Von Thomas Kuczynski
Der 8. Mai 1945 wird hierzulande zumeist „das Kriegsende“ genannt. Das ist nicht ganz falsch, es war jedoch ein Kriegsende der besonderen Art, denn an jenem Tage unterzeichnete das Oberkommando der deutschen Wehrmacht die bedingungslose Kapitulation. Den Tag historisch korrekt zu bezeichnen, fällt vielen Deutschen nach wie vor sehr schwer. Das ist verständlich, denn niemand erinnert sich gern an Niederlagen, erst recht nicht an eine solche, der die Besetzung des ganzen Landes folgte. Ein Tag der Befreiung war es damals nur für die überlebenden Opfer des Faschismus und für dessen Gegner, ob sie nun aktiv Widerstand geleistet hatten oder passiv, in der „inneren Emigration“. Für die meisten im Lande aber war das nicht ein Tag der Befreiung, sondern der Tag der Niederlage – der Euphemismus „Kriegsende“ wurde erst später erfunden.
Der damalige Vorsitzende der KPD, Wilhelm Pieck, erklärte am 4. Mai 1945 über den Moskauer Sender „Freies Deutschland“ nicht nur: „Nun ist die Hitlerbande (am 2. Mai) auch in ihrer Hochburg von der Roten Armee geschlagen worden. Berlin ist befreit von diesem Verbrechergesindel. Und damit hat auch für die Berliner der Hitlerkrieg sein Ende gefunden“, sondern auch: „Welchem ehrlichen, anständigen Deutschen schlüge darüber nicht das Herz höher! Aber in diese Freudenbotschaft mischt sich das bittere, quälende Bewusstsein, dass sich das deutsche Volk nicht selbst von dieser Mörderbande befreite, sondern ihr bis zuletzt folgte und sie bei ihren Kriegsverbrechen unterstützte.“
Wie sollten sich also die Bewohner eines Landes befreit fühlen, wenn ihnen von fremden Truppen – zu Recht! – in allen Landesteilen ein strenges Besatzungsregime auferlegt worden war. Die vier Alliierten regierten mit Befehlen und Verboten, und das war auch dringend notwendig bei einem Volk, das nahezu ausnahms- und bedingungslos seiner Führung bis zum bitteren Ende gefolgt war. Dazu gehörte auch die Liquidierung der Nazipartei und aller sonstigen nazistischen Organisationen. Hätten die Alliierten anders agiert und die Umgestaltung des Landes sogleich mit freien Wahlen begonnen, dann wären in der damaligen Situation die Nazis sofort wieder „ganz demokratisch“ an die Macht gekommen – wie einst im März 1933. In der Tat: Wenn heutzutage hinsichtlich der Ostzone und der späteren DDR abschätzig von einem „verordneten Antifaschismus“ die Rede ist – in den Westzonen und der späteren BRD gab es eine genauso „verordnete Demokratie“.
Deshalb sollte auch nicht vergessen werden, dass keiner der 1949 entstandenen deutschen Teilstaaten jemals vollständig souverän war. Erst der „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“, der sogenannte Zwei-plus-Vier-Vertrag, genauer dessen am 15. März 1991 erfolgte Ratifizierung, beinhaltete den endgültigen Verzicht der vier Alliierten auf alle besatzungsrechtlichen Beschränkungen und sprach dem vereinten Deutschland die volle Souveränität zu.
Den Achten Mai dürfen die Alliierten als Tag des Sieges begehen, die Deutschen als Tag der Befreiung.
Thomas Kuczynski (* 12. November 1944 in London) ist ein deutscher Wirtschaftshistoriker.