Medien, Politik

Belfast: Der Agent AA

Von Jürgen Schneider

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Am 25. Januar 2016 berichtete die Irish News, der Commander der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), der den Bombenanschlag vom 23. Oktober 1993 auf Frizzel’s Fish Shop in der Belfaster Shankill Road geplant habe, sei ein Informant der nordirischen Polizei Royal Ulster Constabulary (RUC) gewesen, der seine dortigen Special Branch-Führungsoffiziere vorab von dem Anschlag unterrichtet habe. George Hamilton, der Chief Constable des Police Service of Northern Ireland (PSNI), wie die nordirische Polizei seit 2001 heißt, erklärte gegenüber der BBC, er sei »100% davon überzeugt, dass die Polizei damals keine Kenntnis von dem Bombenanschlag in der Shankill Road hatte, aufgrund derer sie diesen hätte verhindern können.«

Der Bericht der Irish News kam zu einer Zeit, da eine Untersuchung von einigen der kontroversesten Todesfälle während der sog. »Troubles« angekündigt wurde: 56 Fälle mit 97 Toten sollen unter die Lupe genommen werden, darunter Fälle der sog. »Shoot-to-kill«-Politik der RUC in den 1980er Jahren und der Zusammenarbeit der britischen Armee sowie der RUC mit loyalistischen Todesschwadronen. Aber auch die Hinrichtungen von IRA-Mitgliedern, die laut IRA der britischen Armee, den britischen Diensten oder der RUC Informationen geliefert haben, sollen untersucht werden.

Der 23. Oktober 1993

Am Nachmittag des 23. Oktober 1993 betraten zwei in weißer Kleidung als Lieferanten getarnte IRA-Leute den in der Belfaster Loyalistenhochburg Shankill gelegenen Frizzel’s Fish Shop. Einer der beiden hielt die anwesenden Kunden in Schach, während der andere, Thomas ‚Bootsie’ Begley, eine Bombe platzierte, deren Sprengkraft nach oben gerichtet war. Die IRA ging davon aus, dass sich in dem Büro über dem Fischladen führende Mitglieder der loyalistischen Terrororganisation Ulster Defence Association (UDA) aufhalten würden. Die verbotene UDA hatte das Büro in dem Gebäude zwar seit langem als Treffpunkt genutzt, war allerdings aufgrund ihrer polizeilichen Überwachung seit ein paar Wochen auf einen anderen Treff ausgewichen. Johnny ‚Mad Dog’ Adair, einst Leader der berüchtigten ‚C Coy’ des Second Battalion der UDA des Gebietes um die Shankill Road, erklärte inzwischen, er sei an jenem Tag wenige Stunden vor dem Bombenanschlag in dem Büro gewesen.

Begley zündete die Bombe. Die Bombenleger waren offenbar davon ausgegangen, dass zwischen Zündung und Detonation genug Zeit für die Anwesenden bliebe, den Laden zu verlassen und die Wucht der Bombe die oben vermuteten Loyalistenführer treffen würde. Die Bombe explodierte jedoch vorzeitig, brachte das Haus zum Einsturz, tötete neun Protestanten, darunter zwei Mädchen, sowie den Bombenleger Begley und verletzte 57 Menschen zum Teil schwer, darunter zwei Babys.

Die UDA warnte noch am selben Tag öffentlich: »John Hume, Gerry Adams und die nationalistische Wählerschaft werden einen sehr hohen Preis für die heutige Gräueltat zahlen. «In den folgenden sechs Wochen ermordeten Loyalisten sechzehn Menschen, bis auf einen waren alle Katholiken. Die UDA zeichnete für 13 der Morde verantwortlich. Die meisten Toten gab es in der kleinen Ortschaft Greysteel in der Grafschaft Derry. Zwei UDA-Killer eröffneten in dem Restaurant ‚Rising Sun’ das Feuer auf die 200 Anwesenden, die Halloween feierten. Acht Menschen starben, 19 wurden verletzt. Einer der Killer rief »Trick or Treat« (»Süßes, oder es gibt Saures«), bevor er das Feuer eröffnete.

Zur Vorgeschichte des 23. Oktober 1993

Im Dezember 1992 hatte der britische Nordirlandminister Sir Patrick Mayhew erklärt, die britische Regierung sehe sich als Vermittlerin des demokratischen Willens in Nordirland, Großbritannien habe kein Selbstinteresse, das die Regierung dazu führe, eine eigene Agenda zu verfolgen. Wie später bekannt wurde, hatte es schon seit einiger Zeit geheime Gespräche zwischen Sinn Féin-Politikern und britischen Regierungsvertretern gegeben. Auf dem Parteitag der als politischer Arm der IRA geltenden Partei Sinn Féin im Frühjahr 1993 erklärte Martin McGuinness in einer Grundsatzrede die Bereitschaft zu Offenheit, Flexibilität und »dramatischer Initiative«. Die alte republikanische Forderung nach einem Abzug der Briten tauchte nicht mehr auf. Im April 1993 begannen John Hume von der Social Democratic Labour Party (SDLP) und Gerry Adams (Sinn Féin) auf Vermittlung eines Geistlichen eine neue Gesprächsrunde, die mehr oder weniger kurz geschlossen war mit einem Dialog zwischen der irischen und der britischen Regierung. Die erste Gesprächsrunde zwischen Hume und Adams war 1988 beendet worden, die beiden hatten aber über öffentliche Stellungnahmen ihren Dialog aufrechterhalten. Bei der Gesprächsfortsetzung ging es erneut um die Frage, ob der gesamten irischen Bevölkerung ein Selbstbestimmungsrecht zukomme oder nur der nordirischen mit ihrer protestantischen Mehrheit (das so genannte »unionistische Veto«). Die republikanische Bewegung setzte auf das Konzept, »maximalen Konsens« für ein vereintes Irland zu erzielen. Die Zustimmung der unionistischen Bevölkerungsmehrheit im Norden Irlands galt als wünschenswert, sollte jedoch keineswegs deren Vetorecht beinhalten. Ebenfalls im April 1993 schickte der Armeerat der IRA ein Schreiben an die britische Regierung, in dem es hieß: »Wir wissen, dass ein Paket benötigt wird, das eine politische Dynamik für irreversible Veränderung bewirkt und dessen Ziel die Ausübung des Rechtes auf nationale Selbstbestimmung ist. Wir sehen dies als Basis für Demokratie und für den Beginn des Prozesses der nationalen Versöhnung und eines dauerhaften Friedens.«

Am 25. September 1993 veröffentlichten Hume und Adams eine gemeinsame Erklärung, in der sie sich überzeugt zeigten, dass ein Prozess eingeleitet werden könne, der zu einer Übereinkunft unter der geteilten Bevölkerung der Insel führen und eine solide Basis für Frieden darstellen könne.

Den loyalistischen Hardlinern waren die Gespräche und Erklärung der »pan-nationalistischen Front« ein Dorn im Auge. Innerhalb kurzer Zeit ermordeten sie mehrere Katholiken. In den ersten Oktoberwochen des Jahres 1993 gab es jeden Tag terroristische Aktionen von Loyalisten, für die hauptsächlich die UDA verantwortlich zeichnete.

Die IRA, deren raison d’être durch diese Angriffe in Frage gestellt wurde, sah sie sich doch als Organisation zur Verteidigung der katholischen Communities, musste reagieren, wollte sie nicht eigenmächtige Operationen einzelner IRA-Einheiten und in deren Folge eine Spaltung provozieren. Die IRA beschloss, die UDA-Führung zu eliminieren. Dieser Beschluss erging auf höchster IRA-Ebene. Ed Moloney schreibt in seinem Buch A Secret History of the IRA: »Aufgrund der Erfordernisse des Friedensprozesses hatte der Armeerat der IRA bereits die Kontrolle über die Organisation verstärkt und im September 1993 die Order ausgegeben, dass alle zukünftigen Operationen vom Stabschef Kevin McKenna genehmigt werden müssen. Der Northern Command verfügte schon lange über ein Vetorecht in Sachen IRA-Operationen, nun wurde dieses Recht auf den Armeerat übertragen. Auf Drängen von Gerry Adams und seinen Vertrauten hatte der Armeerat diese Maßnahme aus der Furcht heraus ergriffen, dass eine »schlechte« Operation die fragile Beziehung zu Hume gefährden könnte. Dementsprechend wurde der Vorschlag, die UDA-Führung anzugreifen, dem Armeerat unterbreitet, und der Plan wurde schließlich abgesegnet.«

Was folgt nach dem Bericht der Irish News?

Die Irish News beruft sich in ihrem eingangs zitierten Bericht auf Dokumente, die der IRA bei dem spektakulären Einbruch in die Polizeifestung Castlereagh, Sitz der Special Branch, am St. Patrick’s Day des Jahres 2002 im dortigen Raum 22 in die Hände fielen. Zu den sichergestellten Dokumenten gehörten Adressenverzeichnisse der Polizisten der Special Branch samt Telefonnummern, Codenamen von Informanten und die Namen ihrer Führungsoffiziere sowie »Adressen von Interesse«, die Wohnsitze von Republikanern und Loyalisten, darunter die der führenden Sinn Féin-Politiker Gerry Adams und Gerry Kelly.

Laut Irish News zeigen Dokumente, dass der Commander der IRA-Einheit des Belfaster Stadtviertels Ardoyne als Informant tätig gewesen sein soll, der unter dem Namen »Agent AA« geführt wurde. War es so, haben wir ein veritables Aa, wie es die deutsche Kindersprache kennt. Die Dokumente seien extrem verschlüsselt gewesen und die IRA habe lange gebraucht, sie zu entschlüsseln. Der IRA-Commander sei seines Postens enthoben worden, nachdem die Entschlüsselung gezeigt habe, dass er fast ein Jahrzehnt lang Informantendienste geleistet habe. Die IRA-Basis sei von der Führung über die Hintergründe der Absetzung des Mannes aus Ardoyne nicht unterrichtet worden. Laut der in London erscheinenden Tageszeitung The Independent sei es möglich, dass Agent AA am Abend vor dem Anschlag auf das Fischgeschäft die Bombe eventuell beherbergt und manipuliert habe.

Laut Ulster Television (UTV) hat ein früherer Special Branch-Polizist erklärt, vor dem Einbruch in Castlereagh hätten Informationen vorgelegen, wonach die IRA eine »top intelligence facility« im Visier hatte. Der Einbruch sei »erlaubt« oder »ermöglicht« worden, um eine »IRA-Quelle« zu schützen. Diese Quelle sei unter dem Namen »Zulu 15« geführt worden. Der nordirische Police Ombudsman soll diese Aussage untersuchen. Bei UTV heißt es weiter: »Die Fragen liegen auf der Hand. Gab es einen Agenten Zulu 15 und war diese Quelle innerhalb der IRA derart wichtig, dass dieser Einbruch »erlaubt«, »ermöglicht« oder »genehmigt« wurde? Suggeriert wird, das Zulu 15 von der Special Branch sowie vom britischen Geheimdienst M15 gemeinsam geführt wurde und dass die Information der Quelle hinsichtlich des Einbruchs auf Band aufgenommen wurde.«

Der Journalist Ed Moloney schrieb in seinem Blog Broken Elbow: »(…) Die Schlächterei in dieser schrecklichen Woche des Herbstes 1993 fand in einem kritischen Moment des sich entwickelnden Friedensprozesses statt. Innerhalb der IRA wuchs die Opposition gegen den von Gerry Adams geführten Friedensprozess und war in den höheren Rängen der Organisation in Belfast sehr intensiv. Die Downing Street-Erklärung war in Vorbereitung und würde zu einer großen Enttäuschung für die Pro-Frieden-Elemente in Sinn Féin werden. (…) Die Shankill-Bombe führte zu einem echten Entsetzen in der katholischen Bevölkerung und warf ernste Fragen über den Nutzen politischer Gewalt auf. All diese Jahre später scheint die Angst einflößende Atmosphäre jener Zeit einem anderen Planeten anzugehören, doch es war ein Moment, in dem das oft strapazierte Bürgerkriegsszenario nicht weit hergeholt wirkte, während das Verlangen nach einem Ende des Mordens gewiss stärker wurde. In republikanischen Kreisen war Gerry Adams, dessen Spindoktoren den Medien erzählten, er sei außer sich wegen der Bombe, gezwungen, die Bombenattentäter zu verteidigen und den Sarg des toten Bombenlegers Thomas Begley bei dessen Beerdigung zu tragen, womit er den Zorn der Medien und die Verärgerung der politischen Führer sowie der Regierungen bewirkte, die den Sinn Féin-Leader in seiner Friedensmission bestärkt hatten. Doch ironischerweise dienten die Bombe und die nachfolgenden Ereignisse der Stärkung von Adams und der Schwächung seiner Opponenten, obwohl der Friedensprozess politisch schlecht verlief und noch schlechter verlaufen sollte, Umstände, die ansonsten Speis und Trank für die Militaristen in der IRA wären.

Der Bombenanschlag war ein Desaster, das alles überschattete, und es herrschte wenig Zweifel in der Öffentlichkeit, besonders in der katholischen Community, das die IRA falsch handelte. Es ginge wohl zu weit, von einem Wendepunkt zu sprechen, aber innerhalb weniger Monate bekam Gerry Adams ein Visa für die Einreise in die USA, die Sektion 31 des Broadcasting Acts (der in der Republik Irland die Ausstrahlung von Reden oder Erklärungen von Sinn Féin-Mitgliedern im Rundfunk oder TV verbot; JS) wurde aufgehoben, und im August 1994, zehn Monate nach der Shankill-Bombe, hatte die IRA einen Waffenstillstand verkündet und der Weg für das Karfreitagsabkommen war bereitet. Dies alles wäre wohl nicht geschehen oder hätte nicht geschehen können, hätte die Shankill-Bombe nicht der IRA die Flügel gestutzt.«

Moloney schließt an diese Ausführungen die Fragen an, ob die Geheimdienstapparate das Blutbad zugelassen haben in der Hoffnung, dass es positive politische Konsequenzen für den Friedensprozess haben würde. Und wenn ja, hatten sie ähnlich schon vorher und haben sie später erneut so gehandelt? Die für viele inakzeptable Logik der Enthüllung der Irish News, so Moloney in einem weiteren Blogeintrag, sei die, dass die RUC Special Branch, so sie denn den Tod von neun Menschen in Kauf genommen haben, es getan habe, um die einen Frieden befürwortenden Elemente in Sinn Féin zu stärken. Special Branch und Sinn Féin seien nicht erklärte, aber de facto Verbündete mit dem gleichen Ziel gewesen. Sinn Féin schweigt bis heute zu dem Bericht der Irish News. Wurden die Informationen dazu aus irisch-republikanischen Kreisen geliefert? Und wenn ja, mit welcher Absicht? Die Angelegenheit liegt jedenfalls bis auf weiteres in den Händen des nordirischen Police Ombudsman, der für umfassende Aufklärung sorgen soll.

In der Irish Times (28. Januar 2016) zitierte der Aktivist und Autor Eamonn McCann den einstigen IRA-Mann Dixie Elliot, der nach dem Bericht der Irish News die Frage gestellte hatte: »Haben die Briten beide Seiten gelenkt?« Wenn dies in einem signifikanten Ausmaß der Fall gewesen sei, so McCann, welche Rechtfertigung lässt sich dann für einen bewaffneten Konflikt finden, in dem nahezu 4.000 Menschen starben und Zehntausende an Körper oder Geist verwundet wurden? Welche Rechtfertigung gibt es dafür, dass der Suche der Hinterbliebenen nach der Wahrheit immer wieder Steine in den Weg gelegt werden? »Der Punkt ist«, so McCann, »dass die britischen Machthaber seit Jahren von der tiefen Verstrickung ihrer Dienste und Streitkräfte in tödliche Kriminalität wissen und offenbar nur interveniert haben, um Vertuschungen zu inszenieren, die bis zum heutigen Tage andauern. Weit davon entfernt, den Geheimdienst MI5 an die Leine zu nehmen, spielt dieser nun in Nordirland eine zentralere Rolle als je zuvor. (…) Ob sich nach den Enthüllungen der Irish News etwas ändern wird, ist stark zu bezweifeln. Wir haben es hier nicht mit schurkischen Staatsdienern zu tun, sondern mit einem Schurkenstaat.«