„Kabul Kinderheim“, Spielfilm 2019, Afghanistan, Dt., FR, Luxemburg, Dänemark, Katar, Buch und Regie: Shahrbanoo Sadat
Von Angelika Nguyen
Kabul 1989. Der obdachlose Waisenjunge Qodrat hat sich mit dem Leben auf der Straße arrangiert, verkauft illegal so manches Zeug und weiß geschickt der Polizei zu entkommen. Dann wird er doch erwischt und kommt in das staatlich finanzierte Kinderheim von Kabul, wo es gar nicht so schlecht ist wie anfangs scheint. Qodrat geht das erste Mal richtig zur Schule und findet im Heim trotz all der Streitereien eine Reihe von Gleichgesinnten. Der Machtkampf im Land noch unter sowjetischer Militärpräsenz findet in der Geschichte des Films zunächst kaum Niederschlag, außer dass die Jungs eines Tages scharfe Patronen finden. Sie sehen sie als hübsches Material für Schmuckkreationen und nicht die tödliche Gefahr. Einer von ihnen, Hasib, bezahlt diesen Irrtum mit seinem Leben. Die Gruppe scheint am Boden zu sein und die Geschichte in einer Tragödie zu enden. Aber die Regisseurin Shahrbanoo Sadat erfindet eine besondere Strategie, der Niedergeschlagenheit zu begegnen: mit Bollywood-Songs. Damit schafft sie einen poetischen Raum, in den die Kinder immer dann flüchten, wenn alles unerträglich ist. „Freundschaft bis zum letzten Atemzug!“ so singen Qodrat und ein Freund eine Szene weiter lauthals auf dem Motorrad, und damit ist nicht die Freundschaft zur SU gemeint, „Lieber sterben als dich zurücklassen!“ brüllen sie weiter gegen den Fahrtwind. So lassen die beiden ihre Trauer um den Freund heraus. Ob in Wirklichkeit oder im Traum, lässt der Film offen. Die kulturelle Bedeutung der indischen Blockbuster in Afghanistan erläutert Sadat in einem Interview: „Bollywood ist in meinem Teil der Welt eine riesige Filmindustrie, und die Freundschaft zwischen Afghanistan und Indien hat sie noch stärker gemacht. Fast alle Afghanen können Urdu sprechen, weil sie so viele indische Filme sehen. Vielleicht waren die 1980er Jahre die goldene Zeit dafür, weil wir Kinos hatten und es zumindest in der Hauptstadt Kabul Frieden gab.“ Endorphine durch Blockbuster. Gute Laune als Notausgang.
Der Film entstand etwa 2018/19, da NATO-Truppen noch glaubten, das Land gegen die Taliban im Griff zu haben und im Interesse des Westens gestalten zu können. Seine Handlung wiederum spielt 30 Jahre früher, im Kalten Krieg, als Afghanistan zum Spielball der Interessen der Großmächte Sowjetunion und USA wurde. „Was mich interessiert,“ sagt die Regisseurin, „ist, in der Vergangenheit zu graben, um herauszufinden, wo das alles eigentlich angefangen hat.“
Diese große Politik bleibt in der Geschichte jedoch unsichtbar, ist nur Wissenshintergrund. Im Zentrum steht Qodrat, der im Kinderheim ein Zuhause findet. Der Film erzählt von Apfeldiebstahl, atemlosem Lauschen nachts im Mädchenzimmer, von einem Flug nach Moskau, Russisch-Unterricht, Zeltlager, einer Pionierversammlung mit roten Halstüchern, einem Besuch beim toten Lenin im Mausoleum (extra inszeniert für den Film), wo die Kinder verlegen herumstehen. Dann wieder Bollywood-Gesänge im Bus (auf Urdu), Schachspiel zwischen Doppelstockbetten, Rauferei um den Sieg. Aus Qodrats Blickwinkel erleben wir so wie selten Alltag in Afghanistan, die Sehnsüchte und Sorgen von Halbwüchsigen, das Sozialgefüge eines Heims in Kabul und eine gewisse Geborgenheit darin. Freundschaft, Solidarität, eine richtige Schulbildung.
Und schließlich bricht in diese Alltagswelt doch der Krieg ein – die „Nationale Islamische Bewegung Afghanistans“, deren bärtige Männer in Dokumentaraufnahmen zu sehen sind, wird bald Kabul erreichen. Rauchend liegt der Heimleiter im Bett, sieht die Nachrichten im Fernsehen. Die Sorge um die Kinder, das ist zu spüren, treibt ihn um. Das Essen wird schlechter, es sind Fliegen darin, die Frau im Büro trägt jetzt Schleier, kein Leninbild mehr da. Mit Blick für Requisiten und Kulissen versetzt die junge Regisseurin (Jahrgang 1990) ihre Figuren in eine Zeit, die sie selbst nicht erlebt hat. Die Idee zum Film kam ihr bei der Lektüre des Tagebuchs ihres Freundes Anwar, der darin seine Zeit in Kabul als Obdachloser und Kinderheimbewohner beschreibt. „Seine Aufzeichnungen nahmen mich mit auf eine Reise durch die Geschichte Afghanistans der letzten vierzig Jahre, und zwar aus der unschuldigen Perspektive eines Waisenkindes. Er war ein Kind, das in einem Krieg steckte, der nicht sein Krieg war.“
Die halbwüchsigen Laiendarsteller, in Afghanistan gecastet, durch behördliche Labyrinthe nach Tadschikistan gebracht, wo die Landschaft noch so afghanisch ist, dass viele Aufnahmen dort stattfinden konnten. Der Film wurde von vielen europäischen Länder ko-finanziert, doch bevor die afghanischen Darsteller auch in Europa drehen konnten, vergingen ganz vier Monate – für Dreharbeiten eine Ewigkeit – für Behördengänge. Die Beschaffung von Schengen-Visa schien fast aussichtslos, bis die Crew über Umwege das Kunststück vollbrachte. Für das Heim wurde ein tadschikisches Gebäude gefunden, das, zuvor ein Bordell, umgebaut werden konnte. Durchgängige, großzügige Räume sind für das visuelle Konzept der Regisseurin wichtig. Oft genug geht die Kamera mit den Handlungsereignissen in den Räumen mit und erzeugt damit ein Höchstmaß an physischer Dynamik. Dabei bleibt der Film visuell unspektakulär, auf Effekte hat Sadat es nicht abgesehen.
Das Drama des Machtwechsels von der sowjetisch unterstützten Regierung zu den Mudschaheddin 1992 kommt auf leisen Sohlen durch die Straßen zum Heim. Gekonnt baut die Regisseurin die Spannung auf, geht mit der Kamera mit, als der Heimleiter die Kinder vom Hof ins Gebäude zu drängen sucht. Eine dunkle Menschenmasse wälzt sich die Fahrbahn entlang. So sehen Pogrome aus, Umstürze, so kündigen sich Massaker an. Und dann gelingt der Regisseurin ein explosiver Schluss. Die Poesie des Kinos, hier ist sie.