Werden wir alle, durch die Konzentration auf die autoritäre Seite der Macht, auf extreme Ereignisse, blind für die alltäglichen und beständig wirksamen Machtstrukturen?
Von Wolfgang Kaleck
(Aus telegraph #129/130)
I.
Nichts wäre einfacher, als im telegraph, dem Zentralorgan der ehemaligen linken DDR-Opposition die Geheimdienste im Allgemeinen zu verdammen, den Bogen von der Stasi über die Aufwertung des Exekutive und damit der Dienste nach dem 11. September 2001, die Rolle der Verfassungsschutzämter gegenüber rechtsradikaler Gewalt und den aktuellen NSA-Skandal zu ziehen.
Doch irgendwie ist es mir etwas zu einfach, schwarz-weiß, einfache Analysen haben derzeit Inflation, als wenn politisches Handeln nicht eine sorgfältige Analyse und eine der Komplexität der Probleme angemessene strategische Herangehensweise erfordern würden. Mir kommen die Worte von Antonio Negri und Michael Hardt zu Beginn ihres 2009 erstmals erschienenen Werkes „Common Wealth. Das Ende des Eigentums“ in den Sinn. Sie konstatieren einen „neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Politik“. „Der Verweis auf die uneingeschränkte Macht des Souveräns und den Ausnahmezustand, das heißt auf die allgemeine Suspendierung des Rechts und das Hervortreten einer Gewalt, die über dem Gesetz steht, dient als Erklärung für alles und jedes.“ Sie bemängeln, dass die Fokussierung auf eine transzendente Autorität und Gewalt dazu führt, die wahrhaft dominanten, uns weiterhin beherrschenden Formen der Macht zu verdunkeln und zu mystifizieren – der Macht, wie sie sich im Eigentum und Kapital vergegenständlicht findet, der Macht, wie sie im Recht verankert ist, dessen vollen Schutz sie zugleich genießt.“ Durch die Konzentration auf die autoritäre Seite der Macht auf extreme Ereignisse, würden wir alle „blind für die alltäglichen und beständig wirksamen Machtstrukturen“. Nicht dass dies bloß eine unvollständige verzerrte Analyse wäre, eine solche stünde auch Bemühungen um politische Veränderungen im Wege: Wenn man die Welt so sähe, gäbe es – so Negri und Hardt- „keine Hoffnung darauf, gegenüber einer solchen Macht auf demokratischem Weg Veränderungen herbeizuführen“.
Mir scheint dies eine treffende Zustandsbeschreibung auch der aktuellen Diskussion um die NSA-Überwachung zu sein.
II.
Damit will ich mitnichten die Diskussion um die Rolle von Repression gegen soziale Bewegungen und von Geheimdiensten abschneiden. Immerhin begleitet diese Diskussion auch meine politische und juristische Arbeit.
So begegnete ich 1991 den Telegraphen im damaligen Haus der Demokratie und Menschenrechte in der Friedrichstrasse 165, dem ehemaligen Hauptquartier der SED-Kreisleitung. Gemeinsam mit meinen Anwaltskollegen hatten wir die Räume im ersten Stock gegenüber dem Büro des Bürgerkomitees 15. Januar und der Redaktion von Horch und Guck, zwei Stockwerke unter dem Neuen Forum bezogen. Wir Westanwälte hatten wenig mehr als Zeitungswissen über das tatsächliche Ausmaß und vor allem die Alltäglichkeit der Überwachung und der Repressionsmaßnahmen der Staatssicherheit in der DDR.
Zwar hatten wir uns alle, quasi als Teil unserer politischen Sozialisation und als Teil unserer Sozialisation als Rechtsanwälte, im Besonderen als Strafverteidiger, auch in der alten Bundesrepublik mit Repression und Überwachung beschäftigt. Namentlich waren dies die großen Kampagnen zum Volkszählungsboykott 1983 und 1987, aber auch die Rolle des Verfassungsschutzes beispielsweise im Mordfall Schmücker oder beim sogenannten Celler Loch waren uns ein Begriff. Unsere rechtsanwaltliche Arbeit bestand seinerzeit neben der Vertretung von Opfern rechtsradikaler Gewalt in den neuen Bundesländern in der Akteneinsicht, der Begleitung von Einsichtnehmenden in die Stasiarchive und natürlich der Erörterung rechtlicher Möglichkeiten gegen Maßnahmen der Stasi, namentlich die Einleitung von Strafverfahren und die Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche.
Neben dieser sehr konkreten anwaltlichen Arbeit ging die politische Auseinandersetzung mit dem System und der Gesellschaft in der DDR ein wenig unter, ohne dass ich dies heute problematisch fände. Denn es bestand ein konkreter Bedarf die rechtliche Unterstützung für Betroffene der Stasiüberwachung zu organisieren.
III.
Vor allem unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 mussten wir uns dann alle wieder mit der wachsenden Intransparenz und dem Machtzuwachs für die Dienste auf der gesamten Welt beschäftigen, so in der gemeinsamen Stellungnahme von zahlreichen Bürgerrechtsorganisationen zu Schilys Sicherheitspaketen, mit denen die politisch günstige Gelegenheit genutzt werden sollte, unter dem Eindruck der Anschläge, die Wunschlisten der Sicherheitsbehörden abzuarbeiten. In der Stellungnahme wurde kritisiert, dass die gefährlichen innen- und justizpolitischen Tendenzen des letzten Jahrzehntes fortgesetzt würden. Nicht nur ineffektive und zur Erreichung der behaupteten Ziele zur Terrorismusbekämpfung überflüssige Ermächtigungen würden geschaffen, sondern rechtsstaatlichen Errungenschaften der politischen Kultur würde nachhaltig Schaden zugefügt. Insbesondere wurden die schwerwiegenden Eingriffe in rechtsstaatliche Grundsätze wie das Schuldstrafrecht mit seinen engen strafprozessualen Eingriffsvoraussetzungen, dem Tatverdacht, die polizeirechtlichen Ermächtigungsgrundlagen mit der Gefahr als Anknüpfungspunkt polizeilicher Maßnahmen und das Fehlen einer der Rechtsweggarantie des Grundgesetzes gerecht werdenden gerichtlichen Kontrolle kritisiert. Stattdessen hätten sich Konzepte zu einem Sicherheits- und Krisenbekämpfungsstaat durchgesetzt. Beispielhaft ließe sich dies an den verdachtsunabhängigen Abhör- und Datenübermittlungskompetenzen des BND nachvollziehen. Nach dem Wegfall der Blockkonfrontation und des Kalten Krieges sei jede sich bietende Gelegenheit genutzt worden, um innere und äußere Bedrohungen wie organisierte Kriminalität, Betäubungskriminalität, Rechtsradikalismus, Hooliganismus oder Sexualstraftaten zum Anlass zu nehmen, Gesetzesänderungen mit weitreichenden Folgen durchzusetzen.
Ich will nicht sagen, dass wir mit unserer Kritik ganz falsch lagen, doch hatten wir das Ausmaß der dann folgenden Maßnahmen und Rechtsverletzungen ziemlich unterschätzt. So wurden nach dem Einmarsch in Afghanistan Ende 2001, im Zuge der Errichtung des Gefangenenlagers in Guantanamo Anfang 2002 sowie nach dem Einmarsch in den Irak im März 2003 Tausende von Zivilpersonen willkürlich verhaftet, teilweise über Jahre ohne wirksame rechtliche Kontrolle festgehalten und – was am schwersten wiegt – misshandelt und gefoltert. Besonders eklatant war die Behandlung der Terrorismusverdächtigen, die Ziele von sogenannten extraordinary renditions, also den Entführungsflügen der CIA, waren. Diese Personen wurden zum Teil in Europa unter Mithilfe europäischer Behörden (El-Masri/Mazedonien, Abu Omar/Italien, Mohammed Zammar/Deutschland) entführt und in notorische Folterstaaten verschleppt. Ein anderer Teil der Verdächtigten wurden in den Geheimgefängnissen in Rumänien, Litauen und vor allem im CIA-Gefängnis in Polen festgehalten und gefoltert. Bei der polizeilichen und geheimdienstlichen Zusammenarbeit mit offenkundigen Folterstaaten wie Pakistan oder Marokko bedienten sich auch europäische Staaten entgegen der UN-Antifolterkonvention aus dem Pool von Nachrichten, die anderswo unter rechtswidrigen Umständen, insbesondere unter Folter, gewonnen wurden. In vollkommen intransparenter Weise wurden Terrorismusverdächtige durch verschiedene Institutionen wie die UN und die Europäische Union sowie durch einzelne Nationalstaaten in sogenannte Schwarze Listen aufgenommen, wodurch die Verdächtigen zunächst einschneidende Folgen für ihre Existenz (Kontensperrung, Einreise- und Ausreiseverbote, Flugverbote) erfuhren und wogegen sie bis heute nur unzureichend gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen können.
IV.
Doch nicht nur in anderen Teilen der Welt spielten sich verheerende Geheimdienstaktivitäten ab, in Deutschland konnten wir in den letzten Jahren ein neues Kapitel zum Thema Rechtsradikale Anschläge und Geheimdienste schreiben. Nichts Genaues weiß man nicht -– auch jetzt nicht, nachdem der Untersuchungsausschuss im Thüringer Landtag zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) seinen Abschlussbericht vorgelegt hat und der Prozess gegen NSU-Verdächtige in München anderthalb Jahre läuft. Offen sind auch auf Bundesebene derart viele Themen, dass der Bundestag einen zweiten NSU-Untersuchungsausschuss auflegen muss. Und jetzt noch der Wiederaufnahmeantrag zum Oktoberfest-Attentat 1980: Der Münchener Rechtsanwalt Werner Dietrich, Vertreter der Opfer, arbeitet seit 29 Jahren daran, die Einzeltäterthese der Strafverfolgungsbehörden von damals zu entkräften. Auf dem Oktoberfest explodierte am 26. September 1980 eine Bombe, die 13 Menschen tötete und 200 zum Teil schwer verletzte. Als Bombenleger wurde schnell der Rechtsradikale Gundolf Köhler, der selbst bei dem Anschlag umkam, identifiziert. Genauso schnell legten sich Polizei und Staatsanwaltschaft darauf fest, dass es sich um einen Einzeltäter gehandelt habe – ein immer wiederkehrendes Erklärungsmuster bei rechtsradikalen Gewaltakten: Einzelfall, schlimm, sicherlich, aber keine Organisation dahinter erkennbar, also auch keine politischen Konsequenzen notwendig. Es gab bereits 1980 Hinweise auf Verbindungen des Attentäters Köhler zu militanten neonazistischen Gruppen. Die Ermittler sind allerdings, damals in der alten Bundesrepublik, diesen Hinweisen alleine deswegen schon nicht nachgegangen, weil sie dann hätten zugeben müssen, dass die „Wehrsportgruppe Hoffmann“ und Gruppen um den Waffenlieferanten Heinz Lembke (Tod durch angeblichen Selbstmord nach Geständnis!) oder den Neonazi Odfried Hepp tatsächlich existierten. Auch Zeugenaussagen zu weiteren Personen am Anschlagsort wurden ignoriert. Einzeltäter, Zufall, Versäumnisse, damals wie heute.
V.
Seit Sommer 2013 tobt nun die Debatte über die von Edward Snowden veranlassten Enthüllungen über die Auswüchse der Überwachung durch die NSA und andere. Doch es droht zum einen eine von ihm nicht gewollte Personalisierung auf Edward Snowden und seine Heroisierung sowie die Engführung der Diskussion. Denn wer über Geheimdienste und Überwachung redet, darf nicht von den großen Datensammel-Unternehmen und nicht vom globalisierten Kapitalismus schweigen. Der verstorbene Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, konstatierte eine Symbiose kommerzieller und militärischer Rationalität und verstand die Geheimdienst als Teil der globalisierten zentralisierten Überwachungsmärkte. Daher macht es wenig Sinn, dieser Folge der Globalisierung mit borniertem Nationalismus zu Leibe zu rücken, einen Flickenteppich zu knüpfen, etwa ein deutsches, ein französisches Internet aufzubauen.
Schirrmacher plädierte für die Waffe „Aufklärung“. Allerdings geht es nicht nur darum, rechtswidrige wie gefährliche Zustände aufzuzeigen, sie zu verstehen und zu skandalisieren. Es muss auch darum gehen, diese abzustellen. Die Enthüllungen über die Massenüberwachung haben bestätigt, dass die technische Entwicklung der gesellschaftlichen Entwicklung weit voraus ist. Seit Juni 2013 wissen wir, dass das, was technisch möglich ist, auch angewandt wird und dass demgegenüber keine wirksamen politischen und rechtlichen Steuerungsinstrumente erkennbar sind. Das Recht ebenso wie die Politik müssen dringend dem digitalen Zeitalter angepasst werden- dies auch als Referenz auf die Mahnung von Negri und Hardt. Ohne dies zu vergessen: Praktisch alle der hier angerissenen Rechtsverletzungen wurden von Whistleblowern, Investigativ-Journalisten und Menschenrechtsorganisationen aufgedeckt. Doch anstatt diese Watchdogs in ihrer Position zu stärken, müssen Chelsea Manning, Edward Snowden, Glenn Greenwald und Laura Poitras drakonische Strafen, Exil sowie erhebliche Einschränkungen der beruflichen Tätigkeit in Kauf nehmen. Daher ist Solidarität mit ihnen ebenso vonnöten wie eine Auseinandersetzung mit Geheimdiensten und Datenunternehmen.
Wolfgang Kaleck ist Rechtsanwalt. Im Jahr 2007 gründete er die juristische Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) und ist deren Generalsekretär. Kaleck ist unter anderem Anwalt von Whistleblower Edward Snowden.