Die demokratische Administration unter dem greisen Establishment- Präsidenten Joe Biden wird die gigantischen Probleme nicht lösen können, denen sich die USA ausgesetzt sehen.
Von Tomasz Konicz
Aus telegraph #137/138 2020/2021 (telegraph bestellen?)
Was ist von Joe Biden, dem 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten, zu erwarten? Nicht viel, denn es scheint angesichts seines fortgeschrittenen geistigen Verfalls sicher, dass der greise Establishment-Mann seine Amtszeit vorzeitig beenden wird, um die Präsidentschaft irgendeinem Washingtoner Insider – wie der als knallharte Generalstaatsanwältin berüchtigten Vizepräsidentin Kamala Harris – zu übergeben. Unabhängig von konkreten Personalien ist von der demokratischen Administration auch kein substanzieller Politikwechsel zu erwarten, der es fertigbringen würde, der tiefgreifenden sozialen wie ökologischen Krise, in der sich die USA wie das gesamte spätkapitalistische Weltsystem befinden, wirksam zu begegnen,. Biden trat gegen Trump mit dem Wahlkampfslogan an, eine „Rückkehr zu Normalität“ zu gewährleisten, als ob der Rechtspopulist im Weißen Haus nur einen „Betriebsunfall“ darstellen würde – und nicht ein spezifisch amerikanisches Symptom der Weltkrise des Kapitals wäre. Die zutiefst konservative Idee, mitten in einer sich entfaltenden sozio-ökologischen Krise die Uhr der Geschichte zurückdrehen zu wollen, um eine neoliberale „Normalität“ wiederherstellen zu wollen, die selber Krisenfolge und Krisenverstärker ist, kann sich nur bitter an eben dieser Realität blamieren.
Kaum ein Politiker symbolisiert das neoliberale Zeitalter in den Vereinigten Staaten besser als eben Joe Biden, das altgediente Schlachtross der Demokraten, das an nahezu allen größeren Schweinereien der vergangenen drei Dekaden mitbeteiligt war. In den 80ern, in der Reagan-Ära, stimmte der rechte Demokrat unter anderem für eine massive Absenkung des Spitzensteuersatzes (von 70 auf 50 Prozent), und er befürwortete die damals durchgesetzten Kürzungen von Sozialleistungen. In den 90ern wurde Biden sexueller Übergriffe beschuldigt und verweigerte sich der Gleichstellung sexueller Minderheiten. Der Demokrat war überdies an Gesetzesverschärfungen beteiligt, die zum rapiden Wachstum der Gefängnispopulation in den USA beitrugen, sowie an der Aufhebung von Finanzmarktregelungen, in deren Folge Spekulationstätigkeit und Blasenbildung rasch zunahmen – mit den bekannten Ergebnissen. Im 21. Jahrhundert unterstützte Biden den Abbau von Bürgerrechten im Zuge des Patriot Act, er stimmte für den Irak-Krieg und für die zunehmende Abschottung der US-Südgrenze gegenüber Migranten sowie gegen einen Ausbau der Arbeitsschutzgesetzgebung.
Im Wahlkampf 2020 machte der Kandidat in seinen lichten Momenten klar, dass er weiterhin als ein Mann des neoliberalen Parteiestablishments agieren werde. Das Team von Technokraten und Lobbyisten hinter dem, was vom zunehmend wirr agierenden Joe Biden noch übrig ist, hat klargemacht, dass die Biden-Präsidentschaft kein radikales Umsteuern in der Klimapolitik mit sich bringen werde. Angesichts der rasch voranschreitenden Klimakrise ist eine Biden-Präsidentschaft ein klimapolitisches Desaster. Das Biden-Team sprach sich gegen einen Green New Deal aus, gegen die Einführung einer öffentlichen Krankenversicherung, gegen die Legalisierung von Cannabis – während der Kandidat der extremen Mitte der US-Oligarchie versprach, dass sich unter seiner Präsidentschaft nichts fundamental ändern werde.
Den neoliberalen Fraktionen der US-Funktionseliten, die die Biden-Kampagne unterstützten, ist es durchaus klar, dass „ihre“ Politik auf die zunehmenden ökologischen und sozialen Verwerfungen irgendwie reagieren muss, doch stehen die angepeilten Reformen in keinem adäquaten Verhältnis zu den Dimensionen der anstehenden Probleme. Alle Reformvorhaben, die von den Technokraten und Lobbyisten hinter Biden – der in seinem geistigen Verfall eine wandelnde Allegorie des Spätkapitalismus amerikanischer Prägung darstellt – zur Bekämpfung der sozioökologischen Krise eventuell initiiert werden, müssen sich der Maxime der Finanziers der Biden-Kampagne beugen: An den bestehenden Verhältnissen darf nicht gerüttelt werden. Damit kann aber der sich entfaltenden Systemkrise nicht erfolgreich begegnet werden. Folglich dürften die vier kommenden Jahre demokratischer Herrschaft im Weißen Haus im besten Fall einer kosmetischen Symptombehandlung gleichkommen – falls die Republikaner, die höchstwahrscheinlich den Senat kontrollieren, dies überhaupt zulassen.
Joe Biden war faktisch der Kompromisskandidat der neoliberalen Funktionseliten der Demokratischen Partei, auf den im Vorwahlkampf alle Kräfte jenseits der Parteilinken setzten, um den Sozialisten Bernie Sanders zu verhindern. Nach den ersten Vorwahlsiegen in den Südstaaten der USA, bei denen im März 2020 klar wurde, dass Joe Bidens Unterstützung in dieser Region tatsächlich mehrheitsfähig sei, setzte eine rasche Allianzbildung der Parteirechten um den ehemaligen Vizepräsidenten ein. Als eine zentrale Figur dieser Anti-Sanders-Mobilisierung galt der ehemalige US-Präsident Barack Obama, der hinter den Kulissen die entsprechenden Anrufe tätigte.
Binnen weniger Tage haben die dem rechten Parteiflügel zugehörenden Präsidentschaftsanwärter Pete Buttigieg und Amy Klobuchar ihre Kampagnen beendet und ihre Anhängerschaft aufgerufen, Joe Biden zu wählen. Hinzu kamen Unterstützungsaufrufe mächtiger Parteigrößen wie der Senatoren Harry Reid oder Tammy Duckworth. Binnen „72 Stunden nach dem ersten Nominierungswahlsieg Bidens“ hätten alle „pragmatischen“ Kandidaten des Establishments das Feld geräumt, kommentierte CNN, was Ausdruck der Bemühungen eines „zutiefst besorgten Parteiestablishments“ gewesen sei, „alle Teile zusammenzufügen“, um eine Nominierung des Sozialisten aus Vermont zu verhindern.
Sanders unterlag somit knapp der vereinten Rechten der Demokratischen Partei – während die Linke getrennt ins Rennen ging. Diese rechte Front, die sich sehr schnell um Joe Biden gebildet hat, sah sich nämlich mit einem gespaltenen progressiven Lager konfrontiert. Die linksliberale, gemäßigt sozialdemokratische Kandidatin Elizabeth Warren konzentrierte ihre Angriffe im Vorwahlkampf hauptsächlich auf Bernie Sanders, was den Konsolidierungsprozess der Parteirechten beförderte.
Biden war aufgrund seiner Vorwahlerfolge in den Südstaaten der Kompromisskandidat, aber nicht der Wunschkandidat des Establishments – das lag vor allem an Joe Biden selber, der mit seiner Rolle sichtlich überfordert ist. Der ehemalige Vizepräsident hat immer wieder Mühe, öffentliche Auftritte ohne Peinlichkeiten zu absolvieren, er wirkt oftmals desorientiert und verwirrt. Die Parole des Parteiestablishments, dass wirklich jeder Kandidat besser als Sanders sei, fand in dem dement wirkenden 46. Präsidenten ihre adäquate Verkörperung.
Der Schock darüber, dass es die Linke beinahe geschafft hat, die Präsidentschaftsvorwahl für sich zu entscheiden, sitzt dem Establishment der Demokraten immer noch tief in den Knochen. Sanders konnte nur durch einen Kraftakt der Rechten verhindert werden – und so etwas darf nie wieder vorkommen. Schon kurz nach dem Wahlsieg Bidens ging die Rechte folglich in die Offensive. Vertreter des linken Parteiflügels wie Alexandria Ocasio-Cortez klagten über eine massive Kampagne gegen progressive Positionen in der demokratischen Partei, da die Parteilinke für das schlechte Abschneiden der Demokratischen Partei bei den Wahlen gegen den zweifellos schlechtesten US-Präsidenten aller Zeiten verantwortlich gemacht wurde. Obwohl die Biden-Kampagne insbesondere in der Spätphase des Wahlkampfes sich – weitgehend erfolglos – konservativen Wählern anzunähern versuchte, sollten mit den Schuldzuweisungen kurz nach der Wahl linke Positionen in der Partei generell diskreditiert werden.
Nicht nur die innerparteilichen Angriffe gegen den progressiven Flügel, auch die Besetzung des Übergangsteams des Kandidaten der extremen Mitte machte deutlich, dass an die überlebensnotwendige radikale Abkehr vom spätkapitalistischen Business-as-usual mit der Biden-Administration trotz eskalierender Krisendynamik nicht mal zu denken ist. Ein Drittel der Funktionsträger im Übergangsteam Bidens verfügt über Kontakte zur Waffenindustrie und dem Militärisch-Industriellen-Komplex, überproportional stark sind auch Vertreter der IT-Branche und des neuen, auf prekären Beschäftigungsverhältnissen basierenden Internet- und Plattformkapitalismus wie Uber und Airbnb.
Der Abgrund zwischen dem Neoliberalen Biden und dem Sozialisten Sanders wird gerade bei der Steuerpolitik evident: Der Höchststeuersatz für Privathaushalte soll nach den Plänen des Establishment-Kandidaten gerade mal von 37 auf 39,6 Prozent ansteigen, während der Sozialist Sanders die US-Oligarchie nach Dekaden neoliberaler Steuersenkungen mit einem Spitzensteuersatz von 97,5 Prozent endlich zur Kasse bitten wollte. Hier würde einfach nur der neoliberale Stand der Dinge vor der Machtübernahme durch Trump wiederhergestellt. Bei den Unternehmenssteuern soll der Steuersatz nach den Plänen des demokratischen Präsidentschaftsbewerbers von 21 Prozent auf 28 Prozent angehoben werden. Das würde aber bedeuten, dass hier nicht mal die durch Trump erlassenen Steuersenkungen revidiert würden, der diese Steuer 2018 von 35 Prozent auf 21 Prozent absenkte.
Neben einem bescheidenen ökologischen Investitionsprogramm will Biden auch ein Konjunkturpaket auflegen, das sich spezifisch an die Wählerschaft des rechtspopulistischen Amtsinhabers Donald Trump richtet. Rund 400 Milliarden US-Dollar sollen in den vier Jahren einer potenziellen demokratischen Präsidentschaft dazu aufgewendet werden, um amerikanische Produkte zu kaufen und somit die heimische Industrie zu stärken. Zusätzlich soll der Staat rund 300 Milliarden in Forschungsprojekte investieren, um so die US-Wirtschaft mit Steuergeldern zu modernisieren. Die Biden-Kampagne geht davon aus, dass diese Maßnahmen rund fünf Millionen neue Arbeitsplätze schaffen würden – wobei hier faktisch an den Wirtschaftsnationalismus der Trump-Ära angeknüpft werden soll.
Diesen bescheidenen Steuerplänen, deren Realisierung angesichts der Mehrheiten im Senat ohnehin fraglich bleibt, steht aufgrund der systemischen Überakkumulationskrise des Kapitals eine obszön anmutende soziale Spaltung der US-Gesellschaft gegenüber, die während der Pandemie noch zusätzlich verstärkt wurde. Während Millionen von Lohnabhängigen in den Vereinigten Staaten während des jüngsten Krisenschubs in Armut und Elend versanken, konnte die US-Oligarchie ihr Vermögen um nahezu eine Billion US-Dollar vermehren. Zwischen März und Oktober 2020 stieg das – größtenteils fiktive – Kapital der 644 Milliardäre, die in den USA gemeldet sind, um 931 Milliarden auf 3,8 Billionen US-Dollar. Dieser kometenhafte Anstieg führte dazu, dass die reichsten zwölf Milliardäre der Vereinigten Staaten inzwischen Vermögenswerte im Nennwert von einer Billion akkumuliert haben. Und es ist eben diese Oligarchie, die die immer teurer werdenden Wahlkämpfe durch immer größere Finanzaufwendungen für „ihre“ Kandidaten dominieren kann.
Zugleich explodierte 2020 die Armut in den Vereinigten Staaten während einer Pandemie, der mehr als 200.000 Menschen zum Opfer fielen. Jeder achte US-Bürger lebt unterhalb der ohnehin viel zu niedrig angesetzten offiziellen Armutsgrenze. Mehr als 40 Prozent der Lohnabhängigen verfügen inzwischen über keinerlei finanzielle Rücklagen – sie leben von der Hand in den Mund. Bill Gates, Jeff Bezos und Warren Buffet besitzen inzwischen mehr Vermögen als die weitgehend pauperisierte untere Hälfte der US-Bevölkerung.
Die Wucht des Wirtschaftseinbruchs im Frühjahr 2020 war so groß, dass es schwer wurde, überhaupt noch historische Analogien hierfür zu finden. In den Vereinigten Staaten, wo die Prekarisierung des Arbeitslebens besonders weit vorangeschritten ist, explodierte die Arbeitslosigkeit regelrecht binnen kürzester Zeit von weniger als fünf auf mehr als 14 Prozent, um dann in Folge der fieberhaft aufgelegten Konjunkturpakete auf rund sieben Zähler zu sinken – bevor die zweite Welle im Herbst einsetzte. Allein in der zweiten Märzhälfte 2020 mussten sich in den USA rund zehn Millionen Lohnabhängige arbeitslos melden – ein historischer Rekordwert. Zum Vergleich: Der stärkste wöchentliche Anstieg der Erwerbslosenzahl seit Einführung der Statistik war bis dahin im Jahr 1982, am Ende der historischen Krisenperiode der Stagflation registriert worden, als während einer schweren Rezession, die durch radikale Zinserhöhungen der Fed („Volcker-Schock“) ausgelöst wurde, rund 695.000 Lohnabhängige staatliche Unterstützung beantragen mussten.
Dabei waren es gerade die prekär Beschäftigten des breiten amerikanischen Niedriglohnsektors, die am schnellsten und härtesten getroffen wurden. Die Löhne sind dabei oftmals so mager, dass mehrere Jobs übernommen werden müssen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Rund 44 Prozent der Lohnarbeiter*innen müssen mit Löhnen zurechtkommen, die keinerlei Rücklagen für Krisenzeiten erlauben. Von diesen 53 Millionen arbeitenden Armen, die sich allmonatlich bis zum nächsten Gehaltscheck durchschlagen müssen, lebt rund ein Drittel in extremer Armut, knappe 50 Prozent sind in ihren Familien Alleinverdiener. Frauen und Afroamerikaner sind in dieser Gruppe überrepräsentiert.
Die Deindustrialisierung der USA in den vergangenen Jahrzehnten, bei der sich die ehemaligen Industriezentren im Norden in den berüchtigten „Rust Belt“ verwandelten, ging mit der sukzessiven Ausbreitung dieses Niedriglohnsektors einher, der vor Krisenausbruch kurz davor stand, die Mehrheit der US-Bürger auszubeuten. Die Erosion der amerikanischen Arbeitsgesellschaft wird auch an dem Aufkommen der Sharing- oder Gig-Economy deutlich, bei der internetbasierte Plattformen wie der berüchtigte Fahrdienst Uber (der seine Leute in der Biden-Administration unterbringen konnte) als Vermittler von Dienstleistungen dienen. Inzwischen sollen sich rund 30 Prozent der Lohnabhängigen in den Vereinigten Staaten in diesem Sektor mit Teilzeitjobs als scheinselbstständige prekäre Tagelöhner durchschlagen. Und es sind gerade diese von ihren jeweiligen Plattformen abhängigen Tagelöhner des Internetzeitalters, die von der Pandemie besonders gefährdet sind. Arbeiten und eine Infizierung riskieren oder Verhungern – das sind die Alternativen, mit denen sich etwa die „vogelfreien“ Fahrer des Beförderungsdienstes Uber konfrontiert sehen.
Die Krise des Jahres 2020 traf somit auf eine kriselnde US-Arbeitsgesellschaft, die ganz anders strukturiert ist als beim Krisenschub von 2008, als die Immobilienblasen in den USA und Teilen Europas platzten. Das große Drama entfaltete sich damals in den Vororten der US-Metropolen, wo Massen absteigender Mittelklasse-Familien ihre mit Hypotheken belasteten, überschuldeten Eigenheime verloren. Diesmal sind es eher Geschichten von schlecht bezahlten Beschäftigen, etwa im Gesundheitswesen, die sich durch plötzliche Kündigungen ihrer Mietwohnungen durch panische Vermieter auf der Straße wiederfinden, welche für Empörung sorgen. Die massiven sozialen Umbrüche nach dem Platzen der Immobilienblase haben zu einem raschen Abschmelzen der einstmals breiten amerikanischen Mittelschicht geführt, die angesichts jahrzehntelang stagnierender Löhne und steigender Lebenshaltungskosten bis zum Krisenschub von 2008 ihren Lebensstil ohnehin nur durch zunehmende Verschuldung – etwa durch Hypothekenaufnahme auf das im Preis steigende Eigenheim – halten konnte.
Studien, bei denen die soziale Selbsteinschätzung von US-Bürgern untersucht wurde, konstatierten ein Abschmelzen der Mittelschicht von rund 53 Prozent am Beginn der Immobilienkrise 2008 auf nur noch 44 Prozent im Jahr 2014. Zugleich stieg der Anteil der US-Bürger, die sich als arm wahrnahmen, von 25 Prozent im Krisenjahr 2008 auf 40 Prozent 2014 – was ziemlich genau dem Anteil der arbeitenden Armen an der erodierenden US-Arbeitsgesellschaft entspricht. Hinzu kommt, dass ein breiter Anstieg der Löhne in den Vereinigten Staaten, von dem endlich auch die arbeitenden Armen profitierten, erst ab 2018/19 einsetzte, während der „Aufschwung“ zuvor an den Lohnabhängigen größtenteils vorbeiging. Ein Jahr lang vor dem gegenwärtigen Wirtschaftseinbruch stiegen die Löhne am unteren Ende der Einkommenspyramide.
Erst die langfristige Perspektive macht aber deutlich, wie schwach der letzte, hauptsächlich von der Liquiditätsblase der Notenbanken getragene Aufschwung in den Vereinigten Staaten war. Die durch die neoliberale „Finanzialisierung“ des Kapitalismus generierte Blasenökonomie, bei der Kreditwachstum und Spekulationsblasen auf den wuchernden Weltfinanzmärkten als Wirtschaftstreiber fungieren, verliert zunehmend an konjunktureller Dynamik: Zwischen dem Platzen der Immobilienblase 2008 und dem letzten Boomjahr 2019 stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Vereinigten Staaten durchschnittlich um 1,7 Prozent pro Jahr. In der Aufstiegsphase der großen transatlantischen Immobilienblase, zwischen 2001 und 2007, konnte die US-Wirtschaft hingegen jährlich im Schnitt noch um 2,5 Prozent wachsen. In der Hochphase des neoliberalen Finanzmarktbooms, im Zeitraum von 1991 bis 2000, als die Hoffnung auf ein neues Akkumulationsregime die Aktien von High-Tech-Unternehmen während der Dot-Com-Blase in absurde Höhen trieb, konnte die amerikanische Volkswirtschaft gar durchschnittlich um 3,4 Prozent wachsen. Doch selbst diese Boomphase während der Clinton-Administration verblasst vor dem langen fordistischen Boom der Nachkriegszeit zwischen 1948 und 1973, da in dieser Periode die US-Wirtschaft im Schnitt um 4 Prozent jährlich wuchs.
Der Krisenschub des Jahres 2020 traf also eine von konjunkturellen Stagnationstendenzen erfasste verarmte US-Gesellschaft, die sich von den Verwerfungen der Immobilienkrise samt Rezession 2008/09 nicht mehr erholt hat. Die US-Mittelklasse schmilzt rapide ab, der Arbeitsmarkt weist die charakteristische Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse und Elendslöhne auf, die die Erosion der kapitalistischen Arbeitsgesellschaften seit den massiven Rationalisierungsschüben im Gefolge der IT-Revolution in den meisten Kernländern des Weltsystems begleitet. In der Konsequenz können sich die sozialen Realitäten für Lohnabhängige in den Zentren des Weltsystems denjenigen der Peripherie oder Semiperipherie angleichen, wo es schon längst eine breite Schicht ökonomisch „überflüssiger“ Menschen gibt – die ja das zentrale Subjekt der „Flüchtlingskrise“ bildet.
Rund 30 Millionen Lohnabhängige mussten sich in den Vereinigten Staaten zwischen Mitte März und Anfang Mai – dem Höhenpunkt der Entlassungswelle – arbeitslos melden. Dabei erfasst diese Arbeitslosenstatistik, die 2020 in einer Arbeitslosenrate von 14 Prozent gipfelte, den Teil der Erwerbslosen nicht mehr, die nicht fähig oder nicht berechtigt sind, die ohnehin nur kurz ausgezahlte Arbeitslosenunterstützung zu beantragen. Das Ausmaß des Elends ist somit weitaus größer, als es die selektiven Erwerbslosenzahlen Washingtons vermuten lassen.
Der Krisenschub 2020 hatte folglich einen dramatischen Anstieg der Unterernährung zur Folge. Auch hier sind Kinder besonders stark gefährdet. Nahezu 18 Prozent der minderjährigen US-Bürger leiden unter Mangelernährung in der im Abstieg befindlichen Weltmacht, die im Rekordtempo zur Oligarchie nach ukrainischem oder russischem Muster verkommt. Der Ansturm auf Lebensmittelbanken und Suppenküchen, den die Vereinigten Staaten erlebten, ließ Erinnerungen an die Zeit der großen Depression in den 1930ern aufkommen. Der einzige augenfällige Unterschied zur Systemkrise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besteht in vielen US-Regionen ohne öffentliche Transportmittel einfach darin, dass die Menschen stundenlang in ihren Fahrzeugen warten müssen, bis sie etwas zu essen bekommen. Mitunter wird in etlichen Regionen die Nationalgarde eingesetzt, um den Massenansturm bei der Lebensmittelverteilung irgendwie zu bewältigen. Die kilometerlangen Schlangen, die sich in vielen migrantischen Innenstadtbezirken bilden, um Lebensmittel oder Einkaufsgutscheine zu ergattern, lassen Erinnerungen aufkommen an die Bilder aus den letzten Jahren des real existierenden Sozialismus, als kurz vor dessen Implosion die Versorgungsengpässe immer drastischer zutage traten.
Neben dem nationalen Desaster einer total gescheiterten Pandemiebekämpfung wird die Ära Trump noch ein weiteres toxisches Erbe hinterlassen, mit dem die folgenden Administrationen sich noch lange auseinandersetzen werden müssen: den aufschäumenden Rassismus und Faschismus, der sich aufgrund der häufigen Rückendeckung des Präsidenten – der oftmals öffentlich für Rechtsextremisten in die Bresche sprang – eine breite gesellschaftliche Akzeptanz erkämpfen konnte. In Wechselwirkung mit dem Mythos eines umfassenden Wahlbetrugs, den Trump in Reaktion auf seine Wahlniederlage popularisierte, dürften gerade die militanten, bewaffneten Teile der faschistischen Bewegung gefährlich bleiben.
Die rechte Milizbewegung in den Vereinigten Staaten, die sich auf diese mit dem berühmten zweiten Verfassungszusatz begründete Tradition beruft, galt als eine der wichtigsten Unterstützergruppen von Donald Trump. Ihren großen Aufschwung erlebte diese Bewegung in den 1990er Jahren unter dem demokratischen Präsidenten Bill Clinton sowie während der Präsidentschaft von Barack Obama. Es gibt in den Vereinigten Staaten Hunderte solcher bewaffneter Gruppen, die zehntausende Milizionäre mobilisieren können. Diese bewaffneten Formationen variieren zwar stark in ihrer ideologischen Ausrichtung – diese kann vom blankem Rassismus, über Isolationismus bis zum extremen Regierungshass reichen -, doch teilen sie zumeist die Ablehnung jedweder rechtlichen Einschränkung von Waffenbesitz sowie eine unterschiedlich begründete Opposition zur politischen Linken.
Mitte 2020 waren einige dieser Milizen als Fußtruppen rechter Kampagnen gegen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung in den USA aktiv – etwa als mit Maschinengewehren bewaffnete Milizionäre in das Kapitol in Michigan eindrangen, um dafür von Trump als „sehr gute Menschen“ gelobt zu werden. Etliche Milizionäre haben sich auch als selbsternannte Grenzschützer versucht, indem sie in Eigenregie Migranten an der amerikanisch-mexikanischen Grenze abzufangen versuchten. Auch während des im Mai 2020 ausgebrochenen Aufstandes gegen Polizeigewalt und Rassismus in den Vereinigten Staaten, der zur Formierung der Black-Lives-Matter-Bewegung führte, waren viele Milizionäre aktiv – als Gegendemonstranten oder Schutztruppe. Allein in den ersten zwei Wochen der Protestwelle wurden landesweit 136 Vorfälle rechtsextremer Milizaktivität bei antirassistischen Demonstrationen und Protesten gemeldet, wobei es den Milizionären zumeist um Einschüchterung der Protestteilnehmer oder um den Schutz von Geschäften und Unternehmen ging.
Die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung führten somit auch zu einem rasch einsetzenden Aufschwung rechtsextremer Milizaktivität. Dies hätte einen „erschreckenden Effekt auf die demokratische Praxis“, hieß es in Medienberichten. Potenzielle Demonstranten würden hierdurch eingeschüchtert und blieben den Protesten fern. In vielen kleineren Städten in den westlichen USA seien diese bewaffneten Formationen präsent, um, so wörtlich, „Dienstleistungen anzubieten, die wir für gewöhnlich von der Regierung erwarten“. Mitunter bildeten sich bereits direkte Verfilzungen zwischen einem krisenbedingt verwildernden Polizeiapparat und den Milizen aus. Dies wurde etwa im Bundesstaat New Mexiko Mitte 2020 evident, wo Polizeikräfte der Mitgliedschaft in rechtsextremen Formationen beschuldigt wurden. Es gebe in New Mexiko klare „Überschneidungen“ zwischen Personen, die in „Milizen und im Polizeidienst“ tätig seien, erklärte der Sozialwissenschaftler David Correia, der sich mit diesem Milieu eingehend befasste.
In New Mexiko sei es schwer, zwischen den „rechten faschistischen Milizen und der Polizei“ zu unterscheiden, da die Linien zunehmend verschwimmen würden. Laut Correia würden Rechtsextremisten mit stillschweigender Duldung oder gar Unterstützung der Polizei die Protestbewegung in New Mexiko überwachen und einschüchtern. Wie schnell diese Militarisierung der US-Gesellschaft in etlichen Regionen vonstattenging, ließ sich am Beispiel des US-Bundesstaates Utah erahnen, wo eine weiße Miliz allein im Juli 2020 rund 15.000 Mitglieder rekrutieren konnte. Unter dem Vorwand der Verhinderung von Gewalt marschierte diese von ehemaligen Veteranen geführte Bürgerarmee bei Protesten der Black-Lives-Matter-Bewegung bewaffnet auf, so dass Veranstaltungen infolge dessen mehrmals aus Angst vor den weißen Milizionären abgesagt wurden. In der Hauptstadt Utahs, der Mormonenstadt Salt Lake City, sind 88 Prozent der Bevölkerung weiß, der Anteil Schwarzer liegt bei weniger als einem Prozent.
Bei einer Demonstration gegen Polizeibrutalität und Rassismus in Salt Lake City wurden die Demonstranten von einem Spalier bewaffneter Weißer begleitet, während die Polizei auf den Dächern Scharfschützen postierte. In der Bewegung, die regelmäßig militärische Übungen abhält und gute Kontakte zur lokalen Polizei unterhält, kursieren absurde Gerüchte über Verschwörungen etwa des „Islamischen Staates“, der die gegenwärtigen Proteste finanzieren soll. Die Milizionäre würden sich mit ihrem Bürgerkriegstraining auf einen bald ausbrechenden „Bürgerkrieg“ vorbereiten, der von finsteren, im Untergrund wühlenden Kräften forciert werde, hieß es in Hintergrundberichten. Und genau solch ein Narrativ lieferte Trump diesen rechtsextremen Kräften mit seinen Behauptungen, er habe die Wahl nur aufgrund des Wahlbetrugs der Demokraten verloren.
Wie sehr die mit dieser krisenbedingt zunehmenden Milizbildung einhergehende Verwilderung des amerikanischen Staatsapparates vorangeschritten ist, wird gerade an der Polizeitruppe evident, die von Donald Trump im Sommer 2020 mit der Niederschlagung der monatelangen Proteste in der linken Bastion Portland, Oregon, betraut wurde. Die in Portland eingesetzte Grenzpolizei CBP (US Customs and Border Protection) galt als eine der wichtigsten Stützen der Trump-Administration innerhalb des Staatsapparates. Es seien „seine Leute“, die in der militarisierten und auf 20.000 Mann angewachsenen Grenzpolizei tätig seien, erklärte ein Insider gegenüber der Zeitung The Guardian. Die Abwehr von Flüchtlingen an der südlichen US-Grenze, die inzwischen die Hauptaufgabe der CBP bildet, wird mit mörderischer Konsequenz umgesetzt. Seit 2010 sollen mindestens 111 Flüchtlinge die Begegnung mit den hochgerüsteten Grenzschützern nicht überlebt haben. Es herrsche blanker Rassismus bei der Truppe, bei der eine „Kultur der Gewalt“ gegenüber Migranten gepflegt werde, erklärten ehemalige Beamte gegenüber dem Guardian (‚These are his people‘: inside the elite border patrol unit Trump sent to Portland).
Das Ausmaß des Rassismus bei der Grenztruppe wurde Anfang 2019 öffentlich: Rund 9.000 Mitglieder der Grenzpolizei frequentierten eine Facebook-Gruppe, in der rassistische und menschenverachtende Inhalte verbreitet wurden – dies war nahezu die Hälfte aller Mitglieder der CBP. Dieser Skandal blieb ohne ernsthafte Konsequenzen. Innerhalb der CBP existiert eine „Eliteformation“, die Border Patrol Tactical Unit (Bortac). Diese mit den Navy Seals vergleichbare Gruppierung, die auch außerhalb der USA zum Einsatz kommt, absolviert eine militärische Schulung – und sie gilt als die „gewalttätigste und rassistischste“ Einheit innerhalb des Polizeiapparates der Vereinigten Staaten, so der Guardian unter Berufung auf Insiderinformationen.
Und eben diese Gruppierung, die sich selber nicht mehr als Teil der Polizeikräfte betrachtet und bei ihren Einsätzen in militärischen Kategorien denkt und handelt, setzte Trump in Portland gegen die Protestbewegung ein: Die Bortac-Männer würden bei ihren Einsätzen Menschen, mit denen sie sich konfrontiert sehen, im „militärischen Sinne als Kombattanten betrachten, was bedeutet, dass sie praktisch keine Rechte haben“, erklärte eine ehemalige Grenzpolizistin gegenüber der britischen Zeitung. Die Methoden der „Entführung“ von Demonstranten durch die Grenzpolizisten in Portland, die landesweit für Empörung sorgten, entsprechen somit der üblichen Vorgehensweise an der Grenze gegenüber Migranten.
Diese Tendenzen zur Verwilderung und Faschisierung des Staatsapparates sind angesichts der sich voll entfaltenden Krise des kapitalistischen Weltsystems selbstverständlich nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Ähnliches zeichnet sich ja auch im Staatsapparat der Bundesrepublik ab, wo sich entsprechende faschistische Seilschaften ausbilden und rechtsterroristische Bestrebungen rasant zunehmen – während die politischen Funktionseliten aus taktischem Kalkül, Opportunismus oder Sympathie wegschauen. Dabei handelt es sich bei diesem in den Zentren einsetzenden Verwilderungsprozess der Staatsapparate nur um die Vorform eines Krisenphänomens, das sich in der Peripherie oder Semi-Peripherie schon voll entfaltet – und das für gewöhnlich auf den Begriff des „failed state“ gebracht wird. Staatszerfall wird maßgeblich nicht von außen, durch irgendwelche Verschwörungen, sondern gerade von innen befördert, durch diejenigen Teile des Staatsapparats, die in Reaktion auf Krisentendenzen glauben, die Sache in die eigene Hand nehmen zu können oder zu müssen – entweder in der Hoffnung, durch Putsch und Diktatur dessen Fortbestehen zu sichern oder aus schlichtem Geldinteresse heraus.
Die extreme Rechte verfügt in den Vereinigten Staaten nicht nur über eine rasch wachsende, militante und bewaffnete Bewegung, sondern auch über breite Sympathien eben in den Machtministerien der USA – was die Aussichten der neu gewählten, demokratischen Administration angesichts ihres Beharrens auf das neoliberale Business-as-usual zusätzlich verdüstert. Die abgetakelten Neoliberalen, die nun in Washington zu ihrem letzten großen Tanz ansetzen, werden die massiven sozialen und ökonomischen Probleme nicht lösen können, an denen der Spätkapitalismus gerade in den USA als der avanciertesten kapitalistischen Gesellschaft zerbricht. Die Rechte dürfte alles daran setzen, um in der sich zuspitzenden Krise abermals die faschistische Option zu propagieren – sie dürfte in vier Jahren wieder nach der Macht greifen, um vom endgültigen Scheitern des Neoliberalismus zu profitieren und als dessen ideologisches und politisches Zerfallsprodukt diesen zu beerben.
Der antirassistische Aufstand des Sommer 2020, aus dem die Black-Lives-Matter-Bewegung hervorging, zeigt aber auch, dass dieser reaktionäre Gang der Dinge nicht alternativlos ist. Die Rechte gewinnt an Einfluss in den USA, aber ähnlich verhält es sich auch mit progressiven Kräften. Sobald es die Linke in den Vereinigten Staaten schafft, innerhalb oder außerhalb der Demokratischen Partei fortschrittliche Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise aufzubauen, wird sie sich durchsetzen – einfach deswegen, weil die binnenkapitalistische Alternative, die von der Rechten forciert wird, im Abstieg in die sich klar abzeichnende Barbarei besteht.
Wie sehr sich der Wind inzwischen in den Vereinigten Staaten gedreht hat, machen Umfragen zur Haltung der Bevölkerung gegenüber dem Begriff des Sozialismus deutlich, der jahrzehntelang als ein politisches Schimpfwort fungierte. Insbesondere innerhalb der Jugend befinde sich der Sozialismus auf dem Vormarsch, warnte der konservative Sender Fox-News unter Verweis auf eine Umfrage vom Herbst 2018. Die Zustimmung zum Kapitalismus sei demnach bei der Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen von 68 Prozent 2010 auf nur noch 47 Prozent gefallen, während der Sozialismus inzwischen von einer knappen Mehrheit von 51 Prozent positiv beurteilt werde. Innerhalb der demokratischen Partei konnten sich gar 57 Prozent der Befragten für sozialistische Politikvorstellungen erwärmen.
Tomasz Konicz, geb. 1973 in Olsztyn/ Polen, studierte Geschichte, Soziologie, Philosophie in Hannover sowie Wirtschaftsgeschichte in Poznan. Er arbeitet als freier Journalist.