Von Jürgen Schneider
Wie immer der bevorstehende Brexit auch aussehen mag, in Kürze wird, wie der in Dublin erscheinende Independent berichtete, die Garda Síochána na hÉireann (so die offizielle Bezeichnung für die irische Polizei) bewaffnete Unterstützungseinheiten an die Grenze zu Nordirland verlegen, die dort rund um die Uhr im Einsatz sein sollen. In Dundalk und in Ballyshannon (Grafschaft Donegal) sind bereits entsprechende Einheiten stationiert, eine dritte Einheit soll von Cavan aus die quer durch das Land mäandernde, derzeit noch offene Grenze schützen. Begründet wird die Maßnahme mit angeblich zu erwartenden Aktivitäten von ohnehin geheimdienstlich durchsetzten Gruppen, die sich einst von der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) abspalteten, mit dem Agieren von Kriminellen sowie mit der für die Zukunft behaupteten höheren Zahl der ins Land kommenden Flüchtlinge.
Auch nördlich der Grenze wird für den Grenzschutz aufgerüstet. Der nordirische Police Service of Northern Ireland (PSNI) rekrutiert eigens mehr als dreihundert weitere Polizisten und bekam 16,5 Millionen britische Pfund (19,2 Millionen Euro) zur Finanzierung seiner Rekrutierungskampagne sowie für Verbesserungen der Computertechnik und der Infrastruktur. Im Januar war in London bereits angekündigt worden, dass fast 1.000 Polizeibeamte aus England und Schottland von ihren regulären Aufgaben abgezogen und noch im selben Monat für den Grenzschutz fit gemacht werden sollten. Die Kommandeure der nordirischen Polizei hätten um Verstärkung gebeten, damit etwaige durch eine harte Grenze in Irland entstehende Probleme bewältigt werden könnten.
Noch im November 2018 hatte Irlands Premier Leo Varadkar erklärt seine Regierung habe keine Pläne zur Grenzsicherung für den Fall eines harten Brexit. Die Polizei werde in den kommenden Jahren jedoch vergrößert und es werde natürlich für eine enge Zusammenarbeit mit dem PSNI gesorgt werden. Beim World Economic Forum in Davos sprach er allerdings von der eventuellen Notwendigkeit »von Kameras, physischer Infrastruktur und möglicherweise von einer Polizei- oder Armeepräsenz« an der Grenze. Zuvor hatte EU-Bürokraten in Brüssel ihm deutlich gemacht, dass die Grenze keine innerirische Grenze, sondern eine europäische Außengrenze sein werde. Wollten die Iren in der EU bleiben, werde es eine EU-Grenze in Irland geben müssen. Vardakars Äußerungen sorgten in Irland für einigen Wirbel, und seine Parteifreunde versuchten, sie zu relativieren.
Das wirkliche Problem des Grenzschutzes, so der irische Schriftsteller Liam Mac Cóil, werde vermutlich nicht die von Politikern antizipierte Gewalt sein, die sich allerdings sehr wohl ereigne könne, sondern irische Soldaten, die an der Grenze Football-Fans aus der nordirischen Grafschaft Armagh aufhalten, wenn diese in die südirische Grafschaft Cavan reisen wollten, um dort ein Match zu sehen. Und dies alles, weil die britische Premierministerin May eine Spaltung der Konservativen Partei verhindern wolle, eine Spaltung, die 1846 einer ihrer Vorgänger, Sir Robert Peel, bewirkt hatte. War damals die Große Irische Hungersnot der bittere Tropfen im Kelch, so sei heute der Friedensprozess in Nordirland dieser bittere Tropfen.
Der Soziologe Cathal McManus sieht die Gefahr, dass durch den Brexit die bereits in Agonie liegende politische Ordnung Nordirlands implodieren könnte. Die Hardliner der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) befürworteten eine harte Grenze. Jetzt, da Premierministerin Theresa May die DUP als Mehrheitsbeschafferin im Parlament benötige, könnten die Protestanten mit einem Nein zu ihrem Brexit-Deal das mit der offenen Grenze verbundene Karfreitagsabkommen von 1998 aushebeln. Dieses Abkommen sah eine Machtteilung zwischen Nationalisten und Unionisten vor. Seit Anfang 2017 kommt es zwischen DUP und der republikanisch-nationalistischen Partei Sinn Féin zu keiner gemeinsamen Regierungsbildung, nicht zuletzt wegen der Differenzen in Sachen Brexit. Sollte Nordirland nach einem Brexit noch unregierbarer werden, müsste London die Unruheprovinz wohl wieder direkt regieren, prophezeit McManus. Dies bedeutete das Ende des Karfreitagsabkommens.
Jüngst warnte auch der Chef des nordirischen Civil Service, Daniel Sterling, ein No-Deal-Brexit würde für Nordirland schwerwiegende Konsequenzen haben, wie etwa einen »starken« Anstieg der Arbeitslosigkeit, ein »reduziertes Angebot an frischen Nahrungsmitteln« sowie das »Risiko sozialer Unruhen«.
Nur selten ist von einer historisch längst überfälligen Lösung der durch den Brexit für Irland entstehenden Probleme die Rede – von der Wiedervereinigung des Landes, das im Mai 1921 auf der Grundlage des Government of Ireland Act 1920 geteilt wurde, nachdem die Briten sich in Irland schon jahrhundertelang als Kolonialmacht aufgeführt hatten. Der industrialisierte Nordosten (Schiffsbau, Leinenindustrie) wurde zu dem künstlichen Staatengebilde Nordirland, der überwiegend agrarische Süden zum Irish Free State. Die Teilung wurde legitimiert durch eine unionistische Mehrheit im Norden, die diese Teilung befürwortete, nachdem durch diese, insbesondere aber durch eine ausgeklügelte Grenzziehung (das sog. Gerrymandering) diese Mehrheit überhaupt erst geschaffen worden war. Diese künstlich geschaffene Mehrheit schickte sich an, einen protestantischen Staat für Protestanten zu etablieren, ein Prozess der Diskriminierung, der Mitte der 1950-er Jahre zu einer »Grenzkampagne« einer äusserst schwachen IRA und in den späten 1960-er Jahren zu den sog. »Troubles« mit den weithin bekannten verheerenden Folgen führte. Die Parteinahme der westeuropäischen Staaten für die britischen Armee und ihr Vorgehen in Nordirland, inklusive Morde und Folter, war stets garantiert.
2016 hatte eine Mehrheit in Nordirland gegen den Brexit gestimmt, aber damit nicht automatisch für eine Wiedervereinigung des Landes, auch wenn sich viele Nordiren längst einen irischen Pass haben ausstellen lassen. In der EU-Bürokratie kommt der Gedanke an eine solche Wiedervereinigung, bei der neben der allirischen die unionistische und nordirische Identität zu berücksichtigen wäre, erst gar nicht auf, unter anderem weil die Mitgliedstaaten in der Folge einer solchen Wiedervereinigung das Streben nach Unabhängigkeit in anderen europäischen Regionen fürchten. Lieber wird eine Rückkehr zu kriegerischen Auseinandersetzungen in Nordirland in Kauf genommen.
Foto: Wikipedia, Sinn Féin anti-hard border protest at Stormont, This file is licensed under the Creative Commons Attribution 2.0 Generic license.