Ein kurzer Bericht von Sten aus Italien. Unser Autor besucht dort zusammen mit anderen gerade mehrere Besetzungen.
Die Via Tiburtina ist eine der alten Ausfallstraßen Roms. Wenn man vom Außenring abfährt und sich auf der vierspurigen Staatsstraße 5, eben der Via Tiburtina, gen Stadtzentrum bewegt, fährt man durch Gegenden die vorwiegend industriell, proletarisch und migrantisch geprägt sind. Schön sieht das nicht unbedingt aus und bewusste Stadtplanung scheint hier nie stattgefunden zu haben. Zwischen einer Kaserne (einer ruhmreichen Granatwerfereinheit, die ihre Soldaten morgens durch einen Trompeter wecken lässt, man denkt immer General Custer steht vor der Tür), einem riesigen Einkaufszentrum, alten Fabrikhallen, Investruinen und Sozialbauten befindet sich die Nummer 770. Das ehemalige Verwaltungsgebäude des städtischen Nahverkehrsunternehmens atac stand einige Zeit leer, bevor es im März 2013 besetzt wurde.
Heute wohnen hier 58 Familien, wobei „Familie“ zwei Leute sein können, aber auch 10. Die BewohnerInnen sind ganz überwiegend MigrantInnen: Roma, AraberInnen, AfrikanerInnen, Leute aus der ehemaligen Sowjetunion, LateinamerikanerInnen…Dabei scheinen alle zumindest so lange in Italien zu sein, dass sie die Sprache sprechen. Italienisch ist die gemeinsame Umgangssprache. Derartige Besetzungen wie die in der Via Tiburtina 770, d.h. die Besetzung von Verwaltungsgebäuden und deren Umwandlung in Wohnraum, sind in Rom eine vorwiegend migrantische Angelegenheit, ItalienerInnen besetzen eher richtige Wohnungen. Allerdings ziehen zunehmend im Zuge von Zwangsräumungen auch ItalienerInnen in derartige Notunterkünfte. In ganz Rom soll es zur Zeit etwa 80 solcher Besetzungen geben, in besetzten Häusern und Wohnungen wohnen schätzungsweise 10.000 Leute.
Dabei haben die Wohnungen in der Via Tiburtina 770 durchaus nicht den Charakter von prekären Notquartieren. Wer finanziell und handwerklich dazu in der Lage ist, hat mit Wanddurchbrüchen, Rigips und Leichtbetonsteinen die alten Bürogrundrisse verändert und sich nach Möglichkeit gut eingerichtet. Durch neuverlegte Wasserrohrleitungen wurde die Einrichtung von privaten Küchen ermöglicht. Nur die Bäder (die umgebauten ehemaligen Klos, die durch Duschen ergänzt wurden) müssen gemeinsam genutzt werden. A., ein junger Marokkaner, der Umwelttechnik studiert hat, hat die Bauarbeiten maßgeblich koordiniert. Er ist, bei aller Basisdemokratie, auch sowas wie der informelle Vorsitzende der Hausgemeinschaft, die sich ansonsten regelmäßig zum Plenum trifft, um das Zusammenleben zu koordinieren, sowie aktuelle Probleme zu besprechen. Dabei liegt das politische Agieren nach außen vor allem in den Händen von A. und einer italienischen Aktivistin, die im Haus lebt, weil sie über derartige Hausbesetzungen eine Doktorarbeit schreibt.
Nicht alles im Haus wird ehrenamtlich erledigt. 50 Familien zahlen monatlich je 20 Euro (die restlichen 8 sind so arm, dass sie auch das nicht können), von dem Geld werden drei Leute bezahlt, die rund um die Uhr Wache schieben und auf das Hoftor aufpassen und (unauffällig) kontrollieren, wer so reinkommt. Die gemeinsam genutzten Räume (Flure/Bäder) sind supersauber, mindestens zweimal täglich wird gewischt. Dabei gibt es unterschiedliche Systeme: auf dem einen Flur gibt es einen Putzplan, auf dem anderen zahlt jede Familie im Monat nochmal zehn Euro und davon wird eine Bewohnerin bezahlt, die täglich putzt.
Das ganze macht einen durchaus straff organisierten Eindruck. Es mutet ein bischen an wie eine Mischung aus selbstverwaltetem Wohnheim und DDR-Hauskollektiv, wo man sich gegenseitig hilft aber auch aufeinander aufpasst. Das Klima im Haus scheint bei allen natürlich existierenden Nachbarschaftskonflikten freundlich zu sein, Aggressivität und Gewalt, wie sie z.B. in Berlin aus der besetzen Schule in der Ohlauer Straße oder von der Cuvrybrache bekannt sind haben wir nicht erlebt. Stattdessen mutet es teilweise schon arg nach Multikultiutopie an, wenn die zahlreichen im Haus lebenden Kinder unterschiedlichster Migrationshintergründe gemeinsam auf dem Hof spielen und unter den Bäumen ein älteres ukrainisches Ehepaar mit einem älteren Herrn aus Eritrea schwatzt.
Strom und Wasser wird schwarz bezogen, was aber nicht nur an den finanziellen Verhältnissen der BewohnerInnen liegt, sondern auch an der Gesetzeslage. Nachdem aufgrund dessen, dass in Folge der Krise viele Leute ihre Wohnungen verloren haben (vor allem weil sie die für den Kauf von Eigentumswohnungen aufgenommenen Kredite nicht mehr bedienen konnten) und mangels mietbaren Wohnraums die Anzahl der Besetzungen, gerade auch in Rom, drastisch zugenommen hat, wurde 2013 ein Gesetz gegen Hausbesetzungen erlassen. Dieses bestimmt u.a. dass die BewohnerInnen der besetzten Häuser keine Verträge mit Strom- und Wasserlieferanten abschließen können.
Das Gesetz sagt auch, dass Leute die in besetzten Häusern wohnen dort keine Meldeadresse haben können. Damit wird theoretisch der Schulbesuch der in den besetzten Häusern lebenden Kinder verunmöglicht (das erinnert ein bisschen an Maggi Thatcher, die den Kindern der streikenden Bergarbeiter die Schulspeisung gestrichen hat). Allerdings unterlaufen in der Regel die Schulen das Gesetz und finden Wege, die Kinder doch aufzunehmen. Im Falle der Via Tiburtina 770 spielt nach Angaben der BewohnerInnen zudem eine Rolle, dass das Viertel aus einer in den 1940er/50er am Stadtrand Roms errichteten informellen Siedlung entstanden ist, deren BewohnerInnen her kamen um in den Fabriken zu arbeiten. In den 1960/70er Jahren hätten sie sich dann sozialen Wohnungsbau erkämpft. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte gäbe es eine kulturelle Akzeptanz von Besetzungen und Wohnungskämpfen, die dazu beiträgt, dass Leute bereit sind, derartige gesetzliche Bestimmungen zu umgehen.
Die Lage wird aber dadurch noch skurriler dadurch, dass infolge der Krise wahnsinnig viele Familien auf der Straße gelandet sind und der Staat tatsächlich nicht in der Lage ist, die Leute unterzubringen. Aus diesem Grund werden in Rom Besetzungen leerstehender Gebäude im städtischen Besitz offiziell geduldet. Und auch der Müll wird abgeholt: vor dem Gebäude stehen Mülltonnen, die soweit wir sehen konnten nur von den BesetzerInnen genutzt werden und die ganz regulär geleert werden.
Es gibt in der Via Tiburtina 770 auch einen Infopoint, zu bestimmten Zeiten erfolgt eine Beratung für Leute aus der Nachbarschaft zu mietrechtlichen Problemen, bei Zwangsräumungen wird Solidarität organsiert. Aber auch Leute aus anderen Besetzungen holen sich hier Rat.
Derartige Aktivitäten bleiben aber vor allem an den italienischen AktivistInnen und A. Hängen. Von Seiten der AktivistInnen, oder wie es hier heißt Militanten (also der hiesigen linken Szene), wird beklagt, dass die meisten BewohnerInnen der besetzten Häuser/MigrantInnen politisch passiv blieben. Eine richtige Vernetzung gäbe es nur mit den vor allem von MigrantInnen getragenen Arbeitskämpfen in der Logistikbranche, weil viele der in den Arbeitskämpfen aktiven ArbeiterInnen in besetzten Häusern wohnen würden.
Das alte Problem, dass die Arbeiterklasse spontan nur tradeunionistisches Bewusstsein hat versuchen die unterschiedlichen im Wohnungskampf aktiven Netzwerke (das sind im wesentlichen drei) auf je ihre Art zu lösen. Vom Comitato Cittadino di Lotta per la Casa wurde uns berichtet, dass dieses die BewohnerInnen der von diesem Netzwerk besetzten Häuser tatsächlich verpflichte, zu Demos zu gehen. Und wenn sie das nicht tun, würden sie darauf „angesprochen“ werden. Der Blocchi Precari Metropolitani, zu dem die Via Tiburtina gehört, würde es hingegen eher mit „Überzeugungsarbeit“ versuchen. (Wir haben aber nicht mit Leuten vom Comitato Cittadino di Lotta per la Casa gesprochen und es gibt hier natürlich auch diverse Szenenickligkeiten, insofern ist unklar, ob diese Aussagen stimmen). Klar ist auf jeden Fall, das man um eine Wohnung in den Squats zu bekommen Engagement gezeigt haben muss, zumindest auf Demos gegangen sein sollte. Das heißt aber nicht, dass die ganzen Aktivitäten der MigrantInnen erzwungen sind und bei den Demos linke ItalienerInnen hinter den Demonstrantinnen aufpassen, dass niemand desertiert. Eine Ukrainerin z.B. hat erzählte uns, dass sie früher bei den Demos immer hinten lief, sich irgendwann dafür geschämt hat und es dann mal versucht hat, vorne mitzulaufen. Und seither läuft sie immer in der ersten Reihe mit. Aber es dauert, bis sie dort ankommt, weil auf dem Weg dahin durch die Demo trifft sie soviele Leute…
Mafia Capitale: der Sozialstaat, der Notstand und die Häuserkämpfe
Im Moment wird Rom/Italien von einem Skandal namens Mafia Capitale erschüttert. Es ist herausgekommen, dass es krasse korrupte Verwicklungen zwischen dem Staat, den freien Trägern, die sich um die Unterbringung der MigrantInnen und Obdachlosen kümmern sollen und dem organisierten Verbrechen gibt/gab. Die Grundvoraussetzung dafür scheint zu sein, dass in Italien bestimmte dynamische soziale Problemlagen (die Versorgung von MigrantInnen, Hilfe für Erdbebenopfer, Bekämpfung der Wohnungsnot infolge der Krise durch Sonderprogramme erfolgt, sogenannte Emergenzas (Notstände). Dadurch unterliegt das Geld wohl einer etwas lascheren Kontrolle als wenn das Ganze durch feste Budgets abgesichert wäre. In Rom nun hat sich wohl ein ausgedehntes Netzwerk der Korruption zwischen den hiesigen Pendants der „freien Träger“ und der Stadtverwaltung gebildet, das organisierte Verbrechen, die Mafia, steckt wohl auch mit drin. Es gibt angeblich abgehörte Telefongespräche wo sich Leute gegenseitig erklären, dass man mit Flüchtlingen mehr Geld verdienen könne als mit Drogen. Dabei ist wohl ordentlich Geld, das eigentlich für die Versorgung von Flüchtlingen und Wohnungslosen gedacht war in private Taschen geflossen. Infolge der Aufdeckung dieses Korruptionsnetzwerkes sind jetzt erstmal alle Gelder eingefroren, werden neu vergeben, was wieder zu Lasten der Betroffenen geht, die nun wieder ohne staatliche Unterstützung dastehen. Es besteht der Verdacht, dass Leute aus der hiesigen 90er Jahre Hausbesetzerszene, die sich im Bereich der Sozialarbeit in staatliche Institutionen begeben haben, in diesen Skandal verwickelt sind.
Sten