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Berliner HausbesetzerInnen-Geschichte: Das Neo-Nazi-Haus Weitlingstraße 122 in Berlin-Lichtenberg

von Dietmar Wolf

Am 18. Februar 1990 besetzten Kader der Ostberliner Neo-Nazi-Partei „Nationale Alternative“ (NA) in Berlin-Lichtenberg mehrere Häuser. Von nun ab war ein Tabu innerhalb der rechten Szene gebrochen und Hausbesetzung nicht mehr allein Privileg linksorientierter Kräfte.

Das NAZI-Haus Weitlingstraße 122 im Jahr 1990

Das NAZI-Haus Weitlingstraße 122 im Jahr 1990

Die  NA wurde von einer Gruppe Ostberliner Nazi-Skinheads am 30. Januar 1990 gegründet. In den 1980er Jahren nannte sie sich zunächst „Lichtenberger Front“ und später „Bewegung 30. Januar“.  Nach der sogenannten „Wende“ erhielt die „Nationale Alternative“ große Unterstützung durch die österreichische „Volkstreue außerparlamentarischen Opposition“ (VAPO) von Gottfried Küssel, sowie der „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“ (GdNF) um Michael Kühnen.

Zu den wichtigsten Gründungsmitgliedern und führenden Protagonisten der NA gehörten Ingo Hasselbach (ab Mitte der 1990er Jahre einer der bekanntesten AussteigerInnen aus der deutschen Neo-Nazi-Szene), Frank Lutz, Heiko Baumert und Andre Richert. Wenig später gehörte auch Oliver Schweigert, ein Westberliner Neonazi-Kader, zum Führungspersonal der NA. Schweigert, der seit den 1980er Jahren sehr aktiv war (FAP, GDNF-Bereichsleiter Ost, NSDAP-AO, Die Nationalen, usw.) und zu den wichtigsten Vertrauten von Michael Kühnen gehörte, hatte schnell großen Einfluss innerhalb der NA. Er war zeitweise der Vorsitzende der NA und der sogenannten „Bürgerinitiative Wohnraumsanierung e.V.“ (WOSAN), dem offiziellen Mieter der Weitlingstraße 122.


Heiko Baumert

Heiko Baumert, Quelle: antifa-nazis-ddr.de

Heiko Baumert (oben) und Frank Lutz aus Ost-Berlin,
waren Mitbegründer der Lichtenberger Front (1986), der Bewegung 30.Januar (1988).

Beide wurden 1988 wegen ihrer Naziaktivitäten (Rowdytum, Störung des sozialistischen Zusammenlebens) zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt, kamen aber nach der Wende, auf Grund einer Amnestie der Modrow-Regierung, vorzeitig aus dem Knast.

Frank Lutz

Frank Lutz, Quelle: antifa-nazis-ddr.de

en sie zusammen mit Ingo Hasselbach und André Richert die Nationalen Alternative (1990). Lutz war der erste Vorsitzende der NA, Baumert war Schriftführer und unterschrieb den Vertrag zwischen der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV) und der BI Wosan e.V. für die Weitlingstraße 122.

Nach dem Ende der NA betätigten sich beide weiter, unter anderem in der FAP-Berlin.

Ingo Hasselbach Pfannschmidt

Ingo Hasselbach Pfannschmidt, Quelle: antifa-nazis-ddr.de

Ingo Hasselbach Pfannschmidt aus Ost-Berlin,
war Mitbegründer der Lichtenberger Front (1986), der Bewegung 3O.Januar (1988), der Nationalen Alternative (Februar l990), der Deutschen Alternative (war dort erster stellvertretender Vorsitzender). Hausführer im Nazi-Haus in der Lichtenberger Weitlingstraße, Führungskader der „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front (GdNF)“. Gehörte über Jahre zum Führungskader der Deutschen Neonaziszene.

Anfang 1993 erklärte er seinen Ausstieg aus der Naziszene: „…Im November 1992 verbrannten nach einem Anschlag eine türkische Frau und zwei Kinder in einem Haus in Mölln. Ich erinnere mich noch, wie ich diese Nachricht in den Frühnachrichten im Radio hörte. Ich habe mich noch nie so klein und elend gefühlt. Die Geister, die ich mit meinen „Ausländer raus“-Parolen gerufen hatte, waren da. So brutal das klingen mag: Ich habe diesen Urknall gebraucht, der Tod dieser drei unschuldigen Menschen war für mich der Weckruf, ins Leben zurückzukehren und gegen den Wahnsinn zu kämpfen…“ .

Aus Angst vor Rache, tauchte er unter. Erst in Paris und dann in New York: „… Kurz nach meinem Ausstieg bekam meine Familie eine an mich adressierte, fast ein Kilo schwere Buch-Bombe geschickt. Dass sie nicht explodierte, war Zufall. Die Batterie hatte sich auf dem Postweg entladen. Wäre sie hochgegangen, hätte es Tote gegeben …“.

André Riechert

André Riechert, antifa-nazis-ddr.de

André Riechert aus Ost-Berlin,
gehört zu den Mitbegründern der Lichtenberger Front (1988).

1990 wurde er Pressesprecher der Nationalen Alternative und später Mitglied der DA und der GdNF. Obwohl es bald ruhig um ihn wurde tauchte er immer wieder auf verschiedenen Aufmärschen und Veranstaltungen der Naziszene auf, so zum Beispiel 1993 auf dem 1.Mai-Aufmarsch der FAP in Berlin-Lichtenberg.


 

Als Reaktion auf die Besetzungen der Neonazis am 18. Februar und als Ergebnis von Verhandlungen bot die Kommunale Wohnungsverwaltung (KWV) Lichtenberg den Neo-Nazis das Haus Weitlingstraße 122 (Ecke Lückstraße) als alternatives Objekt an. Am 5. März 1990 erhielten die Nazis der NA dann ein legales Mietverhältnis für die Weitlingstraße 122.  Zur gleichen Zeit wurden die leerstehenden Häuser Weitlingstraße 115, 117 und Lückstr. 24, eher temporär, von Nazi-Kids aus dem Umfeld der Lichtenberger NA besetzt und frequentiert.

Das gerade diese Häuser besetzt wurden, hatte historische Hintergründe. Bereits 1986 wurden sie schon einmal von Nazis besetzt. Damals waren diese Wohnungen vorrangig an ehemalige Strafgefangene vergeben worden. Jedoch standen oft Wohnungen leer, weil Bewohner wieder ins Gefängnis kamen oder unbekannt verschwanden. In diese Wohnungen zogen damals Nazis ein und hielten die übrigen Bewohner über längere Zeit durch Gewalt unter Kontrolle. Aus Furcht vor Schlägen trauten sie sich nicht Anzeige zu erstatten. Erst durch die Anhäufung von Anzeigen und Beschwerden von Anwohnern anderer Häuser sah sich die Stasi genötigt, die besetzten Wohnungen zu räumen und die rechten Besetzer kurzzeitig festzunehmen.

Am 27. April 1990 stürmten, spektakulär und medial inszeniert, Sondereinsatzkräfte der (Ost)Deutschen Volkspolizei(DVP) das Haus und durchsuchten es. Es wurden Waffen und Propagandamaterial beschlagnahmt. Der gesamte NA-Vorstand wurde kurzzeitig festgenommen. Grundlage der Polizeiaktion war ein Ermittlungsverfahren, dass zur gleichen Zeit gegen die NA eingeleitet wurde, als die KWV der Nazi-Partei das Haus übergab und dies auch vertraglich absicherte.

Antifaschistischer Widerstand und eine Demonstration gegen die Nazi-Häuser in Berlin Lichtenberg
Ab dem Zeitpunkt der legalen Übernahme des Hauses Weitlingstraße 122 durch die NA wurde das Haus zu einem der wichtigsten Zentren für Nazis in ganz Deutschland und im Ausland. Viele Nazikader, unter anderen Michael Kühnen, Christian Worch und Gottfried Küssel, besuchten und nutzten diesen Ort. Gleichzeitig war das Haus Ausgangspunkt für faschistische Aktivitäten und gewaltsame Überfälle auf besetzte Häuser, linke und alternative Kneipen, auf AusländerInnen und auf linke und alternative Menschen. Und dies nicht nur in Lichtenberg, sondern auch in anderen Berliner Stadtbezirken.

Dies nahm ein breites Berliner Bündnis zum Anlass, eine große Demonstration durch Lichtenberg und gegen das Nazi-Haus in der Weitlingstraße zu organisieren, die am 23. Juni 1990 stattfand.

Antifaschistische Demonstration in Lichtenberg am 24. Juni 1990

Antifaschistische Demonstration in Lichtenberg am 23. Juni 1990, Archiv telegraph

Trotz umfangreicher Vorbereitungen und 41 Unterstützergruppen von Autonomen, Antifa-Gruppen bis hin zu Grünen, Vereinigte Linke und Jugendorganisationen, war die Demo zum überwiegenden Teil durch das autonome Spektrum geprägt. Schwarze Kleidung, vermummte Gesichter, Helme, optische Demoausrüstung aus jahrelanger Erfahrung mit Polizei und Kameras im Westen, aber auch der Angst vor den Faschisten. Die VertreterInnen und UnterstützerInnen aus dem Bürgerbewegungs- und Parteienspektrum glänzten mehrheitlich durch Abwesenheit. Wie auch heute immer wieder zu merken ist, heißt in diesen Organisationen, einen Aufruf mit zu unterstützen nicht automatisch, selbst zu mobilisieren, geschweige denn, persönlich zu erscheinen. PolitikerInnen solcher Organisationen ist offensichtlich die Unterschrift unter einen Aufruf antifaschistisches Bekenntnis genug. Folglich kamen lediglich 5000 Menschen, obwohl es gut und gerne Zehntausende hätten sein können. Das Ergebnis des Ganzen war ein sich militant gebärdender Schwarzer Block, der durch Lichtenberg zog und sich, entnervt von langweiliger Latscherei, mit gelegentlichen, vollmundigen und kampflüsternen Parolen gegen Nazis und Polizei, halbwegs bei Laune hielt. Ein nicht unbeträchtlicher Teil fieberte dem Ende der Demo und dem erhofften Show-Down mit den Nazis oder zu mindestens mit der DVP entgegen. Doch dieses Ende wurde erst gar nicht abgewartet. An der dem Nazi-Haus am nächsten gelegenen Polizeisperre, einige hundert Meter vor dem Abschlusspunkt der Demo, hielt es die StraßenkämpferInnen nicht mehr in den Ketten. Etwa 500 „Militante“ ließen Demo Demo sein und versuchten den Volkspolizisten das zu geben, was sie den unerreichbaren Nazis, die auf den sicheren Häuserdächern feixend zusahen, nicht geben konnten. Allerdings war das auch nur eine Illusion. Nach anfänglicher Irrita¬tion seitens der DVP, die bis dahin kaum Erfahrungen mit entschlossenen militanten DemonstrantInnen hatte, sich erst einmal zurückzog und mehrere ihrer LKW’s den Molotow-Cocktails der Angreifer überließ, schlug sie nur Minuten später die DemonstrantInnen zurück. Damit war der große Kampf schon beendet. Zum Glück war der größte Teil der DemonstrantInnen vernünftig genug, die Demonstration zu Ende zu führen.

Antifaschistische Demonstration in Lichtenberg am 24. Juni 1990

Antifaschistische Demonstration in Lichtenberg am 23. Juni 1990; Archiv telegraph

Von rechts bis links boten die großen Zeitungen am Montag nach der Demo ihren Lesern die gleichen Schlagzeilen: „Die blutige Schlacht der West-Chaoten“ (Bild), „400 Radikale inszenierten blutigen Krawall“ (ND), „Extremistische Krawalle nach antifaschistischer Demonstration“ (Berliner Zeitung), „Am Ende siegte nur der Haß“ (Junge Welt). Derartige Ergüsse waren der Höhepunkt der Pressekampagne, mit der schon im Vorfeld versucht wurde, die Demo zu diskreditieren. Auch seitens der zuständigen Regierungsstellen wurde vorher alles versucht, um die Demonstration zu mindest einzudämmen. Erst versuchte der Stadtbezirksbürgermeister die Route umzulegen,  in die Seitenstraßen zu drücken oder wenigstens möglichst weit weg vom Grund der Demonstration. Als das nicht klappte, wurden 2500 Volkspolizisten aufgeboten und das Gebiet um die Weitlingstraße weiträumig abgeriegelt.

Antifaschistische Demonstration in Lichtenberg am 24. Juni 1990

Antifaschistische Demonstration in Lichtenberg am 23. Juni 1990; Archiv telegraph

Letztendlich muss man feststellen, dass es die, an dieser Stelle unnützen und kontraproduktiven militanten Aktionen während der Demonstration waren, die den medialen Hetzereien im Vorfeld und im Nachgang Recht gaben und Vorschub lieferten. Immerhin war die Demonstration nicht völlig umsonst gewesen. Der Druck gegen das NA-Haus in der Weitlingstraße 122 erhöhte sich zunehmend und trug wesentlich dazu bei, dass dieses Nazi¬-Nest sehr bald aufgegeben werden musste. Einer der wenigen Erfolge, die durch eine hart¬näckige und gruppenübergreifende Antifa-Arbeit erreicht wurde.

Das Ende des Nazi-Zentrums
Bereits Mitte der 1990er Jahre war der innere Zerfallsprozess in der Weitlingstraße 122, sowie innerhalb der NA im vollen Gange. Zum Bruch mit der GdNF war es bereits 1990 gekommen. Anlass war zum einen eine Diskussion über die Homosexualität von Michael Kühnen und zum anderen das von Kühnen durchgesetzte „Aktivitätsbeschränkungsgebot“ für die „Nationale Alternative“ auf Berlin. Ein Teil der Anhänger wechselte in die „Deutsche Alternative“ (DA). Aus der „Nationalen Alternative“ ging der „Freundeskreis Revolutionärer Volkssozialisten“ und die „Kameradschaft Sozialrevolutionärer Nationalisten“ hervor. Formell wurde die NA nie aufgelöst.

Das Haus Weitlingstraße 122 wurde im Laufe der 1990er Jahre von den Neo-Nazis selbst aufgegeben. Nach der freiwilligen Selbst-Räumung der Weitlingstraße 122 wurde das Haus durch Brandstiftung unbewohnbar gemacht.

Weitlingstraße 122 Ecke Lückstraße, 14. Januar 2008, Quelle: Wikipedia

Weitlingstraße 122 Ecke Lückstraße, 14. Januar 2008, Quelle: Wikipedia

Doch auch in den darauf folgenden Jahren blieb der Wohnkiez um die Weitlingstraße weiter in den Schlagzeilen. Immer wieder kam es dort zu rassistisch und politisch motivierten Angriffen von Neo-Nazis. Besondere Aufmerksamkeit erregten zwei Überfälle auf die damaligen PDS-Politiker Giyasettin Sayan am 18. Mai 2006 und Kirill Jermak am 26. November 2006.

Seit 2007 ist  die Bundes- und Lokalpolitik mit gut dotierten Fördermittelprogrammen bemüht, die dortige Nazi-Problematik einzudämmen. Allein in den Jahren 2007 bis 2010 wurden jährlich 100.000 Euro zur Finanzierung eines „Aktionsplan gegen Gewalt und Rechtsextremismus im Weitlingkiez“ bereitgestellt.

Textquellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Weitlingkiez
https://de.wikipedia.org/wiki/Nationale_Alternative
http://www.antifa-nazis-ddr.de/n/ddr-nazis-fotos-und-fakten.php
http://www.squatter.w3brigade.de/content/geschichte/die-hausbesetzerbewegung-ost-berlin-teil2
Drahtzieher im braunen Netz – Der Wiederaufbau der NSDAP, ID-Archiv im IISG (Hg.)

Fotoquellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Weitling-Lueckstr.jpg
http://www.squatter.w3brigade.de/content/geschichte/die-hausbesetzerbewegung-ost-berlin-teil2
http://www.antifa-nazis-ddr.de/n/ddr-nazis-fotos-und-fakten.php
http://telegraph.cc/die-mainzer-strasse-chronologie-einer-raeumung/

Video: Nazivideo der Nationale Alternative von 1990
Ein von den Nazis der Nationalen Alternative im Sommer 1990 selbst gedrehtes Video, vor und während der Antiaschistischen Demonstration gegen das Nazihaus in der Weitlingstraße (Berlin_Lichtenberg)
Quelle: YouTube, http://www.antifa-nazis-ddr.de/videothek.php