„Jupiter’s Moon“, Ungarn 2018, Regie: Kornél Mundruczó
Von Angelika Nguyen
Am Anfang: das Innere eines Fluchtwagens. Menschen werden mit einer bewegten, dokumentarisch anmutenden Kamera abgefilmt, Männer, Frauen, bei Kindern schwenkt der Kamerablick nach unten. Dazwischen Hühner in Kisten. Irgendwie erinnern die räumliche Enge und die starren Gesichter an Filmbilder von Deportationen in deutschen Viehwaggons. Sogleich gerät der jugendliche Aryan, der es mit dem Vater aus dem apokalyptischen Homs in Syrien bis hierher geschafft hat, ins Bildzentrum. Sehr jung wirkt er, ängstlich, wachsam, dicht am Vater. Als die Flüchtenden hinter der ungarischen Grenze von Wachmännern durch einen Wald gejagt werden und grelle Scheinwerfer angehen und Schüsse fallen, ruft Aryan denn auch wie ein Kind: „Papa!“. Die Perspektive von Flüchtenden wird zu diesem Filmbeginn ganz nah und beklemmend erzählt.
So weit der realistische, nüchtern berichtende Erzählstil.
Dann wechselt der Film plötzlich radikal das Genre in Science Fiction, Märchen oder etwa Marvel-Comic. Möglicherweise angeschossen, schwebt Aryan aus dem Fluss und der Gefahr heraus in die Höhe, fliegt auf zauberhafte Weise über der Szene. Ein Wunder.
Aryan findet trotz dieser Fähigkeit seinen Vater nicht mehr wieder. Anstatt dessen trifft er einen etwas derangierten ungarischen Arzt, Dr. Stern, der Aryans Flug-Eigenschaft entdeckt und ihn daraufhin einfach mit sich nimmt.
Fortan schläft Aryan auf der Couch in Sterns Wohnzimmer, unter dem Fernseher, in dem wie zufällig ein Ausschnitt aus dem sowjetischen Antikriegsklassiker „Die Kraniche ziehen“ zu sehen ist, und schleppt Stern den syrischen Jungen, der wie paralysiert wirkt, zu Patienten mit, um mit seiner Vorführung Geld zu verdienen, behandelt ihn wie ein Hündchen, das vor der Tür warten soll und bereichert sich an dem „Wunder“. Bis der Arzt begreift, dass dieser syrische Junge der einzige Mensch ist, der ihm geblieben ist, und sich fortan, koste es was es wolle, für ihn einsetzt.
Wie eine verzweifelte Version des Marvel-Spiderman fliegt Aryan ziellos, staunend und melancholisch durch die Szenen, erst zum Gaudi von Sterns Patienten, dann aber, um der brutal vorgehenden ungarischen Polizei zu entkommen. Die Genre –Mischung des Films ist ein Wagnis – und sie geht auch irgendwie nicht auf. Dokumentarisch anmutende Dramatik hier und zauberhaftes Pathos dort, das kriegt man schwer zusammen. Der Blick der Zuschauenden bleibt distanziert. Und doch hat der Film einige Tugenden osteuropäischen Filmemachens und lässt die Augen sich mal ausruhen von westlicher Hochglanzästhetik. Die menschlichen Körper werden in ihrer echten zufälligen Bewegung eingefangen, nicht nur drapiert, die Gesichter sind echt, und Schönheit muss nicht perfekt sein. Das Rohe, Direkte ist die Stärke des Films; sein melancholischer Grundton illustriert die Verzweiflung von Flucht und Migration. Wenn Aryan dem Arzt das Haus seiner Familie in Homs beschreibt, von dem inzwischen kaum noch etwas stehen dürfte, dann rückt einem das näher als eine Nachricht im Ticker.
Obwohl Regisseur Kornél Mundruczó ausdrücklich keinen politischen Film machen wollte, sondern eher auf Unterhaltung mit Zauber-Elementen aus war, ist die radikale Politik gegen Flüchtende unter Viktor Orbán, welche nach den Worten des Regisseurs die Filmarbeiten „einholte“, durch den ganzen Film zu spüren. Schwer bewaffnete Polizisten zielen auf alles, was wie Geflüchtete aussieht. Der Verweis auf die rechtspolitische Gegenwart Ungarns ist unübersehbar.
Ein Erlebnis ist die Besetzung der Hauptrollen: Merab Ninidse, der desillusioniert den Arzt Dr. Stern spielt, Zsombor Jéger als großäugiger syrischer Flüchtling Aryan und einer der bekanntesten ungarischen Schauspieler aus der Zeit des Sozialismus („Mephisto“, „Das fünfte Siegel“) György Cserhalmi als böser Polizist.
Dabei ist bemerkenswert, wie die tatsächliche Herkunft zweier Darsteller in ihrer Rolle jeweils sich verwandelt. Der Georgier Ninidse spielt einen gebürtigen Ungarn, während der Ungar Jéger den Syrer interpretiert. So spielt der Film mit nationalen Gefühlen und Vorurteilen, trickst sie aus. Auch ein Statement.
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