„Son Of Saul“, Regie: László Nemes, Ungarn 2015
Von Angelika Nguyen
Oktober 1944. Vogelzwitschern, in der Unschärfe eine Wiese mit Menschen. Aus dem Nebel weicher Konturen nähert sich eine Gestalt der Kamera, bis sie nah in der Schärfe landet: Die Hauptfigur des Films, Saul Ausländer. Und schon endet das Vogelzwitschern und durchschneiden Schreie, Befehle auf Deutsch, Hundebellen die Luft. Saul, ungarischer Jude, arbeitet im „Sonderkommando“ des KZ und Vernichtungslagers Auschwitz. Sonderkommando, dieses unübersetzbare deutsche Wort, das heißt: neuankommende Transporte jüdischer Menschen aus ganz Europa der Todeszone zuzuführen, sie zu beruhigen, ihnen beim Entkleiden zu helfen, etwas vorzulügen, sie in die Gaskammer zu treiben, Kleider einsammeln, Warten hinter der Tür, bis die Schreie der Sterbenden verstummen, hinterher die Körper herauszuziehen, Blut und Fäkalien weg zu schrubben, Goldzähne einsammeln, die Leichen zu den Verbrennungsöfen zerren. Wir sehen vor allem Saul scharf, während die Umgebung, die Opfer; Frauen, Kinder, Männer, die anderen vom Sonderkommando – und die Täter in den grauen SS-Uniformen, in der Unschärfe des Bildhintergrunds bleiben. Das ist der Alltag von Saul. Seine Mimik ist eingefroren, keine Gefühle sichtbar, finsterer abgewandter Ausdruck. Gewohnte Handgriffe.
Nach diesem furchtbaren Intro beginnt sogleich die Geschichte – mit der ersten Totengruppe in der Gaskammer werden wir Zeuge einer Zäsur in Sauls KZ-Dasein. Beim Ausräumen der Gaskammer entdeckt er, dass ein halbwüchsiger Junge noch atmet. Das Unglaubliche hat sich nach Zeugenaussagen tatsächlich ein paar Mal ereignet, ein Wunder. Saul alarmiert die anderen, und sie tragen den Jungen zu einer Bank. Der herbei gerufene SS-Arzt macht dem Wunder ein Ende, indem er den Jungen tötet und eine Autopsie anordnet.
Da erwacht Saul aus der roboterhaften Routine und kümmert sich fortan um den toten Jungen. Er will ihn selbst in den Sektionsraum bringen – und den Häftling dort bitten, den Jungen nicht aufzuschneiden. „Mein Sohn.“ sagt Saul. „Du hast doch gar keinen Sohn.“ sagt jemand. „Doch“, sagt Saul. Fieberhaft erkundigt er sich, ob der Transport aus Ungarn kam, sucht nach Papieren. So erfindet Saul sich einen Sohn. Ein Kaddisch will er für ihn, ein letztes jüdisches Gebet und ein Begräbnis, keine Verbrennung. Das heißt, er will lauter Dinge für den Toten, die in Auschwitz nicht möglich sind. Dann sucht er einen Rabbi, der das Kaddisch sprechen soll, zeitweise sucht er ihn, als sei er nicht in Auschwitz und Zwangsarbeiter des Sonderkommandos, sondern in irgendeinem Schtetl im Frieden. Mit anderen Worten: Saul wird verrückt. Eine Blockade setzt bei ihm ein, eine Weigerung der Psyche. Von der Eskalation dieser Verweigerung erzählt der Rest des Films. Es ist überliefert, dass Häftlinge der Sonderkommandos Selbstmord begingen oder den Verstand verloren.
Das greift der Film als Idee auf: seine verrückt gewordene Hauptfigur will das Unmögliche und jagt dem nach inmitten des Infernos von Gaskammern, Massenerschießungen, Massenverbrennungen. Mehr als einmal riskiert Saul, durch sein Verhalten erschossen zu werden, gefährdet er Mithäftlinge, schmuggelt sich in das Asche-Kommando, weil er dort einen Rabbi vermutet, einmal sogar in einen nächtlich ankommenden Transport von Todgeweihten, reagiert aufreizend langsam auf Befehle der SS-Männer, hält gegen Ende die Flucht der Aufständischen auf, weil er hartnäckig den toten Jungen mit sich herumschleppt. „Du hast die Lebenden für die Toten aufgegeben.“ kommentiert Abraham, ein Gefährte, schließlich tadelnd.
Innerhalb des fiktionalen Holocaust-Genres ist dieser Film einzigartig. Er erzählt keine Überlebensgeschichte und vermeidet eine – zumindest herkömmliche – Erlösung und jegliche Erhabenheit irgendeines Gelingens. Diesem Helden misslingt einfach alles. Auch gute Gelegenheiten für einen pathetischen Augenblick mit dem Totengebet schlägt Regisseur Nemes glatt aus. Im Gegenteil: in einem beinahe komisch-verzweifelten Moment sitzen Saul und ein falscher Rabbi da mit dem Toten und können beide kein Kaddisch aufsagen.
Besonders ist auch der konsequente visuelle Stil des Films. Die Kamera bleibt seit der ersten Szene die ganze Zeit dicht an Saul, geht mit seinen Bewegungen mit, erfasst von der Umgebung, mal scharf, mal unscharf, nur, was unmittelbar in der Nähe von Saul geschieht. Keine launige, wacklige Handkamera, sondern eine agil-erzählende Kamera, die die einzige Aufgabe hat, Saul im Blick zu behalten. Alles andere – die Morde, die SS-Leute, die Häftlinge, die nackten Menschen nachts an der Grube, das Feuer, die grauen feinen Ascheberge, die von Häftlingen in den Fluss geschaufelt werden müssen – bleibt Umgebung, Hintergrund und wird nie extra aufgenommen. Das Filmset ist ein riesiges szenisches Arrangement, in dem die Kamera sich mit Saul bewegt. Die konventionelle Schnitt-Technik von Total- zu Nahaufnahmen, Schuss – und Gegenschuss vermeidet der Film fast völlig. Das schafft einen ungeahnten Erzählsog, eine Art körperlicher Anwesenheit, eine Schmerzerfahrung, die man im Kino nicht sehr oft erlebt.
Spannend ist, wie die Filmemacher diverse historisch überlieferte Fakten in die Erzählung einbeziehen. Dabei verschieben sie zuweilen tatsächliche Zeitpunkte und nehmen Ereignisse mit, die früher im Jahre 1944 stattfanden. Klar sind Zeitpunkt und Dauer der Handlung: Es handelt sich um den 6. und 7. Oktober 1944, denn der Aufstand des Sonderkommandos in Auschwitz fand am 7. Oktober statt. Diesen ordnet der Film konsequenterweise ebenfalls dem Einzelerleben der Hauptfigur unter – so beiläufig, ohne jede Action-Aufregung, ist wohl noch nie ein Ausbruch gezeigt worden.
Die heimliche Aufnahme der berühmten 4 Fotos, die die Verbrennung von Leichenbergen und nackte Menschen auf dem Weg zur Gaskammer zeigen, inszeniert der Film, indem seine Hauptfigur Saul den Fotografen Alexis absichert, und auch das vom Frauenlager kommende Schießpulver darf Saul schmuggeln, allerdings fälscht Nemes – mit welcher Absicht auch immer – die historische Sachlage, indem er Saul in seinem Zustand das Päckchen verlieren lässt – wieder dieses Bekenntnis zum Anti-Helden. In Wirklichkeit kam es zur Sprengung des Krematoriums III/IV, im Film nicht. Auch den richtigen Namen und Rang des Leiters der vier Krematorien, SS-Oberscharführer Voss, übernimmt der Film, während Saul selbst eine Erfindung ist.
Nicht zuletzt schöpft der Film seine Einzelheiten aus Berichten von überlebenden Sonderkommando-Häftlingen, wie Claude Lanzmann sie in „Shoah“ von Filip Müller im Interview erhält. Filip Müller musste, wie die restlichen wenigen überlebenden Sonderkommando-Häftlinge, in der Nachkriegszeit bis in die 1970iger um seinen Opfer-Status kämpfen. Sie wurden als privilegierte Mittäter diffamiert, wobei übersehen wurde, dass sie zu der Arbeit gezwungen wurden. Filip Müller sagt in „Shoah“: „Das Sonderkommando lebte in einer ganz extremen Situation: Vor unseren Augen sahen wir täglich, wie Tausende und Abertausende von unschuldigen Menschen in den Schornstein verschwinden.“
Wie hält ein Mensch das aus, und wie hält er es nicht aus? Davon handelt „Son Of Saul“.
Überhaupt erinnert manches an die Dokumentarfilme von Lanzmann – auch hier ist nicht das Lagerleben des KZ Auschwitz Hintergrundfolie, sondern einzig das, was andere Filme eher auslassen: das Moment der Vernichtung selbst – nicht als kaltes Unterhaltungs-Ausstattungs-Spektakel wie in deutschen TV-Produktionen, sondern als Beschreibung konkreter Bedingungen des Menschen.
Irgendwann sehnt man sich nach einem poetischen Moment, der die Geschichte erklärt, wenn schon nicht nach einem guten Ende, das unmöglich ist. Und László Nemes schafft kurz vor Schluss diesen Moment in großer Stille, und Saul lächelt das einzige Mal.
Der ungarische Schauspieler, Dichter und Absolvent einer Jeshiva, einer jüdischen Universität, Géza Röhrig spielt den Saul mit intensiver Energie und unergründlicher Traurigkeit.
Zum Glück nicht synchronisiert, im ungarischen Original mit Untertiteln, läuft der mit der Goldenen Palme und dem Oscar ausgezeichnete Film in fünf Berliner Kinos. Immerhin.
Foto: Wikipedia, Sonderkommando in Auschwitz-Birkenau, August 1944. The march to „showers“