„Beale Street“ , USA 2019, Buch und Regie: Barry Jenkins
Von Angelika Nguyen
Gleich im Vorspann zitiert der Film die Sätze von James Baldwin, die er 1974 seinem Roman „If Beale Street Could Talk“ (deutscher Verlagstitel: Beale Street Blues) voranstellte: „Jeder schwarze Mensch, der in Amerika geboren wurde, ist in der Beale Street geboren; auf der Rückseite irgendeiner amerikanischen Stadt, ob Jackson, Mississippi, oder in Harlem, New York. Beale Street ist unsere Legende. Dieser Roman handelt von der Unmöglichkeit und von der Möglichkeit, von der absoluten Notwendigkeit, dieser Legende Ausdruck zu geben.“
Diesem Appell des Romanciers Baldwin, der selbst zur Legende wurde als erster schwarzer Schriftsteller, der von vielen Menschen im Westen, egal welcher Hautfarbe, gelesen wurde, folgte über 40 Jahre später der schwarze Regisseur und Filmautor Barry Jenkins. Und machte sich ans Werk, der Legende „Ausdruck zu geben“.
Manches übernahm der Film unbesehen aus dem Roman, zum Beispiel die Struktur der Rückblendenerzählung. Zu Film-Beginn sitzt Fonny also bereits im Gefängnis wegen der Aussage einer Puertorikanerin, er hätte sie vergewaltigt. Sein klares Alibi zählt nicht, es gilt ganz selbstverständlich die Schuld-Vermutung. Forciert wurde das Ganze von dem weißen Polizisten Officer Bell, der eine Begegnung mit Fonny vor dem Feinkostladen in der Bleecker Street nicht vergessen hatte. Tish muss Fonny also durch die Glasscheibe per Telefon die Neuigkeit von ihrer Schwangerschaft erzählen. Die Ambivalenz der Freude der beiden, die sogar jetzt noch in dieser schrecklichen Situation durch die Scheibe leuchtet, bestimmt die Grund-Stimmung des Films. Dann geht Fonny zurück in seine Zelle – und Tish zu ihren Leuten nach Hause, um ihnen die Nachricht von dem zu erwartenden Baby zu überbringen. Was folgt, ist die brave Inszenierung vieler Seiten des Buches: von Kinderszenen in der Badewanne; von verliebten Gedanken in der U-Bahn; davon, wie Tish es ihren Eltern und ihrer Schwester erzählt; wie sie Fonnys Familie einladen zum Feiern an diesem Samstag Abend, wie es dann zum Hassausbruch von Fonnys Mutter gegen die schwangere Tish kommt; wie Fonnys Vater sie dafür schlägt… Die Ehe zwischen Fonnys Eltern ist schon im Buch schwer zu entschlüsseln. Statt zu streichen, lässt Jenkins uns die beiden ausschnittweise erleben, mit dem Resultat, dass sich diese Figurenbeziehung gar nicht mehr mitteilt. Manches lässt Jenkins klar weg. Zum Beispiel musste er wohl schon aus Zensurgründen auf die seitenlangen Beschreibungen von Sex verzichten, die bei Baldwin immer von stürmischen innerlichen Dialogen und intensivsten Empfindungen über Leben und Tod durchsetzt sind. Das ist auch nicht verfilmbar, jedenfalls nicht in solch konventionellem Rahmen. Übrig bleibt schließlich eine etwas langweilige Szene vom „ersten Mal“ zwischen Fonny und Tish, mit einem einzeln seltsam klingenden Satz des Mannes („Du musst dich nur an mich gewöhnen.“) untermalt mit Geigenmusik , was sich an der Grenze zu Kitsch und altmodischen Geschlechterklischees bewegt.
Die Liebesgeschichte des jungen afroamerikanischen Pärchens Fonny und Tish unter den Bedingungen des strukturellen US-Rassismus anno 1974 wird nicht als Sozialdrama erzählt, das war nie Baldwins und auch nicht Jenkins’ Ding. Das Himmelreich der Liebe zwischen den beiden in Fonnys Kellerwohnung ist eher, darauf weist das voran gestellte Motto, ein Gleichnis, eine Sage, eine Legende. Dazu passt, dass Tish immer aussieht wie aus dem Ei gepellt , immer Ton in Ton gekleidet, aus teuren Stoffen, für die das Geld unmöglich aus Tishs Kaufhausjob oder von Fonnys Holzskulpturen, die er nie verkauft, stammen kann. In ihrer mädchenhaften Schlankheit, ihren hübschen Kleidern, mit ihrer Naivität wirkt Tish wie ein aus der Zeit gefallenes Traumbild, das Symbol der Unschuld in dem Stück. Aber auch Fonny ist unschuldig – nicht schuldig jedenfalls im Sinne der Anklage. Die Geschichte der beiden ist darum brisant, weil nicht sie selbst – durch Eifersucht, falsche Erwartungen, Bindungsangst oder so ähnlich – ihr gemeinsames Leben zerstören, sondern die politischen Machtverhältnisse in den USA so angelegt waren – und sind, verkleidet in der schicksalhaften Begegnung mit jenem weißen Polizisten vor dem Feinkostgeschäft, aus einem scheinbar harmlosen Anlass. Dort hatte Fonny gerade einen Mann in den Kartonmüll geworfen, der zuvor Tish im Laden sexuell belästigte. Fonnys Pech, dass es ein weißer Mann war.
In dem darauf folgenden Dialog zwischen Fonny und dem Polizisten begeht Fonny den „Fehler“, den Civil Rights Act von 1964 für sich in Anspruch zu nehmen. Als der Polizist ihn „Boy“ nennt – die aus der Sklavenzeit stammende übliche weiße Bezeichnung für schwarze Männer, gleich welchen Alters – erwidert Fonny: „I Am Not Your Boy“. Das erinnert an James Baldwins Satz, den er einmal in einem TV-Interview in den 1960iger Jahren sagte: „I Am Not Your Negro“.
Fonny entkommt nur der Verhaftung durch Bell, weil die weiße Inhaberin des Geschäfts für ihn eintritt. Danach ist Fonny nicht etwa froh, der Gefahr entronnen zu sein. Die Scham darüber, dass Tish ihn noch in Schutz nahm, wo er sie doch beschützen wollte; das erzeugt das Gefühl der Ohnmacht in Fonny und den Zorn, mit der er die frisch gekauften Tomaten an die Hauswand schleudert, die dann wie Blut daran kleben bleiben. In dem Plot ist es natürlich ein Zufall, dass da Officer Bell gerade entlang kommt, aber Baldwin meint ja die Gesetzmäßigkeit dieses Zufalls: der Anspruch Fonnys, als ganz normaler Mann zu gelten, wird ihm zum Verhängnis. Denn, so sagen ihm die Blicke der in Harlem patrouillierenden weißen Polizisten, du bist nicht normal. Du hast nicht dieselben Rechte wie ein weißer Junge. Wir können mit dir machen, was wir wollen.
Dieses Ausgeliefertsein ist ein zentrales Motiv in Baldwins Romanen und Essays, das Barry Jenkins da szenisch umsetzt. Indessen hatte der Filmautor mit der Adaption des Romans so manche Schwierigkeit zu bewältigen. Es hätte vielleicht einer stärkeren erzählerischen Grundidee für den Film bedurft, gerade bei der komplizierten Struktur des Romans – dann noch die geheimnisvollen Beschreibungen kultureller Rituale und Dialoge schwarzen Soziallebens in Harlem, die vielleicht nur jene kulturell entschlüsseln können, die selbst aus einer Beale Street kommen. Vielleicht.
Auch andere filmische Mittel gehen nicht auf: die Erzählperspektive ist ein Wirrwarr, denn einerseits erzählt Tish als zentrale Ich-Figur in Rückblenden die Geschichte und andererseits gibt ihre geradezu kindliche großäugige Sicht nicht die Einsichten her, die manche Szenen vermitteln. Zudem gibt es Szenen ohne ihre Anwesenheit – wie kann sie sie da erzählen? Die szenische Ausstattung der Straßen und Wohnungen der frühen 1970iger Jahre in Harlem ist sorgfältig, manchmal vielleicht ein bisschen zu sorgfältig drapiert und gebaut.
Manchmal, mittendrin, gelingt Jenkins eine große Szene – oftmals gerade in der Abwesenheit seiner Hauptfigur Tish, als müsse Jenkins sich von Baldwins Vorgabe erst befreien: Da ist das sparsame Gespräch in Fonnys halbdunkler Bruchbude zwischen ihm und seinem gerade aus dem Gefängnis entlassenen Freund Daniel – wo dessen Verschweigen von Details der Haft gerade vielsagend ist. Oder der gemeinsame Besuch der Väter von Fonny und Tish in der Kneipe, wo ein Scherz über fehlendes Geld für Fonnys Rechtsanwalt ein paar Sekunden lang ihr langes mühevolles Leben als Bürger ohne Rechte spürbar wird. Dann gibt es jene berührende Szene, die so nicht von Baldwin stammt, sondern von Jenkins. Als der jüdische Vermieter Levy – mit seiner Kippa auf dem Kopf – Fonny und Tish die Anmietung des Speichers zusagt und überhaupt sehr freundlich zu den beiden ist, fragt ihn Fonny, warum er ausgerechnet ihnen zusagt, wo doch alle anderen weißen Vermieter abgelehnt hätten. Weil er der Sohn seiner Mutter sei, antwortet Levy in der kurzen, aber eindringlichen Darstellung von Dave Franco, und er spricht von „denen“ da draußen. Da sind für einen Moment Tausende Jahre jüdischer Verfolgung und Hunderte Jahre schwarzer Versklavung plötzlich einander so nah. Da haben die beiden Schwarzen und der Weiße auf einmal dieselben Feinde. Der Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass Stephan James (als Fonny) und Kiki Layne (als Tish) ja wirklich Afroamerikaner sind und Dave Franco ja wirklich amerikanischer Jude. Das Motiv ist nicht neu. Spike Lee hat es deutlich in „Blackkklansman“ aufgegriffen, subtil zuvor schon in „Inside-Man“, noch viel subtiler deutete es Billy Wilder seinerzeit in „Das Apartment“ an, und in „Flucht in Ketten“ von Stanley Kramer gar waren ein Afroamerikaner (Sidney Poitier) und ein ungarisch-stämmiger Jude (Tony Curtis) aneinander gekettet in gemeinsamem Schicksal. Und nicht zuletzt die vielleicht größte für den Film erfundene Szene: aus der Episode in Puerto Rico, wo Regina King als Tishs Mutter Sharon die Frau sucht, die den Mann ihrer Tochter mit ihrer Falschaussage hinter Gitter brachte. Vor ihrem Treffen mit jener Frau, von der das Glück ihrer Kinder abhängt, steht Sharon vor dem Spiegel und sieht direkt in die Kamera, macht ihre echten krausen Haare platt, streift ein Netz darüber und setzt sich eine bereit liegende Perücke mit glänzenden glatten Haaren auf, eine Fönfrisur. Dann nimmt sie alles wieder ab, streicht sich über das eigene Haar, traurig, angespannt, fast verzweifelt, aber nicht wegen der Haare, sondern wegen der bevorstehenden schicksalhaften Verabredung. Schnitt: Sharon kommt doch mit der Perücke zu der Frau. Es ist die Beiläufigkeit dieser Geste, die beeindruckt. Perücken als Zugeständnis an das weiße Schönheitsideal, dieses Gefangensein darin, so alltäglich ist das für Millionen schwarzer Frauen, dieses Haarnetz und diese Perücke; das ist so persönlich und politisch zugleich, pragmatisch scheinbar wie andere Alltagsgegenstände und doch hoch emotional. Es erzählt vom kollektiven Verstecken der eigenen Natur. Der Traum vom glatten Haar ist für schwarze Menschen ein Erbe von Kolonialismus und Sklaverei und Resultat der kulturellen Macht weißer Körperlichkeit. Das wurde selten so eindringlich vorgeführt wie hier von Regina King, dafür gab es einen Oscar.
Trotz all seiner Unstimmigkeiten ist der Film ein Meilenstein: als erste Romanverfilmung von James Baldwin überhaupt; als historischer Film über die Lebens-Bedingungen schwarzer Menschen in den 1970igern der viel gerühmten weltoffenen New York City, und, ja, als aktueller Protestfilm, obwohl sich Baldwin nie so verstanden wissen wollte – aber in Zeiten der Bewegung von „Black Lives Matter“, die eine Folge tödlicher Polizeigewalt gegen schwarze junge Männer in 2013 und 2014 war und auch als Hollywood-Antwort auf die vereinte Demo von Rechtsextremisten in Charlottesville im August 2017, wo ein Nazi per Auto in eine Gegendemo raste, eine junge Frau tötete und viele verletzte und der noch vom amtierenden Präsident Trump verharmlost wurde.
Der Film endet anders als das Buch und guckt weiter in die Zukunft. Er erzählt aber wie das Buch von der Kunst, zu überstehen – und dabei nicht kaputt zu gehen.
Foto: Regisseur und Drehbuchautor Barry Jenkins
Quelle: Flickr, Jared eberhardt, BARRY & CLAY – BARRY’S 30TH, CC BY-SA 2.0