„Werk ohne Autor“, Dt. 2018, Buch und Regie: Florian Henckel von Donnersmarck
Von Angelika Nguyen
Tom Schilling sitzt in einem Baum. In einem Riesenbaum auf einer Riesenwiese. Da kommt Wind auf, zieht durch die tausendfach wogenden Halme. Ziemlich großartig. Es ist sein erster Auftritt im Film. Tom Schilling spielt Kurt Barnert, der in dieser Szene Anfang 20 ist und noch nicht so recht weiß, wohin mit sich im Leben. Der Film stilisiert die Szene als Erkenntnismoment. Kurt rennt los, zum Vater und erzählt ihm, er hätte die Weltenformel entdeckt, und könne nun von Beruf werden, was immer komme, er müsse kein Künstler mehr werden, mach dir keine Sorgen mehr um mich, Vater. Eine seltsam pathetische Szene, die so gar nicht zu den beiden eher sparsamen Darstellern Jörg Schüttauf (als Vater) und Tom Schilling passt. Aber sie passt zu Florian Henckel von Donnersmarck.
Da ist die Hälfte des Films schon herum, und da hat die Hauptfigur bereits die Kindheit in der Nazizeit hinter sich, auch den Besuch als fünfjähriger Steppke 1937 in der Propaganda-Ausstellung „Entartete Kunst“ an der Hand seiner Tante Elisabeth und hatte schon erlebt, wie sie nackt vor ihm steht und sich einen Aschenbecher an den Kopf haut, bis sie blutet, „für den Führer“, und da hat er schon ihren gewaltsamen Abtransport im Krankenwagen gesehen, und das Publikum hat schon Elisabeths aussichtslosen Kampf gegen die Zwangssterilisation und ihre Ermordung gesehen.
Der Film zeigt diesen Verlust als prägendes Kindheitserlebnis von Kurt, was aber dann konsequenterweise aus der Sicht des Kindes hätte erzählt werden müssen. Schon früh ist zu merken, dass Donnersmarck sich aus solchen Sachen entweder nichts macht oder ihm gefällt es, die allmächtige Vogelperspektive einzunehmen, von der aus er alles sieht. Nur so erklärt sich die Szene von Elisabeth bei dem SS-Arzt Carl Seeband vom Gesundheitsamt, wo der Junge nicht anwesend ist. Oder dass der Regisseur sich sogar nicht scheut, das Sterben Elisabeths und anderer geistig Kranker im Inneren einer Gaskammer zu zeigen. Donnersmarck inszeniert dieses Tabu mit empörender Unbedarftheit, die nicht mal irgendeine kreative Intention erkennen lässt, so als gäbe es die Szene nur der Vollständigkeit halber. Das Schicksal Elisabeths entwickelt Donnersmarck als Übermotiv, als untergründiges Schuld- ohne- Sühne-Drama, schwärend in der Seeband-Familie, in die Kurt schicksalhaft einheiratet. Fortan beschleichen ihn Ahnungen, auch wenn es unlogisch ist. Denn weder war Kurt anwesend, als Seeband das Todesurteil unter das Untersuchungs-Protokoll Elisabeths setzt noch war er alt genug, um wirklich ein Verbrechen zu vermuten. Seine Tante Elisabeth kam einfach nicht mehr nach Hause. Dass der erwachsene Kurt herausbekommt, was mit ihr passiert ist, das wäre ein Familienkrimi gewesen. Aber den wollte Donnersmarck irgendwie auch nicht erzählen. Aber was dann? Es wirkt so, als wisse er das selbst nicht so genau.
Der zweite Teil des Films erzählt von der Flucht des jungen Ehepaares Kurt und Elli Barnert 1961 kurz vor dem Mauerbau vom Osten in den Westen und von der Suche des Kunststudenten Barnert nach Stil, Thema, Inspiration. In der Düsseldorfer Kunstakademie kommt es zur folgenschweren Begegnung mit Professor „Antonius van Verten“, der natürlich eigentlich Joseph Beuys sein soll. Dem kraftvoll-extrovertierten Oliver Masucci, der diese Figur spielt, gelingt es als einem der wenigen im Ensemble, sich vom Korsett der phantasielosen Donnersmarck-Regie zu befreien und schlägt vom ersten Moment an einen eigenen Ton an. Mehr noch, in den paar Szenen zwischen Kurt und dem Lehrer gibt es etwas, was der Film sonst eher vermissen lässt: eine echte Figurenbeziehung. Das beginnt damit, dass der Professor zu dem Akademie-Bewerber Kurt sagt, er habe Augen, die schon viel gesehen hätten und ihn daraufhin immatrikuliert. Was Tom Schilling mit einem einzigen Blick erwidert, der Ertapptsein, Freude und Anerkennung gleichermaßen enthält. In dieser Sekunde findet Kurt seinen Mentor. Ein paar Szenen weiter gibt der dem Kunst-Schüler zu verstehen, dass das, was da in Kurts Ateliers herumsteht, nur Mist ist und nichts mit dem zu tun habe , was Kurt wirklich sei. Und der Lehrer erzählt Kurt eine berührende Geschichte, warum er sich in seinen Installationen in Filzdecken wickelt und warum er Fett in Raumecken schmiert. „Fett und Filz, das bin ich“, sagt van Verten, „aber wer bist du?“ Das ist aufregend, das ist großartig gespielt. So schafft das der Film in keiner anderen Beziehung. Paula Beer zum Beispiel hat mit Elli Seeband eine seltsam verschwommene Figur. Sie lächelt schön wie immer und ist statistisch gesehen durch die vielen Sexszenen mit Kurt und die berühmte Treppen-Szene öfter aus- als angezogen, aber bekommt keine einzige Szene der Auseinandersetzung mit dem Vater über eventuelle Nazischuld, obwohl sie immerhin Kurt erzählt, „dass er die Frauen Görings und Goebbels’ “ behandelt hat oder wenigstens der Neugier, was er getan haben könnte. Aus der familiären Verstrickung des Vaters in den Nazi-Mord an Kurts Tante wird sie komplett herausgehalten. Kurt, mit dem sie angeblich so eine innige Beziehung hat, redet mit ihr darüber kein Wort. Und als er, erleuchtet von dem Presse-Foto des Euthanasie-Verbrechers Kroll, dem Chef von Ellis Vater und ermattet von nächtlichem Künstlerglück und der Entdeckung der Mord-Schuld des Schwiegervaters zu Elli kommt, fällt Donnersmarck nichts anderes ein als – na was? – ja richtig, noch eine Sexszene. Kein Gespräch über die ungeheure Entdeckung.
Dass der Regisseur keine Leerstellen für Phantasie schafft, sondern immer alles und ganz nah zeigen muss – nackte Körper, Sex, Gaskammer, die Geburtshilfe bei der Frau des sowjetischen Majors inklusive der geradezu albernen Nachbildung einer Nabelschnur – und dann aber auch wieder Wichtiges vermissen lässt, das ist anstrengend. So erklärt sich übrigens auch die Filmdauer von dreieinhalb Stunden.
Außer Oliver Masucci gelingt es noch drei Schauspielern, zeitweise auszubrechen aus dem Regie-Kalkül: Jörg Schüttauf, dem, wenn Donnersmarck ihn nur mehr gelassen hätte, eine vollendet erschütternde Nebenfigur als Kurts Vater hätte gelingen können. Allein die Art, wie Schüttauf „Drei-Liter“ statt „Heil Hitler“ sagt, deutet auf das Potential. Oder wie er nach dem Krieg versucht, zu erklären, dass er kein Nazi war, obwohl in der Nazipartei und wie er dann die Treppen wischt in der Schule, in der er eigentlich hätte unterrichten können.
Sebastian Koch als SS-Arzt Carl Seeband wiederum muss lange Zeit eines jener langweiligen und schon oft im deutschen Kino und TV gesehenen Porträts des glatten deutschen Naziverbrechers geben, der mühelos Feinsinnigkeit und Sadismus verbindet. Das kann man nicht mehr sehen. Weil die Täter nie bestraft werden, weil sie nie die Fassung verlieren, und erst der Moment, wenn sie die Macht verlieren, wird doch interessant. Auch Seeband ist immer gefasst, macht nach seiner Nazi-Schreibtischtäter-Periode in der neuen Zeit wieder Karriere, erst im Osten, dann im Westen. Das macht ihn 180 Film-Minuten lang vorhersehbar. Aber dann gegen Ende bricht Carl Seeband vor den entlarvenden Gemälden des Schwiegersohns auf den letzten Metern endlich zusammen. Das spielt Sebastian Koch gut aus, und man gönnt es dem Bösewicht.
Vierter im Bunde ist Hauptdarsteller Tom Schilling selbst, seine schauspielerische Sparsamkeit ist manchmal wie ein Schutzschild gegen diese Regie – retten kann sie den Film nicht.
Das Spielerische, Zufällige, Fließende ist Donnersmarcks Sache nicht. Geradezu ängstlich perfekt sind seine Szenen arrangiert, nackte Körper sorgsam drapiert, Beziehungen nur oberflächlich gesetzt und wird Zeitgeschichte benutzt als Fundus für die in genau vorgegebenen Radien sich bewegenden Figuren. Obwohl der Regisseur öfters eine Szene auserzählt, ohne zu kürzen, hat man das Gefühl, da ist nichts zufällig, nichts leicht.
Das erzeugt nicht nur Langatmigkeit. Da gerät auch der Regisseur mit dem Künstler Gerhard Richter ästhetisch aneinander, aus dessen Biographie er – obwohl er das im Nachhinein herunterspielt – Werdegang, Kunststil, familiäre Hintergründe und Verkettungen, ja sogar Richters zierliche Körperlichkeit und auffallende blaue Augen geradezu plündernd verwendet. Denn Richters Werk ist ein großes Bekenntnis zum Zufall als entscheidender Kunstfaktor. Der lebendige Zufall der Fotografie ist eine wichtige Quelle für Richters Arbeit, aber auch unvorhersehbare Farb- und Flächenspiele mit dem Rakel, dem Abstreifholz, und zufällig sind auch die Passanten, die sich in Köln vorübergehend in seinen 11 Glasscheiben spiegeln.
Donnersmarcks Regiestil ist das Gegenteil solcher Freiheit. Richter verzichtete schon nach Ansicht des Trailers auf den gesamten Film, der ihm eh zu lang sei; einer Einladung zur Premiere folgte er nicht.
Einer wie Richter, zu groß für Donnersmarck.
Foto: Ausschnitt aus offiziellem Filmplakat