„Toni Erdmann“, Regie: Maren Ade, Dt. 2016
Von Angelika Nguyen
Erst verbeugte sich die internationale Filmkritik in Cannes, dann die deutsche Filmkritik vor diesem Film, dem nahezu alle Nachteile als Vorteile ausgelegt werden, in seltsamer Einigkeit. Peinlich sei der Film, hieß es, zu lang und auch bei aller Komik gar nicht lustig eigentlich, eher traurig. Aber die Peinlichkeit wird kollektiv in einem demütigen kulturellen Akt als Katharsis angenommen, die Über-Über-Länge (162 Minuten) als „notwendig“ bezeichnet und über den schwerfälligen Humor des Toni Erdmann bereitwillig gelacht.
Worum geht es denn eigentlich? Tochter Ines aus Remchingen macht internationale Karriere als Unternehmensberaterin, während ihr Vater Winfried, ein pensionierter Musiklehrer, recht einsam mit seinem Hund in Haus und Garten lebt. Obwohl er noch seine alte Mutter hat und Kontakt zur Ex-Frau (Ines’ Mutter), ist spürbar die ihm wichtigste Person die Tochter. Als der Hund stirbt, nimmt Winfried Ines’ bevorstehenden Geburtstag zum Anlass und folgt ihr an ihren Arbeitsort Bukarest, wo sie gerade an der „Umstrukturierung“ einer Firma mit allen sozialen Folgen für die Beschäftigten arbeitet. Ines’ knappe klare Art zu kommunizieren steht im krassen Gegensatz zum langsamen, etwas trottligen Auftreten von Winfried. Nun, Winfried hat Zeit, er ist raus aus dem Erwerbsleben, auf ihn wartet niemand mehr und ja, Ines steht durch den Job ständig unter Strom, hat eben gar keine private Zeit und muss auch spätabends noch gesellschaftlich zur Verfügung stehen. Von diesem Kontrast lebt der Film, ein richtiges zeitlich limitiertes Drama, auch in seiner komödiantischen Form, gibt es nicht. Als Winfried die täglichen Abläufe der Tochter immer mehr stört, weil er ihre ständige Aufmerksamkeit einfordert, was sie gar nicht leisten kann – bittet sie ihn, abzureisen. Das sieht Winfried scheinbar ein. Es kommt zur beinahe einzigen großen Szene des Films: Winfried steigt unten ins Taxi, Ines oben im Schlafanzug auf dem Balkon, winkend, während ihr die Tränen herunter laufen, plötzlich steht da die Tochter, die Winfried verloren glaubt, das Kind, das Ines unter anderem ja auch ist. Das wäre eine schöne Zäsur gewesen. Aber, schon auf solcher Höhe, stürzt der Film ab da erzählerisch immer tiefer. Winfried taucht wieder auf, als schlecht verkleidete Kunstfigur, um als „Toni Erdmann“ nicht nur in der Nähe der Tochter zu bleiben, sondern auch, um ihr Leben durcheinander zu bringen. Leider hält Ade das Versprechen dieser Idee nicht, die Erzählung beginnt zu taumeln, denn Toni Erdmann kommt und verschwindet beliebig oft, reißt auf Partys und bei Dienstgesprächen als Narr seine Witze, ohne Notwendigkeit, ohne Zuspitzung, ohne Steigerung, dafür mit endlosen Wiederholungen des Herausnehmens und Einsetzens von Falschgebiss und Perücke. Aneinanderreihung statt Verknüpfung.
Das Vater-Tochter-Sujet, zeigt der Film, kann leicht zu einem fragwürdigen Bild erstarren: das vom paternalistisch-männlichen Ratgeber und Fels in der Brandung mit töchterlich- weiblich-sich-anlehnender Elevin. Hier geht es im Konflikt zwischen Vater und Tochter um die Differenz ihrer Lebenstempi und verharrt im ästhetischen Gegensatz zwischen Lebensfreude (Vater) und Lebensfrust (Tochter), ferner in dem zwischen kalter Kapitaldienerin und warmherzigem Alt-68er. Das Langweilige an dieser Konzeption ist, dass der Vater in einem höheren Sinne immer Recht hat und als der „wahre Mensch“ stilisiert wird. Kein Gegenentwurf kommt zum Tragen – nämlich dass die Tochter vielleicht auch etwas im Leben des Vaters verändern, erhellen könnte. Die Selbstgerechtigkeit der Winfried-Figur gipfelt in seiner Frage, ob sie überhaupt ein Mensch sei und wird nach ihrer Präsentation von einem Kommentar des Chefs unterstützt („Du bist ein Tier.“), während Ines einfach nur ihre Sphäre – privat und dienstlich – so verteidigt wie es eine Tochter, der der Vater zu nahe kommen will, nur verteidigen kann.
Ein Trost ist die großartige Schauspielarbeit. Sandra Hüller versucht ihre Ines-Figur vor der konzeptionellen Eindimensionalität zu bewahren und verleiht ihr fast in jeder Szene untergründige Sensitivität. Sie wolle ihre Figuren „immer schützen“, sagte sie im Interview. Hier leider vergeblich. Das führt schließlich dazu, dass Ines aus der Geburtstagsparty rennt, „Papa“ ruft und einer Über-Vater-Figur ins Fellkostüm fällt, ein Moment, der rühren soll, aber eher befremdet. Gegen das Fahrwasser der Regie kann Hüller zwar das Ruder nicht herumreißen, aber sie hat ihre Momente. Als zum Beispiel der Vater sie am Swimmingpool fragt, wo bei ihr „Spaß“ und „Glück“ im Leben blieben, kontert sie ironisch in Pro-Rethorik: „Spaß, Glück, Lebenssinn, das sind große Themen, wir müssen das mal ein bisschen ausdünnen.“ Oder als er sie nötigt, das pathetische Lied von Whitney Houston „Greatest Love Of All“ auf einer Party zu singen, natürlich in seiner Klavier-Begleitung, verhindert Hüller durch spannende Kontrastsetzung von innerem Widerstand der Tochter und im Text gesungener Unterwerfung („Everybody is looking for a Hero“) die kitschige Botschaft. Was mit Szenenapplaus in Cannes gefeiert wurde, gilt im hiesigen kulturellen Kontext wohl als Läuterung der Ines. Eine Leistung ist ebenfalls, wie es Theaterschauspieler Peter Simonischek (Winfried/Toni) gelingt, zu spielen, er könne nicht spielen. Pointiert gibt Michael Wittenborn Ines’ Chef Henneberg, und Ingrid Bisu spielt die rumänische Assistentin Anca mit subtiler Komik als folgsame Azubi.
Großes Können zeigt Maren Ade nach wie vor in ihrem kargen Inszenierungsstil: dem Aufbau und Halten von Spannung in Einzelszenen, wo lange nicht mit einem Schnitt dazwischen gegangen wird und die Figuren Zeit haben, sich zu entfalten. Keine Musik als Untermalung, nur Szenengeräusche. Über dem Abspann dann ein einziges Lied.
Wenn schon nicht mit der zwischenzeitlich prophezeiten Goldenen Palme von Cannes im Schlepptau, wird der Film hier dennoch umarmt.
Vielleicht ist es die Sehnsucht des aufgeklärten Mittelstandes nach Irrationalität und dem tieferen Sinn des Lebens hierzulande, die sich in Begeisterungsstürmen für diesen Film niederschlägt. Eine Käsereibe wird zum Symbol glücklicher Kindheit, eine dysfunktionale Nacktpartie zum Befreiungsschlag, eine intelligente tüchtige Frau zum freudlosen Workaholic und ein nervender älterer Herr gar zum „Clown, der das System entlarvt“ (Bayrischer Rundfunk).
Na ja.