Kultur

Briefe aus dem Krieg

„Cyrano“, USA 2021, Regie: Joe Wright

Von Angelika Nguyen

Eine kleine französische Stadt um 1640. Ein Theater wartet auf seinen Star, den Dichter Cyrano de Bergerac. Zuerst ist da nur seine Stimme, eine tiefe volltönende Stimme. Dann seilt sich der Mann gekonnt von der Empore ab ins Parkett, in die Menge. Dieser Cyrano kommt ohne große Nase daher wie in allen Versionen zuvor – jene Nase, die ihn glauben lässt, er sei nicht wert, geliebt zu werden. Dieser Cyrano ist ein klein gewachsener Mensch, viel kleiner als alle um ihn herum und zweifelt ebenfalls zutiefst daran, jemand könne ihn mit diesem Aussehen lieben. Nichtdestotrotz ist er ein trainierter Soldat der Gascogner Kadetten, wendig und rasch. Das Publikum lässt sich gern von ihm verführen, akzeptiert seine Statur. Mit Geist und Witz vertreibt Cyrano den manierierten, geschminkten Schauspieler von der Bühne. Cyrano, ein Meister des Worts und, wie sich herausstellt, auch des Schwerts. Plötzlich beleidigt ihn ein Adliger wegen seines Aussehens lauthals, sich des Beifalls anderer sicher. Solche Beleidigungen kennt Cyrano zur Genüge. Seinen Nachteil macht er nun rhetorisch zum Vorteil. Und so singt Cyrano voll Zorn und Leidenschaft sein erstes Lied von lebenslangem Schmerz, synchron zum Schwertkampf: „Seit meiner Geburt halte ich meine Tränen in Schach.” (Since I was born, I learned to control my tears.) So besingt Cyrano sein Trauma, wiederholt er all die verletzenden Wörter im Refrain und dreht den Spieß um: „Wenn du mich verletzen willst, dann stell dich besser hinten an.“ (If you wanna try to hurt me, you better get in line.)
Dann tötet er den anderen, damit der ihn nicht tötet. Roxanne, Cyranos beste Freundin, sieht alles aus nächster Nähe. Roxanne, die er in Wirklichkeit liebt, sitzt in der besten Loge neben dem reichen, aber faden Herzog De Guiche, der sie heiraten will. Da hat sie aber auch schon Christian erblickt, den gutaussehenden Rekruten – und er sie, und die berühmte Geschichte, geschrieben in Versform im Jahr 1897, nimmt ihren Lauf. Cyrano kann schreiben, aber findet sich zu hässlich für Roxanne, Christian ist hübsch, aber kann nicht schreiben. Und Roxanne wünscht sich Briefe von Christian. So ist der Deal perfekt.
Doch die alte Geschichte ist ganz neu erzählt. Erica Schmidt, die US-amerikanische Autorin und Regisseurin, adaptierte ihr eigenes Theatermusical „Cyrano“, das Off-Broadway 2019 auf Tour war. Zusammen mit Joe Wright, dem erfahrenen britischen Filmregisseur, schrieb sie zwei Jahre lang an der Vorlage für den Film. Dann brachen auch hier die Schwierigkeiten mit der Pandemie ein. Aber all die Mühen haben sich gelohnt.
Zentral für die Neuinterpretation ist die Besetzung mit Peter Dinklage, der schon in der Theaterversion die Titelrolle spielte. Sein Cyrano vereint tiefsitzenden Schmerz mit überragendem Talent, Minderwertigkeitsgefühle mit Schlagfertigkeit, Traurigkeit mit Stolz, in so noch nie gesehener Intensität. Dinklages schauspielerischer Aufstieg von seinem Debüt in „Living in Oblivion“ bis zu dem richtigen Charakter in „Station Agent“ bis zum grandios wachsenden persönlichen Erfolg in der Fantasy-TV-Serie „Game Of Thrones“ bis zu dem TV-Film „My Dinner with Hervé“, wo er dem Schauspieler Hervé Villechaize, der sich 1993 das Leben nahm, ein Denkmal setzte, bis zum Liebesheld Cyrano ist ein besonderer Weg. Peter Dinklage ist ein Avantgardist und zugleich ein ganz normaler Schauspieler. Um diese Normalität musste er kämpfen. Als einer der ersten little persons avancierte er zum weltweit wahr genommenen Charakterdarsteller und sagte der Benutzung klein gewachsener Menschen als schmückendes Beiwerk und zur Belustigung schon früh den Kampf an.
Radikal auch die Lesart der Roxanne als mittellose, aber innerlich unabhängige Frau, die „niemandes Haustier, niemandes Gattin oder Frau“ sein will, wie sie schon im Film-Intro sich selbst besingt. Die an dem Herzog am interessanten nicht seinen Heiratsantrag findet, sondern dass er die teuren Theaterkarten bezahlt. Roxannes porzellanähnliche Erscheinung in der Verkörperung durch Haley Bennett täuscht. Sie ist widerständig, kritisch und liebt geistreiche Texte. Einmal zeigt der Film sie kurz in einem der damals aufkommenden Literarischen Salons, die als frühes kulturelles Netzwerk kluger Frauen gelten. Auch die Besetzung des Christian, in den sich Roxanne verliebt, ist ein Stück Emanzipation, denn Kelvin Harrison Jr. ist Afroamerikaner. Dass althergebrachte Gesellschaftsnormen in seinen Hauptfiguren sämtlich gebrochen werden, ist für den Film so schön selbstverständlich.

Regisseur Wright ging sorgfältig an die visuelle Umsetzung. Seine Präzision in der authentischen Nutzung der Originalbauten und Straßen in der prächtigen, alten Stadt Noto gehört dazu und auch die Postierung der Kamera. So wird Cyrano stets aus einer Perspektive gefilmt, die sich nach seiner Höhe richtet und nie auf ihn herabsieht. Nur wenn er eine Niederlage erleidet und sich zurückzieht, als etwa Christian Roxannes Fenster erklimmt für einen Kuss, wird Cyrano ganz klein und einsam von Weitem gezeigt, geht er von dannen im Dunst der nächtlichen Straße, ein Mensch, dessen Tapferkeit auch mal aufgebraucht ist.
Cyranos große Angst ist die Ablehnung, das Wort Nein. Als ein Freund ihm rät, Roxanne einfach seine Liebe zu gestehen, sagt er nur: „Niemals wird die Welt jemanden wie mich und eine große schöne Frau akzeptieren.“ Da versteckt sich Cyrano lieber weiter und schreibt Briefe an sie unter falschem Namen…
Da bricht ein Krieg herein und bringt die entscheidende Wendung in diese vertrackte Liebesgeschichte und einen unerwarteten emotionalen Höhepunkt ganz woanders – auf dem Schlachtfeld. Aus Eifersucht ließ der erwähnte Herzog die Einheit, zu der Cyrano und Christian gehören, an vorderste Front schicken, ein Himmelfahrtskommando. Als klar ist, dass sie fast alle sterben werden, sagt der Kommandeur zu dem Botenjungen nur einen kurzen rätselhaften Satz: „Sammle die Briefe ein!“ Was das bedeutet, erfahren wir in den darauffolgenden Liedern der Soldaten, die Texte der Briefe singen sie, der Dramatik verleiht das ein Pathos, das erstaunlich gut funktioniert. Ein Brief an die Freundin, einen an die Ehefrau und die Kinder, einen an den Vater. Als Refrain wiederholt jeder der Männer die Zeilen: „Sag ihnen, sie sollen nicht weinen. Wo immer ich falle, da wird der Himmel sein.“ In wenigen prägnanten Szenen erzählt der Film die Zerstörung von Gesundheit und Beziehungen, zeigt Müdigkeit und Hunger und viel zu frühen Tod. Später zeigt eine eindrückliche Totale die Männer beim Angriff im Schnee, unter ihnen unverkennbar der kleine Cyrano. Die Abschiedsbriefe der Soldaten sind ein starker Kontrast zu den Liebesliedern. Die Erfahrung des Krieges in der Geschichte der Menschheit ist jedes Mal anders und immer gleich.
Der Film ist, mit Dinklage im Mittelpunkt, eine gewaltige Ensemble-Leistung, wo jede und jeder sich einbringt wie in eine Partitur und erst dann zum großen Ganzen erklingt, wenn alles zur rechten Zeit einsetzt. „Cyrano“ versöhnt die Genres Oper, Theater und Film miteinander, nicht, indem sie einfach zusammengeworfen, sondern indem ihre jeweiligen Stärken für die Erzählung genutzt werden.
„Cyrano“ berührt auch Menschen, die es eigentlich komisch finden, wenn im Film plötzlich jemand anfängt zu singen. Virtuos wechselt der Film von der Intimität der Zwiegespräche zu durchkomponierten Massenszenen, schafft mit den Liedern unbedingte Emotionalität und erreicht mit seiner Lyrik ungeahnte Tiefe in der Darstellung von Liebe – und von Krieg.

 

Bild: Urheber Metro Goldwyn Mayer, Standbild aus dem offiziellen Trailer von Cyrano,  (2021) https://www.youtube.com/watch?v=TRjTFLczAxQ