtungen könnten mit ihrem Personal den geschichtspolitischen Anstrengungen des „Aufarbeitungskartells“ und ihrer staatspädagogischen Leitbildproduktion jene differenzierte Sicht auf die Opposition entgegensetzen, welche nach dem Maßstab der Leitlinien verstaatlichter Erinnerung eher hinderlich wäre. Jene Vereine haben in den 90er Jahren mit Verve ihre Unabhängigkeit zu verteidigen versucht und sich ihrer „Verstaatlichung“ zu erwehren verstanden. Doch auch sie sind von der Gewährung von Fördergeldern abhängig. Wohin das führen kann, ist am Beispiel der Havemann-Gesellschaft zu besichtigen. Sie wird fast nur noch im Gespann mit Institutionen des Gedenkkartells öffentlich wahrnehmbar und tritt kaum noch eigenständig mit authentischen Sichtweisen jenseits des Mainstreams in Erscheinung, für deren Vermittlung es mehr als genug Veranlassung gäbe. Sie betreibt die Verstetigung ihrer Existenz praktisch durch ihre freiwillige „Verstaatlichung“. Ein anderes Beispiel ist die Zeitschrift „Horch und Guck“ des Bürgerkomitees 15. Januar. In dieser Zeitschrift zur Geheimdienst- und Gesellschaftsgeschichte der DDR fanden sich bis 2007 ganz im Geiste der alten DDR-Opposition auch Beiträge zu zeitgenössischen Umtrieben von Geheimdiensten, Militär und in der aktuellen Politik, bis die fördernde „Stiftung Aufarbeitung“ ein solches Profil als nicht mehr förderwürdig erkannte. Mit ihrem Neustart verzichtet die (nunmehr wieder geförderte) Zeitschrift dann auch weitgehend auf solche Themen. Zuvor konnte man sich hier auch über aktuelle Wortmeldungen aus Kreisen der alten DDR-Opposition informieren, die sich unter positiver Bezugnahme auf den Herbst 1989 etwa gegen den heutigen Ausbau des Überwachungsstaates richteten („Wir haben es satt“, 2001), zeitgenössischen Militarismus thematisierten oder sich mit den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV solidarisierten. Die Abgrenzung von solchen Bekundungen seitens einiger „Promis“ aus dem Kreis der DDR-„Alt-Opposition“ kam vorwiegend von jenen, die selbst über Parteien oder Institutionen duldend oder mitgestaltend in den Gegenstand der Proteste verwickelt waren. Hier bereits schieden sich die Geister auch in diesem Milieu. Sichtbar wurde dies besonders, als 2007 – just zum gefeierten Jahrestag des (gescheiterten) Überfalls der Stasi auf die Redaktion der Umweltblätter 1987 – auch ehemalige Redakteure ihrer Nachfolgezeitschrift „telegraph“ (vergeblich) von der Bundesanwaltschaft mit skandalösen Ermittlungsverfahren (eines davon verbunden mit Haft) überzogen wurden. Während die altoppositionelle Feiergemeinde dies mit dröhnendem Schweigen begleitete, gab es aus Kreisen der „von Natur aus“ äußerst vorsichtigen Wissenschaftlergilde geharnischte Proteste.

5. Epilog: Zu den mentalen und materiellen Quellen des geschichtsrevisionistischen Opportunismus

Man sollte meinen, dass gerade Historiker besonders resistent sind gegenüber der Versuchung, die Umrisse des zeitgenössischen „Bild[s] der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als mit ihm gemein erkannte“[19] , zu manipulieren. Doch diese schöne Denkfigur Walter Benjamins führt auch gleich zu weiterreichenden Fragen: Welchen politischen Gebrauchswert haben Geschichtsbilder, die in erster Linie an ihrer Dienstbarkeit für den herrschenden Systemkonsens gemessen werden wollen? Welche Antriebe sind hier bei Wissenschaftlern und bei einigen Akteuren und Zeitzeugen, die es besser wissen müssten, wirksam?

In einer jüngst stattgefundenen Diskussion über die Wirklichkeit der Aufarbeitung von DDR-Geschichte hat der ehemalige Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Sachsen einen Fingerzeig gegeben: Je stärker sich der beobachtende Zeithistoriker mit jener Sicht auf den Charakter der Herbstrevolution als alternativloser Utopieverweigerung identifiziert, um so ausgeprägter scheint seine Bereitschaft, dass er auch die „Vorwendezeit“ mitsamt der ganzen DDR-Opposition rückblickend „ein[…]taucht in die Farben der weitreichenden Alternativlosigkeit der Nachwendezeit“ und damit „die inhaltlichen Ansätze der DDR-Opposition im Nachhinein ab[…]wertet oder – zumindest indirekt – für erledigt bzw. für irrelevant erklärt“[20]. Hier sind dann bereits die Weichen für selektive Wahrnehmung und Interpretation gestellt[21] . Mit Behauptungen wie der, dass die Ziele der DDR-Opposition heute im neuen Deutschland eingelöst seien, hatte sich schon vor über zehn Jahren der damals noch amtierende Behördenleiter Joachim Gauck den Protest etlicher Alt-Oppositioneller eingefangen[22]. Seither kreist die Frage im Raum, ob die Fähigkeit, Missstände als solche zu erkennen und schließlich auch die Bereitschaft, gegen sie anzugehen oder sie wenigstens zu benennen, auch bei oppositionell sozialisierten Akteuren mit wachsender Staatsnähe abnimmt.

Anders als noch Anfang der 90er Jahre wäre es heute für die Einvernahme der DDR-Opposition in den definierten Gedenkkanon von Herbstrevolution und Gründungsmythos des wiedervereinigten Deutschland tödlich, an deren „sozialistische Flausen“ (wie es noch vor 20 Jahren hieß) zu erinnern. Denn die heutige Gleichsetzung von Sozialismus (und Kommunismus) mit dem real existierenden Stalinismus und Poststalinismus insbesondere in der DDR sowie die Leugnung auch nur der Denkbarkeit der Alternative eines „demokratischen Sozialismus“ (wie ihn das SED-Regime auch in Gestalt der Forderungen oppositioneller Gruppierungen in der DDR erbittert bekämpfte) würde diese Opposition (zumal sie den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik ablehnte) für das erstrebte „Heldenbild der Herbstrevolutionäre“ innerhalb des neuen bundesrepublikanischen Gründungsmythos unbrauchbar machen. Das Feindbild „demokratischer Sozialismus“ teilten sich also die staatlichen Selbstbildkonstrukteure der SED und (mehrheitlich) der Bundesrepublik. Deshalb auch das beharrliche Beschweigen dieser Tatsachen im Feuilleton, denn ihre Thematisierung würde auch zu den Originaldokumenten dieser Opposition (gut verwahrt z. B. im Havemann-Archiv) führen und so gedenkpolitisch irritierende Debatten auslösen

Der hier glossierte eher periphere zeithistorische Streit um die Gestalt der DDR-Opposition ist lediglich die Facette eines wiederkehrenden allgemeinen Paradigmas. In der politischen Sphäre ist der aktuelle politische Gebrauchswert des inflationär benutzten und in der Regel willkürlich und denunziatorisch angewandten Vorwurfs an die Adresse gewisser Akteure, es seien sozialistisch/kommunistische Umtriebe am Werk, evident: Nach der finalen Niederlage des diskreditierten östlichen Systemkonkurrenten und trotz der anhaltenden Schwäche der politischen Linken insbesondere in der Bundesrepublik geriet in den letzten Jahren infolge der bekannten Krisenerscheinungen überraschend die Frage nach der Legitimität des herrschenden ökonomischen und politischen Systems doch wieder auf die Tagesordnung. Zudem mehren sich Revolten in verschiedenen Ländern und erhöhen sich die sozialen Spannungen. Jede den Systemkonsens oder den Klassenkompromiss bedrohende Empörung mit dem Kontaktgift „Kommunismus“ zu kontaminieren, verspricht deren nachhaltige Delegitimierung und spart den Einsatz des Polizeistaats.

Dass sich in der alten Bundesrepublik und im neuen Deutschland „geläuterte“ frühere Linke mitunter deutlich hervortun, wenn es um die eilfertige Legitimation jeweils aktueller systemkonformer Geschichtsbilder, Politikmuster und Deutungsnormen geht, ist schon auffällig. Die Erklärung für die allein politisch schwer erklärbare Radikalität öffentlicher Angriffe mancher ehemaliger Angehöriger „linksextremistischer“ Organisationen auf ihre frühere (partei)politische Heimat dürfte vielschichtig sein. Aber die prekäre politische wie wirtschaftliche »Wiedergeburt« solcher »Ehemaligen« im definierten gesellschaftlichen Normalzustand wird durch solche „gewendete Radikalität“ jedenfalls begünstigt: Die besonders martialische und eifernde Abrechnung mancher Ex-Parteimitglieder mit dem »Kommunismus«, welche sich von der nüchternen Haltung sonstiger Kritiker (post)stalinistischer Parteien mitunter auffällig abhebt, bietet neben dem Moment des notwendigen Mehraufwands an überzeugender Distanzierung von ehemaligen Positionen auch die Aussicht auf eine neue materielle Existenzgründung. Für frühere K-Gruppler war der Weg von ihrem gut trainierten Antisowjetismus zum zeitgenössischen Antikommunismus naturgemäß äußerst kurz. Manche ehemalige „68er“ unter den GRÜNEN, die ursprünglich angeekelt dem anpasserischen Karrierismus und den obszönen Normen der Ausbeutergesellschaft die kalte Schulter zeigten, haben instinktiv einen besonders lukrativen Weg gefunden, ihre Enttäuschung über die Erfolglosigkeit ihrer revolutionären Attitüde und die frustrierenden Entbehrungen ihres Aussteigertums zu sublimieren: Mit dem Sieg der Realos bei den Grünen bot sich jede Menge Gelegenheiten, ihren nachholenden Karrierismus dort auf parteipolitischen Weg zu verwirklichen. Über die Distanzierung von den Zielen der „68er“ und der politischen Domestizierung der Inhalte grüner Basisbewegungen war auch der Boden bereitet, auf dem ein ehemaliger Aussteiger zum kriegführenden Außenminister und als geläuterter Atomkraftgegner zum Berater des Kernkraftwerksbetreibers RWE wurde. Darüber geht man nicht nur bei der neuen Mittelstandspartei DIE GRÜNEN umstandslos zur Tagesordnung über: Wirklich objektive Autorität braucht keine moralische Legitimität. Umfaller und Wendehälse sind also beileibe kein ausschließliches Thema für die (Ex-) Bewohner der (Ex-)DDR. Wenn auch die Verve, mit der manche gewendeten ehemaligen SED-Mitglieder auf den stinkenden Leichnam SED einprügeln, als ob sie heute so noch einmal ihre eigene Vergangenheit bewältigen müssten, mitunter komische Züge annimmt.

Und unsere ehemaligen Freunde und Partner aus der DDR-Opposition, die heute mal beflissen sich nach der von anderen ausgemessenen Decke streckend, mal missmutig schweigend angesichts aufgeherrschter Zumutungen sich resignierend und mehr und mehr anpassend selbst verharmlosen? Ehe wir auch sie mit solchen Maßstäben messen, wollen wir ihnen zugestehen, dass sie unbestechlich (und nicht anders kennen wir sie ja) wirklich glauben, was sie heute vertreten.

Und wenn nicht – was ist eigentlich schlimmer?

 [1] Karl-Heinz Roth, Geschichtsrevisionismus und Krieg, Wildcat-Zirkular Nr. 50/51 – Mai/Juni 1999 – S. 44.

 [2] György Dalos, Meine Lage in der Lage, Beilage zum Kursbuch 23, Berlin 1970.

 [3] Dieses Konstrukt war übrigens genau spiegelverkehrt-identisch mit den Zuschreibungen der herrschenden Stalinisten im Osten an die Adresse der linken Opposition im eigenen Lande: Ganz entgegen deren tatsächlicher Haltung wurden sie als Handlanger, Komplizen oder Agenten des westlichen Systemkonkurrenten diffamiert.

 [4] Nach den Erhebungen der Initiative »Weg mit den Berufsverboten« und den Erkenntnissen des Untersuchungsausschusses der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gab es 35 000 Mitteilungen des Verfassungsschutzes an Einstellungsbehörden über vorliegende »Erkenntnisse«. Neben Bewerbungsablehnungen, Entlassungen, Disziplinarverfahren und Anhörungen führte all dies zu über 10 000 Berufsverbotsverfahren, die aber nicht zuletzt infolge öffentlicher Proteste nur in wenigen Fällen (zwischen 1000 und 2000) auch zu Berufsverbotsmaßnahmen führten. Siehe dazu: Thomas Klein, SEW – Die Westberliner Einheitssozialisten, Berlin 2010, Kapitel 4, S. 37ff.

 [5] Hans Daniel, Tief im Graben des Kalten Krieges, in: Junge Welt vom 24.5.2005; Christoph Seils, Geist der NS-Zeit, in: Die Zeit vom 17.8.2006.

 [6] Ebenda.

 [7] Die Entnazifizierung auf Grundlage des alliierten Kontrollratsgesetzes Nr. 4 (1945) und den Kontrollratsdirektiven Nr. 24 und 38 (1946) scheiterte 1947/48 in Westdeutschland mit der Übertragung ihrer Umsetzung an die Behörden der deutschen Länder: Bis auf wenige Hauptbelastete diffundierten ehemalige Regimestützen in die Gruppe der »Entlasteten«. Im Mai 1951 eröffnete das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse ehemals öffentlich bediensteter und nicht als »schuldig« eingestufter Nationalsozialisten (das »131er Gesetz«) einen Rechtsanspruch auf Wiedereinstellung. Nunmehr gelangten in großer Zahl ehemalige NS-Beamte, Nazi-Richter und -Staatsanwälte, die im Rahmen der Entnazifizierung entlassen worden waren, wieder in hohe Staatsdienstfunktionen der neuen Bundesrepublik. Dies erfasste förderhin gleichermaßen die Geheimdienste, Sicherheitsapparate, das Auswärtige Amt samt Diplomatischem Corps, später die Bundeswehr etc. Ebenda.

 [8] So avancierte die nationalsozialistische Sozialpolitik als „Steigerung des allgemeinen deutschen Wohlstands“ bei Aly von einem Mittel zur innenpolitischen Stabilisierung zum eigentlichen Zweck der Raubkriegsführung. „Dieses Ziel und nicht die Interessen der Herren Flick, Krupp oder Abs bildeten die entscheidende Triebkraft für die Politik des Verbrechens.“ (Süddeutsche Zeitung vom 1.9.2004). Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2005. Im Subtext betreibt Götz Aly in den Zeiten von Hartz IV die Denunziation des Sozialstaates als eigentlich faschistoid. Zur Kritik von Alys Thesen siehe: Sebastian Gerhard, Verzerrte Perspektive, junge Welt v. 6.5.2005.

 [9] Hubertus Knabe, Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland, Berlin 2005.

 [10] Die Debatte um „Das Amt“: Ein Interview mit Eckart Conze und Annette Weinke, Zeitgeschichte Online August 2011.

 [11] „… schon jetzt gibt es kein zweites Feld der neueren Geschichte, auf dem die Forschungsergebnisse der Historiker und die von den Mainstreammedien erzeugten Geschichtsbilder so weit auseinander liegen wie auf dem der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs.“ Kurt Pätzold, Nach einem Jahrestag, junge Welt v. 28.6.2011.

 [12] Götz Aly, Unser Kampf. Ein irritierter Blick zurück, Frankfurt a. M. 2008.

 [13] Thomas Klein, Die neuen politischen Vereinigungen und ihre Wendungen, in: Gerd-Rüdiger Stephan, Andreas Herbst, Christine Krauss, Daniel Küchenmeister, Detlef Nakath (Hg.), Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch, Berlin 2002, S. 204f.

 [14] Im Herbst 1989, als die Entscheidung zu treffen war, sich entweder mit den alten Machthabern (SED) und ihren Handlangern (Blockparteien, Regierungsapparat) an einen Runden Tisch zu setzen oder von einem Runden Tisch der Opposition aus zuerst den Rücktritt des Politbüros und der Regierung zu erzwingen und dann über eine provisorische Regierung aus Opposition und reformwilligen Kräften die weitere Entwicklung zu gestalten, versagten die Bürgerbewegungen das erste Mal, als sie sich mehrheitlich für einen Runden Tisch mit den Blockparteien entschieden. Die Neuen Politischen Vereinigungen versagten erneut, als sie allesamt vor der auf der Tagesordnung stehenden „deutschen Frage“ den Kopf in den Sand steckten.

 [15] Ausführlich siehe: Thomas Klein, „Frieden und Gerechtigkeit“. Die Politisierung der unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre, Köln/Weimar 2007.

 [16] Bernd Gehrke, Manch Neues und ein Historikerstreit en miniature, IWK 2 (2003).

 [17] Christof Geisel, Auf der Suche nach einem dritten Weg. Das politische Selbstverständnis der DDR-Opposition in den 80er Jahren, Berlin 2005.

 [18] Sebastian Gerhard, Arbeit am Mythos. Der Mauerfall als Gründungslegende der vergrößerten BRD, in: SoZ – Sozialistische Zeitung 12/2009.

 [19] Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, V. These.

 [20] Michael Beleites, Die Zukunftsfragen nicht aus dem Blick verlieren. Gedanken nach 10 Jahren als Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Horch und Guck Heft 71, März 2011, S. 71. Beleites schlug ebenfalls vor, sich dem Dualismus einer politischen Bildung zu verweigern, „die Diktaturgeschichte deswegen vermittelt, um die Demokratie zu legitimieren“ und statt dessen an die Diskurse jenen Teils der DDR-Opposition anzuknüpfen, der den „Dritten Weg“ beschreiten wollte.

 [21] So etwa bei Ilko-Sascha Kowalczuk, Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985-1989, Berlin 2002.

 [22] Offener Brief an Joachim Gauck vom 8.11.1999 anlässlich dessen Interview im Tagesspiegel vom 7.11.1999: „Heute hören wir von Ihnen, nun sei in Deutschland erreicht, wofür damals die Opposition in der DDR und die Bürgerbewegungen des Herbstes 1989 gekämpft haben. … Wissen Sie noch, was in dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches stand? Er enthielt viele unserer Forderungen von damals. Prüfen Sie bitte nach, was davon heute Wirklichkeit ist. Erinnern sie sich noch an die Sozialcharta des Runden Tisches? Und erinnern Sie sich daran, warum und auf wessen Veranlassung dies alles beim Einigungsprozess im Papierkorb verschwand. Wir wollten nicht nur mehr Mitbestimmung, wir wollten Teilhabe und Selbstbestimmung. Wir wollten nicht nur die papierne Freiheit, sondern auch soziale Gerechtigkeit. Fragen Sie die vielen Arbeitslosen, fragen sie vor allem auch die Frauen aus der ehemaligen DDR, was sie von der Koexistenz von Meinungsfreiheit und Obdachlosigkeit, von Versammlungsfreiheit und Erwerbslosigkeit, von Reisefreiheit und Sozialhilfebedürftigkeit halten. Aber Sie denken heute, wir sollten als Bürger des beigetretenen Viertels bescheidener sein. Dieser Zug zur Bescheidenheit ging uns damals, im Herbst 1989, vollständig ab. Und es wird Zeit, dass wir nicht nur in Neufünfland, sondern in ganz Deutschland diese Unterwürfigkeit abschütteln. Nur wer die Neigung zur Anpassung und das Vertrauen in Parteien und Ministerien, die unsere Angelegenheiten zu unserem Schaden verwalten, überwindet, wird etwas verändern. Auf Sie und viele unserer alten Mitstreiter, die in Amt oder Mandat ihren Frieden mit dem Bestehenden gemacht haben, müssen wir wohl verzichten. Vorerst aber sprechen wir Ihnen das Recht ab, sich auf uns zu berufen, wenn Sie über die Opposition in der DDR sprechen.“

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