„Draußen in meinem Kopf“, Regie: Eibe Maleen Krebs, Dt. 2018
Von Von Angelika Nguyen
Schon auf dem Plakat des Films ist das visuelle Zentrum ein einziges Auge von Samuel Koch, der den Sven spielt. Damit hält er sein Gegenüber fest, den ganzen Film lang. Blaue Iris, leuchtend, ernst, fragend und insistierend zugleich: Was willst du von mir? Lass mich in Ruhe. Ich brauche keine Hilfe. Und zugleich: Ich brauche dich.
So widersprüchlich und reserviert, ja zornig empfängt der an fortgeschrittener Muskeldystrophie erkrankte junge Sven seinen neuen Pfleger Christoph, der im Pflegeheim sein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren will. Der Film beginnt mit einer Umkehrung: Sven, der Pflegebedürftige, ist der Sichere und spöttisch Überlegene. Jeden Anflug von Mitleid und Helferattitüde verbittet er sich. Auf der anderen Seite Christoph, der Neue, der darum bittet, helfen zu dürfen. So wirbt Christoph in den ersten Szenen um Zuneigung und Vertrauen des Gelähmten, zusätzlich eingeschüchtert durch die eingeübte Gemeinschaft von Personal und anderen Kranken des Heims.
Sorgfältig und konzentriert, sich allmählich steigernd bis zum ersten Wendepunkt erzählt der Film, wie die beiden sich kennenlernen und im Kammerspiel allmählich Vertrauen zueinander aufbauen.
Fast nebenbei ist zu erfahren, dass es für Sven praktisch keine Intimsphäre gibt, er wird ausgezogen, angezogen, massiert, gefüttert, geduscht. Aber das ist nicht das Thema. Sven ist kein Pflegeopfer. Er ist innerlich frei, autark, ironisch. Das macht Sven die ganze Zeit über deutlich, bei allem, was an Pflegehandlungen über ihn in der täglichen Routine ergeht. So wahrt Sven für sich schützende Distanz. Christoph aber begegnet ihm mit einer geradezu stürmischen Frische und Zuneigung, die Svens Schutzpanzer wenigstens ein bisschen durchbricht. Das alles spielt sich ausschließlich in dem kleinen Zimmer von Sven ab. Den ganzen Film über verlässt die Kamera diesen Raum nicht, erst am Schluss. Und dabei ist er hochdramatisch.
Der Bruch kommt, als Sven Christoph vor der Pflegerin Louisa absichtlich demütigt und Christoph sich daraufhin krank meldet. Danach macht er nur noch Dienst nach Vorschrift, mechanisch die Handgriffe, schweigend. Ein Wendepunkt: jetzt bittet Sven wortreich um die Zuwendung Christophs – und um Entschuldigung. Da greift der Film zum ureigenen Mittel seines Sujets – Sven wird bewusstlos und Christoph dramatisch fürsorglich. Nach diesem kleinen Rettungsdrama sind sie sich viel näher als zuvor. Und so wird Christoph der Mensch, dem Sven seinen geheimsten Wunsch anvertraut.
Der Film gewinnt seine Spannung aus einer sorgfältig aufgebauten Handlung und aus lauter Details: das knabbernde Eichhörnchen am Fenster, die Fliege auf Svens Hand, seine nackten, gelähmten Füße, die Atemmaske, die Staubkörnchen in der Luft, Bachs pathetische Todes-Kantaten, die Bilder an der Wand. Und vor allem aus der Dynamik zwischen den beiden Hauptdarstellern Samuel Koch und Nils Hohenhövel.
Samuel Koch, dessen live gefilmter, folgenschwerer Unfall in „Wetten, dass…“ ihn 2010 bekannt machte, ist seitdem ein querschnittsgelähmter Schauspieler, der seinen Körper als Ausdrucksmittel nicht nutzen kann, sich aber desto intensiver seiner Augen, seiner akzentuierten Sprechkunst, seiner Mimik bedient. Er bringt es fertig, dass man die Unbeweglichkeit seines Körpers für eine darstellerische Leistung hält und man ihn sich in seiner nächsten Rolle auch ohne Lähmung vorstellen kann. Koch, der trotz anfänglicher Bedenken sein Schauspielstudium nach dem Unfall fortsetzte, spielt heute am Theater im Faust, Prinzen von Homburg und anderen Klassikern sowie in TV-Serien. In dieser ersten großen Kinorolle spielt er, wie man bei dem Stoff vermuten könnte, nicht etwa „sich selbst“. Vielmehr unterscheiden sich die gespielten Lebensumstände der Figur wesentlich von seinen eigenen. So leidet Sven bereits seit Geburt an Muskelschwund und erlebt dessen Fortgang, der bald tödlich enden wird. Auch ist er im Waisenhaus groß geworden, was eine gewisse Härte der Figur erklärt. Eine richtige Rolle also, die nicht einfach nur Kochs persönliche Lage spiegelt. Dennoch dokumentiert der Film natürlich auch die persönliche Situation des Schauspielers, denn die Handgriffe der Pflegekräfte sind ja quasi echt: ein Balanceakt zwischen Drama und Doku, ein Kunststück.
Der unbekannte Schauspielstudent Nils Hohenhövel, der den FSJler spielt, ist wiederum ein vitaler ebenbürtiger Gegenpart zu Koch. Wie aus dem groß dreinblickenden Jugendlichen ein verantwortlicher Freund und Liebender wird, diesen Prozess spielt Hohenhövel eindrücklich, mit großer innerer Konzentration, schüchtern und beharrlich zugleich.
Keineswegs ist der Film ein altruistisches Helferdrama, das am Ende das Leben feiert.
Er erzählt die sinnliche Einsamkeit des Kranken unter professionellen Pflegehänden ganz deutlich wie auch Svens aussichtslose Verliebtheit in Louisa; die Bitterkeit, die in ihm ist und seine ganz normale Körper-Lust, die er nicht ausleben kann.
Der Film ist nicht nur ein „Freundschaftsfilm“, wie der Trailer annonciert. Er ist auch ein Liebesfilm. Das wechselseitige Werben der beiden umeinander, ihre Art zu streiten und der wilde Tanz des Jüngeren zu Rammstein, mit dem er Sven einmal vom salbungsvollen Zuspruch des Heim-Seelsorgers erlöst, die intimen Momente beim Duschen und die beiden nackten Oberkörper enthalten auch einen unfassbar zarten homoerotischen Subtext – und alles zusammen eine Nähe, die selten im Kino zwei Figuren miteinander erreichen.
Anders als in dem französischen Publikumsrenner „Ziemlich beste Freunde“, wo die gute Laune zwischen dem Kranken und seinem Pfleger manchmal schon etwas lästig wurde, spielt hier die Verzweiflung mit, ja bestimmt sogar das Finale. In einer Kultur, wo Optimismus als große Tugend gepflegt wird, darf hier Unerfülltheit subversiv einfach so stehen bleiben.
Am Ende geht der Film ins Surreale – oder auch nicht. Das bleibt offen. Eine Liebesszene der besonderen Art. Ein großartiger Schluss.
Foto: Offizielles Filmplakat Edition Salzgeber