Neues griechisches Kino auf dem Filmfest 21.1. – 24.1. 2016 im Babylon Berlin-Mitte
Von Angelika Nguyen
Nur eine kleine Nachricht im Januar 2016 ist die Information noch wert, dass gegenwärtig ein Drittel der Menschen in Griechenland ohne Krankenversicherung leben, weil sie schon länger erwerbslos sind. Seit 2010 tobt die Krise in Griechenland, frisst sich durch die Haushalte und kleinen Ersparnisse, durch die Familien, die Beziehungen, die Lebensläufe. Wie geht es den Menschen da in Griechenland heute, was empfinden sie, was denken sie, worüber streiten und unterhalten sie sich, was können sie noch essen, was können sie noch bezahlen, wohin noch flüchten? Wie sehen ihre Träume aus und ihre Albträume?
Das zu erkunden, können Nachrichtenticker nicht leisten, da braucht es Phantasie und subjektive Geschichten; Reflektiertes und Verrücktes; Geräusche und Bilder – da braucht es die bunte Welt des Kinos. All das gibt es in 71 griechischen Filmen sehen, die in den nächsten vier Tagen unter dem Namen „Hellas Filmbox“ im Kino Babylon in Berlin-Mitte laufen werden.
„Ursprünglich sollten es 35 Filme sein.“ so Festivaldirektor Asteris Koutoulas von der Deutsch-Griechischen Kulturassoziation, „Aber dann bekamen wir 300 Einsendungen, und wir wählten 71 aus.“ So ist daraus ein richtiges Festival mit Jury, Wettbewerb und Sektionen geworden.
Was die Filme erzählen, kommt aus dem Zentrum der Krise Griechenlands, wo gerade nicht nur Existenzen weg brechen und Hoffnungen, sondern auch der Nachwuchs einer ganzen Mittelschicht ums Überleben kämpft, im Land selbst und im Exil. Die Geflüchteten, Verstreuten, vornehmlich 30 bis 40jährige, nehmen die jüngste Katastrophe ihres Landes in ihrer Biographie mit sich. Einst gut ausgebildet und erfolgreich in ihrer Heimat, haben sie jetzt Minijobs in Berlin und anderswo. Berlin als Schnittstelle ist Koutoulas wichtig: „Wir möchten an den emotionalen und politischen Bruchstellen zwischen Griechenland und Deutschland ansetzen, um konstruktive Reaktionen auf den aktuellen Konflikt zwischen beiden Ländern anzuregen.“ Nicht nur Cinephile wollen die Veranstalter_innen erreichen, sondern auch das breite Publikum.
4 1/2 Jahre nach der Bild- Schlagzeile „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleitegriechen“, die ja nur die Spitze des modernen antigriechischen Bashings in Deutschland ist, geht es bei dem Filmfest um Kennenlernen und Differenzierung, um Abbau von Klischees und narrative Reisen in die Geschichte und Gegenwart eines Landes, das von alters her einen besonderen Platz in Europa einnimmt, durch seine eigenartige jahrtausendalte Sprache und seine geographische Halbinsel-Lage. Ein Land, dessen klassischer Philosoph Aristoteles einst die Gesetze der Dramaturgie des Erzählens festgeschrieben hat, die seine geschundenen Erben jetzt zerpflücken und neu zusammen setzen für ihre Filmgeschichten.
So verwenden die sechs Spielfilme, die im Wettbewerb laufen, eine ganz breite Skala von Erzählweisen: episodisch mit einem an antike Rachegöttinnen erinnernden Kanon von geflüchteten Frauen aus dem Balkan („Schiff nach Palästina“), Thriller-Suspense in einer freudianischen Vater-Tochter-Geschichte („Sentimentalisten“), ein konzentriertes Solo-Kammerspiel um einen hungernden Jugendlichen („Der Junge, der von Vogelfutter lebt“), eine Art Polit-Krimi, in dem ein bankrotter Nachrichtentechniker einen Abhörskandal entdeckt („Wild Duck“), eine moderne Irrfahrt à la Odyssee, die die Hauptfigur, einen Exilgriechen, von New Orleans nach Homer in Alaska führt („Vergiss mich nicht“), und großes Erzählkino im Kostüm der 1930iger bis 1940iger Jahre um unerfüllte Liebe bis in den Tod („Klein England“).
Das bewegende Drama „Der Junge, der von Vogelfutter lebt“ illustriert drastisch die soziale Verelendung in Griechenland, die auch große Einsamkeit mit sich bringt. Es fällt auf durch seine Dokumentarkamera und das intensive Spiel seines Hauptdarstellers Yiannis Papadopoulos, der auch vor Szenen wie Masturbation vor laufender Kamera nicht zurückschreckt – und Vogelfutter ist bei weitem nicht das Seltsamste, was er isst, um zu überleben. Aber statt sich retten zu lassen, rettet der Junge am Ende selber jemanden – eine Art Unabhängigkeitserklärung inmitten äußerster Not und sicher einer der schönsten Schlüsse auf dem Filmfest. Hoffnungsvoll auch der Widerstand, den Dimitris in dem stringent erzählten „Wild Duck“ gegen die scheinbare Übermacht eines Telekommunikationskonzerns mobilisiert.
Die zwölfköpfige Jury, als deren Vorsitzender der legendäre deutsche Regisseur und Produzent Hans W. Geißendörfer fungiert, hat aus diesen sechs Spielfilmen den Preisträger zu wählen.
Aber das ist nur ein Ereignis des Filmfests. Das Queer-Festival in Athen hat drei Kurzfilme geschickt, und gleich mehrere Dokumentarfilme beschäftigen sich mit dem griechischen National-Thema Faschismus. „Burning from the inside“ schildert die wachsende Bedeutung der Nazi-Partei „Goldene Morgenröte“, die faschistischen Strukturen und den sozialen Verfall Griechenlands aus der Perspektive griechischer Migrant_innen in Berlin; einen historischen Abriss über die Geschichte des griechischen Faschismus zeigt „Faschismus AG“, und der poetische Dokumentarfilm „Wie Löwen am steinernen Eingang der Nacht“ erkundet die ehemalige KZ-Insel Makronisos, wo zwischen 1947 und 1950 zehntausende Gefangene „umerzogen“ wurden, um die „Ausbreitung des Kommunismus“ zu verhindern. Eine eigene Sektion bildet die Reihe „Griechische Filmemacher in Berlin“, die sowohl abendfüllende Spielfilme als auch Kurzfilme zeigt. Einen besonderen deutschen Bezug stellt der Dokumentarfilm „Die Patin“ her, einem Porträt Angela Merkels, welche auch ihren Beitrag zur antigriechischen Hetze geleistet hat.
Der viel gelobte Spielfilm „Medeas“, in dem die Mutterfigur ihre Kinder verlässt, stellt wieder einen antiken Mythos-Bezug her.
Im Abschlussfilm „Chevalier“ ist dann dramaturgische Klassik in ihrer Komödienform zu sehen, die Aristoteles als „Darstellung von Schlechteren“ bezeichnete, nämlich Männlichkeitswettbewerbe, die die Regisseurin Athina Rachel Tsangari veralbert. Dieser Film ist auch Ausblick: er startet im April 2016 in deutschen Kinos.
Weitere Infos unter http://www.hellasfilmbox.de/festival/