Räte und Versammlungen in der russischen Revolution
Von Hauke Brenner vorab aus telegraph #133/134
Wenn wir uns die Geschichte der Aufstände, Revolten und Revolutionen im 20. Jahrhundert in Europa anschauen, fällt eine Besonderheit auf: In Petersburg 1905, Russland 1917, in der Novemberrevolution in Deutschland, der Bremer und Münchner Räterepublik, der ungarischen Revolution 1919, Katalonien 1936, Ungarn 1956, Portugal 1974, Polen 1980 – überall organisierten die revoltierenden Massen sich spontan in räte-ähnlichen Organisationsstrukturen. Parteien spielten zumeist nur eine zweitrangige Rolle. Und wir können das sogar bis in unsere Tage verlängern: M15- Bewegung in Spanien, Taksim in Istanbul, der arabische Frühling oder die occupy-Bewegung – immer stand die Versammlung als Ort der Meinungsbildung und Aktionskonsensfindung im Mittelpunkt des Geschehens.
Allein aus diesen Gründen lohnt es, anlässlich des 100. Jahrestages des Oktoberaufstandes sich noch einmal genauer mit der Geschichte der Rätebewegung in Russland zu befassen.
Dabei möchte ich das Augenmerk auf die einfachen Frauen und Männer lenken, die gemeinhin in der Geschichtsschreibung als die „Massen“ bezeichnet werden. Von ihren Forderungen, Ideen, Aktionen und Organisationsversuchen, die letztendlich maßgeblich den Verlauf der Revolution bestimmten, will ich berichten.
Allerdings ist sofort eine Einschränkung vorzunehmen: Die eigentlichen Akteure der Aufstände haben selten ihre Geschichte selbst aufgeschrieben, zumal in Russland vor 100 Jahren der Analphabetismus noch sehr weit verbreitet war, insbesondere auf dem Lande. So liegen nur sehr wenige Berichte und Zeugnisse vor, über die Geschehnisse, Diskussionen und Konflikte in den Betriebsversammlungen, in den Dorfversammlungen des ‚mir‘ oder in den Garnisonen der Soldatenkomitees.
1. Was waren die Fabrikkomitees und welche Rolle spielten sie in der Revolution?
Die russische Industrie war auf wenige Zentren konzentriert. Petrograd mit seiner Schwer- und Rüstungsindustrie sowie den Werften und der Textilverarbeitung, Moskau als Zentrum der Leichtindustrie sowie der Bergbau im Donezk und Ural. Allein in Petrograd schufteten über 400.000 Arbeiterinnen in teils hochmodernen vom ausländischen Kapital beherrschten Großbetrieben aber auch in vielen kleinen Klitschen. Drei Jahre Kriegswirtschaft mit Hungerrationen, Inflation, Lohndumping und unter dem drakonischen Kommando brutaler Vorgesetzter, die die Prügelstrafe einsetzten zur Disziplinierung – ließen den Hass immer weiter ansteigen. Dabei war die Erinnerung an die Räterevolution von 1905 und die große Streikbewegung von 1912-14 stets präsent.
1912 hatte der Zar mit Massenerschießungen in den Goldgruben an der sibirischen Lena die dortigen Streiks brutal unterdrückt. Das bewirkte in Moskau und Petrograd eine bis dahin nie gekannten Welle von Solidaritätsstreiks. Russland war damals die absolute Streikhochburg in Europa. Die Arbeitsbedingungen waren unbeschreiblich: 12-Stundentag, Prügelstrafe durch die Meister, Arbeitsunfälle en masse.
1916 kam es, trotz Kriegsrecht und Gewerkschaftsverbot, zu einer ersten neuen Streikwelle. Wiederum ging es um den 8-Stundentag und die Anerkennung der betrieblichen Arbeiterinnenvertretung.
Diese kurze Darstellung der harten und langen Kämpfe erklärt, warum es gleich in den ersten Tagen der Februarrevolution zur Bildung von Fabrikkomitees vor allem in den Großbetrieben kam. Gewerkschaften waren noch verboten und irgendeine Vertretungsmacht musste her, was lag näher, als sich rätemässig wie 1905 zu organisieren?
Die Komitees waren aber was anderes als der neu gebildete Arbeiterinnen-Sowjet. Sie wurden auf den Betriebsvollversammlungen gewählt, dem obersten Entscheidungsorgan der Fabriken. Dabei spielten im Gegensatz zu den Sowjets die Parteien keine Rolle. Sehr schnell stiegen die Komitees neben denen der Soldaten zu den entscheidenden Organen der Revolution auf. Die ersten Aktionen waren der Rauswurf der verhassten Vorarbeiter und Betriebsleiter und die Einführung des 8-Stundentages. Einfach dadurch, dass die Arbeiterinnen nach 8 Stunden den Hammer oder die Nähnadel in die Ecke schmissen und nach Hause gingen. Sie warteten nicht, bis die neue gebildete Duma oder der Arbeiterinnensowjet entsprechende Gesetzte erließen. Die Komitees sorgten auch angesichts der Bedrohung durch die Konterrevolution für die Bewaffnung ihrer Arbeitermilizen und bekamen dafür von den Soldaten die Waffen ausgehändigt. So zählten die Roten Garden der Komitees schon im März mehr als 12.000.
In den folgenden Monaten ging es in den Betrieben vor allem um die sogenannte „Arbeiterkontrolle“. Während die Bolschewiki um Lenin darunter die Kontrolle der Spezialisten und des Managements verstanden, entwickelten die Komitees ein viel umfassenderes Verständnis.
Die Drucker formulierten für ihr Gewerbe „autonome Regeln“ zur Kontrolle der Vereinbarungen mit den Fabrikherrn. Einige Wochen später übertrug eine Konferenz in Charkow den Komitees als „revolutionäre Organe“ die Überwachung und Kontrolle der Produktion und die „Verwirklichung der maximalen Produktivität“ – also klar Funktionen der Betriebsleitung. Ende Mai wurde die Bildung eines „Zentralrats der Fabrikkomitees“ in Petrograd beschlossen und die Aufgaben der Arbeiterkontrolle deutlich erweitert hin zur Selbstverwaltung der Betriebe. Der Deputierte Zivotov brachte die Stimmung auf den Punkt: “Die Arbeiterkontrolle ist der Gegenangriff der Arbeiterklasse auf die Bourgeoisie. (…) Mit Hilfe der Komitees werden die Arbeiter es durchsetzen, dass die Kapitalisten verschwinden“. (Pankratova,182)
Letztendlich konnten nur in 1/5 aller Fabriken Komitees gebildet werden, und dies waren zumeist die staatlichen Großbetriebe. Aber dennoch trieb diese Bewegung sowohl die Sowjets wie die Bolschewiki bis zum Oktoberaufstand vor sich her.
In einer Resolution der Putilow-Werke von Ende April 1917 hieß es: „Indem sich die Arbeiter der einzelnen Unternehmen in der Selbstverwaltung ausbilden, bereiten sie sich für den Zeitpunkt vor, wo das Privateigentum an Fabriken abgeschafft wird und die Produktionsmittel in die Hände der Arbeiterklasse übergehen.“ (Brügmann, 39)
Es ging also nicht mehr um ein Stück Torte, sondern um die ganze Bäckerei!
Was verstanden die Komitees unter sozialistischer Fabrik?
Das oberste Entscheidungsorgan war die Versammlung. Sie wählte die Komiteemitglieder und die Betriebsleitung. Das Komitee organisierte die Leitung und Überwachung der Produktion, formulierte Regeln für die Arbeitsdisziplin, setzte die Lohnhöhe fest und sorgte sowohl für die Beschaffung der Rohstoffe wie für den Absatz der Produkte. Dabei ging es um ein stetiges Lernen und Hineinwachsen in neue Aufgaben. „Als sich die Funktionen des Komitees entwickelten, wurden die eigenen praktischen Maßnahmen zur Richtschnur für spätere Leitsätze. In diesem Sinne hatte das Fabrikkomitee den denkbar besten Lehrer – das Leben selbst“, so eine Stellungnahme der Putilow-Werke. Das lief natürlich nicht konfliktfrei ab und sorgte für einen hohen Verantwortungsdruck, weil die Arbeiterinnen jetzt direkt rechenschaftspflichtig gegenüber den Sowjets und den Konsumentinnen waren.
Das dafür notwendige sozialistische Bewusstsein für die Leitung eines Betriebes entstand nicht über Nacht. Im Winter 1917-18 sank die Arbeitsdisziplin auf einen Tiefpunkt, der teils mit der eklatanten Versorgungskrise und dem Hunger zu tun hatte, aber auch mit mangelndem sozialistischen Bewusstsein. In einem Bericht des Fabrikkomitees der Putilow-Werke heißt es: „Unter dem Deckmantel des politischen Kampfes und ökonomischer Forderungen findet ein Kampf einzelner Gruppen statt, die sich gegen die Arbeiterorganisationen und sogar gegen Individuen richten. Es kommt zu Streiks und Disziplinlosigkeiten aufgrund kleinbürgerlicher Forderungen. Es mangelt gänzlich an Kollektivgefühl.“
Hier wäre es spannend, mehr darüber zu erfahren, wie die Auseinandersetzungen weitergingen. Doch leider gibt es darüber keine mir verfügbaren Mitschriften.
Wie verhielt sich die bolschewistische Führung?
Die Bolschewiki waren bis zum Oktober auf Seiten der Fabrikkomitees. Nachdem die Bolschewiki in den Gewerkschaften im Spätsommer die Führung errungen hatten, rückten sie Stück für Stück von den, wie es Lenin nach dem erfolgreichen Oktoberaufstand nannte, „syndikalistischen“ Forderungen der Komitees ab. Zwar begriff Lenin „umfassend die politische Mentalität der Fabrikarbeiterinnen, hatte aber wenig Kenntnis über das tatsächliche Arbeitsleben der Arbeiterinnen“ in den Fabriken, so Carr, 65.
In völliger Verkennung der Bedeutung der Kämpfe um die Arbeiterkontrolle und des selbsttätigen Aufbaus der sozialistischen Fabrik für die Entwicklung des Klassenbewusstseins, gingen Lenin und Trotzki davon aus, dass die klassenbewussten Kräfte des Proletariats in der bolschewistischen Partei zusammengefasst sind und die Gewerkschaften dieses Bewusstsein in die Betriebe tragen müssen. In ‚Staat und Revolution‘ warnte Lenin, der Sozialismus könne nicht auf einer „Produzentendemokratie“ errichtet werden. Genau das aber verlangten die Komitees. Lenin titulierte die Komitees als „Laufburschen des Kapitals“. Der Petrograder Zentralrat und die Charkower Konferenz vom Mai 1917 wiesen in eine andere Richtung und übertrugen den Komitees die Führung in der ökonomischen Revolution der Betriebe: „Die Betriebskomitees – das sind die Kinder der Revolution“, so die Charkower.
Der Petrograder Zentralrat hatte Ende 1917 Instruktionen für die überregionale Organisation und Lenkung der Produktion herausgegeben, die aber nie von der Parteiführung und den Gewerkschaften umgesetzt wurden. Im Gegenteil, auf dem Gewerkschaftskongress im Januar 1918 verlangten die Bolschewiki, dass die Komitees sich den Gewerkschaften unterzuordnen hätten.
Ende Januar 1918 fand eine Konferenz zur Rätestruktur aller im Ural nationalisierten Betriebe in Petrograd statt. Alle überbetrieblichen Räte wurden von den Arbeiterinnen gewählt und mit einem imperativen Mandat versehen. „Hier war das ökonomische Rätesystem in beinahe idealtypischer Form verwirklicht, da nicht nur die staatlichen Organe sondern auch die Gewerkschaften von der Verwaltung der Industrie ausgeschlossen waren. Und dieses System funktionierte auch, im Gegensatz zur Eisenbahnverwaltung“, schreibt Brügmann. Selbst der inzwischen installierte oberste Volkswirtschaftsrat musste anerkennen, dass zwischen Januar und Mai 1918 nur zweimal die Tätigkeit der Arbeiterselbstverwaltung korrigiert werden musste.
Dies interessierte jedoch wenig die Zentralisten in der bolschewistischen Führung um Lenin und Trotzki. Sie forderten im Frühjahr 1918 die Abkehr von der kollektiven Leitung und die Wiedereinführung der Einmannleitung, tayloristischer Arbeitsorganisation, bürgerlicher Spezialisten und sie kontrollierende Politkommissare.
Die Masseninitiative wurde ersetzt durch die Parteiinitiative!
So war es nur konsequent, den Fabrikkomitees Mitte 1918 zu verbieten, sich in die Belange der Betriebsleitung einzumischen.
In der Phase des sogenannten Kriegskommunismus – mit seiner Nahrungsmittelkrise, Produktionsausfällen, zurückgehender Arbeitsdisziplin, Absentismus, Diebstahl und der Militarisierung der Arbeit – trat an die Stelle der heroischen Aufbruchstimmung aus den Revolutionszeiten Teilnahmslosigkeit und Resignation.
In einzelnen Orten und Fabriken blieben die ArbeiterInnen bis Mitte der 20 er Jahre jedoch hartnäckig. Die Komitees existierten trotz des Verbots in einigen Fabriken Petrograds weiter und die Betriebsleitung konnte nichts gegen das Votum der Arbeiterinnen durchsetzen.
Zusammenfassend: Die emanzipatorischen Ansätze von Selbstorganisation, die sich nach der Februarrevolution schnell ausbreiteten, wurden durch die Bolschewiki abgewürgt. Die kollektive Selbstverwaltung musste bereits nach einem Jahr dem altbekannten Produktionsmodell weichen – mit einer hierarchischen Organisation und Arbeitsteilung nach dem Vorbild der kapitalistischen Fabrik.
Die Führung der leninistischen Avantgardepartei sorgte für diesen Niedergang der russischen Revolution.
2. Wie entstanden die Soldatenräte?
Die 14 Millionen Soldaten kamen zu 4/5 aus dem Bauerntum. Die Offiziere hingegen kamen von den adeligen Gutshöfen oder aus der städtischen Bourgeoisie. Damit reproduzierte sich der alte Klassenkonflikt zwischen den hochnäsigen Offizieren und den Bauern im zaristischen Russland in all seinen Facetten, mit Prügelstrafe und einem unbändigen Hass auf der Seite der Soldaten.
Am Ende der fünf ereignisreichen Tage der Februarrevolution erließ der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendelegierten in Petrograd den berühmten Befehl Nr.1, der die zaristischen Offiziere völlig entmachtete und an deren Stelle die Komitees bzw. Soldatenräte stellte. Sowas Ungeheuerliches gabs in der Geschichte des Militärwesens der Neuzeit noch nie. Die revolutionären Errungenschaften wurden mit einer basisdemokratischen Struktur an die Stelle von Befehl und Gehorsam verankert. Nachdem der Zar am vierten Tag der Revolution auf die Demonstrantinnen hatte schießen lassen und es über 150 Tote gab, revoltierten in der Nacht einzelne Kompanien und Regimenter. Sie setzten ihre Offiziere ab, wählten die ersten Soldatenräte und übergaben am nächsten Morgen ihre Waffen den Arbeitern.
Der Befehl Nr.1, hier ein paar Auszüge:
„1. In allen Kompanien, Bataillonen, Regimentern, Batterien, Schwadronen, in allen Dienststellen der verschiedenen militärischen Verwaltungen sowie auf den Schiffen der Kriegsflotte sind unverzüglich Komitees aus gewählten Vertretern der Mannschaften der oben aufgezählten Truppenteile zu wählen.
2. (…)
3. In allen politischen Angelegenheiten untersteht jeder Truppenteil dem Sowjet der Arbeiter- und Soldatendelegierten und seinen Komitees.
4. Die Befehle der militärischen Kommission der Reichsduma sind nur in den Fällen auszuführen, wenn sie zu den Befehlen und Beschlüssen des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendelegierten nicht in Widerspruch stehen.
5. Alle Arten von Waffen, wie Gewehre, Maschinengewehre, Panzerautos usw., müssen sich in den Händen und unter Kontrolle der Kompanie- und Bataillonskomitees befinden und dürfen unter keinen Umständen den Offizieren ausgeliefert werden, auch wenn sie dies verlangen.
6. (…) Der militärische Gruß außerhalb des Dienstes wird abgeschafft.
7. Ebenso wird das Titulieren der Offiziere: Exzellenz, Wohlgeboren usw. abgeschafft und durch Wendungen wie: Herr General usw. ersetzt. Grobes Verhalten, unter anderem das Duzen gegenüber den Soldaten wird verboten.“
Ein paar Tage nach Bekanntgabe des Befehls wurde eine weitere zentrale Forderung der Soldaten erfüllt und in der Armee die Todesstrafe abgeschafft.
Trotzki erklärt in seiner ‚Geschichte der russischen Revolution‘ von 1932 für die baltische Flotte den Hintergrund, warum es zur Bildung von Soldatenräten kam:
„Die Existenzbedingungen der Kriegsflotte bargen in viel höherem Maße als die der Armee ständig lebendige Keime des Bürgerkrieges in sich. Das Leben der Matrosen in den Stahlkisten, in die man sie gewaltsam für einige Jahre hineinpferchte, unterschied sich sogar in der Verpflegung wenig vom Leben der Zuchthäusler. Und daneben die Offiziere, meist aus privilegierten Kreisen, die den Seedienst freiwillig zu ihrem Beruf erwählt hatten, das Vaterland mit dem Zaren, den Zaren mit sich identifizierten und im Matrosen den wertlosesten Bestandteil des Kriegsschiffes erblickten. Zwei einander fremde Welten lebten in enger Berührung, ohne einander aus den Augen zu lassen. Die Schiffe der Flotte hatten ihren Standort in industriellen Hafenstädten mit großer Arbeiterzahl, die für Bau und Reparaturen der Schiffe notwendig war. Dazu gab es unter dem Maschinenpersonal und dem technischen Dienst auf den Schiffen selbst nicht wenig qualifizierte Arbeiter. Das waren die Bedingungen, die die Kriegsflotte in eine revolutionäre Mine verwandelten. In den Umwälzungen und militärischen Aufständen aller Länder bildeten die Matrosen den explosivsten Stoff; fast stets pflegten sie bei der ersten Gelegenheit mit ihren Offizieren grausam abzurechnen. Die russischen Matrosen bildeten keine Ausnahme.
In Kronstadt war die Umwälzung von einem blutigen Racheausbruch gegen die Kommandeure begleitet, die aus Entsetzen vor der eigenen Vergangenheit versucht hatten, die Revolution vor den Matrosen zu verbergen. Als eines der ersten Opfer fiel der Flottenkommandierende, Admiral Wieren, der wohlverdienten Hass genoss. Ein Teil des Kommandobestandes wurde von den Matrosen verhaftet. Die in Freiheit belassenen Offiziere wurden entwaffnet.
In Helsingfors und Sweaborg ließ Admiral Nepenin bis zur Nacht des 4. März keine Nachrichten aus dem aufständischen Petrograd durch und bedrohte Matrosen und Soldaten mit Repressalien. Um so wütender entbrannte hier der Aufstand, der einen Tag und eine Nacht dauerte. Viele Offiziere wurden verhaftet. Die Verhasstesten ließ man unter dem Eis schwimmen.
Aber auch bei den Landtruppen blieb es nicht ohne blutige Abrechnung, die sich in einigen Zwischenräumen abspielte. Anfangs war es Rache für die Vergangenheit, für die niederträchtigen Peinigungen der Soldaten. An Erinnerungen, brennend wie Wunden, bestand kein Mangel. Seit 1915 war in der zaristischen Armee offiziell die Disziplinarstrafe der Auspeitschung eingeführt. Die Offiziere ließen eigenmächtig Soldaten, nicht selten Familienväter, auspeitschen.“ (Trotzki,164)
Trotzki beendet diese Schilderung mit einem Loblied auf die Soldatenräte, wohlgemerkt, er schreibt das 1932: „Überhaupt waren die Soldaten in Fragen, die sie begreifen konnten, linker gestimmt als die radikalsten der radikalen Bolschewiki. Dasselbe meinte auch Lenin, als er sagte, die Massen seien ‚an die hundert Mal linker als wir‘“.
Der Befehl Nr. 1 wurde längst nicht in allen Kompanien und Divisionen unter den 14 Millionen Soldaten umgesetzt. Wie mit vielen anderen Verordnungen der obersten Sowjetorgane dauerte es manchmal Monate bis die Dekrete in der Weite Russlands bei den entsprechenden Stellen angekommen waren.
Nach dem Frieden von Brest-Litowsk im März 1918 begann Trotzki mit dem Aufbau der Roten Armee. Und als eine der ersten Maßnahmen wurde das Wahlrecht der Offiziere wieder abgeschafft und massenhaft zaristische Offiziere per Befehl von oben den Soldaten vor die Nase gesetzt. Das ging nicht überall reibungslos. Besonders die baltische Flotte revoltierte wie im Sommer 1918 wiederholt gegen die Befehle von Trotzki und seiner Kommandeure.
Wir sollten im Auge behalten, dass die große Mehrheit der Matrosen und Soldaten Bauernsoldaten waren, und immer die Verbindung zu ihren Dörfern, auch während des Krieges, aufrecht erhielten.
3. Die Revolution auf dem Land und die Rolle der Dorfversammlung
„Frieden, Land und Freiheit“ – diese Parolen aus den Februartagen nahmen die Bäuerinnen beim Wort und traten schon im Frühjahr in Aktion. Mehr als 85% der über 120 Millionen Russinnen und andere Nationalitäten lebten auf dem Lande. Russland war ein Agrarland, das erst Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Leibeigenschaft entlassen wurde. Die Haltung der ehemaligen Feudalherrn blieb aber bis 1917 die gleiche. Die adeligen Gutsherrn hatten die absolute Macht, inklusive Prügelstrafe und Wucherpachtzinsen. Der einfache Bauer war ein Nichts.
Allerdings gab es einen Widerstandshort, das war die Dorfversammlung, die obscina. Hier hatten alle, die das Land bearbeiteten, gleiche Rechte. Es gab kein Privateigentum. Aber eine fest gefügte patriarchale Ordnung.
Und diese obscina wurde zum eigentlichen Zentrum der Revolution auf dem Lande. Die überregionalen Bauernversammlungen hatten mehrfach Eingaben an die Duma und den obersten Sowjet gestellt, endlich Gesetze zur Landumverteilung zu erlassen. Aber auch die bei den Bäuerinnen äußerst beliebte Sozialrevolutionäre Partei scheute sich, entsprechende Dekrete in der Duma zu verabschieden. Die Bäuerinnen wurden im Stich gelassen. Sie nahmen das Gesetz des Handelns selbst in die Hand. Orlando Figes schildert das so:
„Zu einer vorbestimmten Zeit läuteten die Kirchenglocken, und die Bauern versammelten sich mit ihren Karren mitten im Dorf. Dann fuhren sie in Richtung Herrenhäuser los wie eine Bauernarmee, bewaffnet mit Gewehren, Mistgabeln, Äxten, Sicheln und Spaten. Der Gutsbesitzer und seine Verwalter wurden, wenn sie nicht schon geflohen waren, verhaftet oder zumindest gezwungen, eine Resolution zu unterzeichnen, die alle Forderungen der Bauern erfüllte. Im Frühjahr (1917) waren diese Forderungen in der Regel noch ziemlich maßvoll: eine Senkung des Pachtzinses, die Neuverteilung der Kriegsgefangenenarbeit, der obligatorische Verkauf von Getreide, Werkzeug und Vieh an die Gemeinde zu Preisen, die den Bauern als »fair« galten.“
Im Verlaufe des Sommers radikalisierten sich die Aktionen und Forderungen. Jetzt ging es um die Aneignung der kirchlichen und adeligen Wälder und überhaupt um die Enteignung des Großgrundbesitzes, aber auch etlicher Kulaken. Immer mehr Soldaten desertierten von der Front und stellten sich an die Spitze der Revolte. Millionen Hektar wurden umverteilt – aber ganz wichtig – nicht privatisiert, sondern in das Gemeineigentum der obscina überführt. Die Aufteilung richtete sich vornehmlich nach der Familiengröße.
Nach dem Oktoberaufstand hatten jetzt die Gemeindekomitees, auf dem Lande gab es kaum Sowjets, das absolute Sagen. Trotzki zitiert die Klage eines bolschewistischen Kommissars: „‘Unter der hiesigen Bauernschaft‘, meldet der Nischegoroder Kommissar, ‘hat sich der Glaube gefestigt, alle bürgerlichen Gesetze hätten ihre Kraft verloren und alle Rechtsbegriffe müssten jetzt durch die Bauernorganisationen reguliert werden.‘ Die örtliche Miliz zu ihrer Verfügung, erließen die Gemeindekomitees lokale Gesetze, bestimmten Pachtpreise, regulierten den Arbeitslohn, setzten eigene Verwalter auf den Gütern ein, nahmen Boden, Wiesen, Wälder, Inventar in eigene Hand, holten dem Gutsbesitzer die Waffen weg, nahmen Haussuchungen und Verhaftungen vor. Die Stimme der Jahrhunderte und die frische Revolutionserfahrung sagten dem Bauern in gleicher Weise, dass die Bodenfrage die Frage der Macht sei.“
Aus Platzgründen kann ich an dieser Stelle nur erwähnen, dass in Teilen der Ukraine, in den von der anarchistischen Machnobewegung befreiten Gebieten, zwischen 1918 und 1920 tatsächlich sowas wie bäuerliche Landkommunen aufgebaut wurden; also Strukturen entwickelt, die deutlich über die obscina hinausgingen.
Die Bolschewiki um Lenin und Trotzki zerschlugen die Machnoarmee und verkannten den egalitären Einfluss der obscina. Stattdessen überhöhten sie die Macht der Kulaken, der Mittelbauern. Heute wissen wir, deren Zahl und Einfluss war wesentlich geringer. Im Zuge der Getreidekrise 1918 propagierte Lenin den Klassenkampf gegen die Kulaken durch die Landarbeiter und die Dorfarmut. Der Kulak wurde als Feind der Revolution schlechthin hochstilisiert.
Doch Lenins Konzept scheiterte auf ganzer Linie. Zwar gewannen die von den Bolschewiki beherrschten ländlichen Sowjets im Verlaufe des Bürgerkrieges einerseits an Einfluss, weil die Bäuerinnen die Rücknahme der Bodenumverteilung durch die Weißgardisten noch mehr fürchteten als die Roten Garden.
Andererseits waren die Dorfsowjets nach Auflösung der Komitees Ende 1918 unter den Bäuerinnen stark diskreditiert, weil die Bolschewiki im Zuge der Getreiderequirierungen die ländlichen Sowjets zwangen mit den roten Garden zusammenzuarbeiten. „Für Jahre hinaus verharrte die Bauernschaft in ihrem Misstrauen gegen die Sowjets, die sie mit Recht als Instrumente der kommunistischen Partei betrachtete“, so Oskar Anweiler.
Während des Kriegskommunismus gingen alle anfänglichen revolutionären Errungenschaften den Bach runter. Begleitet von einer bevormundenden Bürokratie der Sowjets, unglaublicher Gewalt durch die Roten Garden bei ihren Raubzügen durch die Dörfer, einer millionenfachen Hungermigration zurück auf das Land und einem ausgeprägten Schwarzhandel – das gesamte Konzept der leninistischen Revolution stand auf der Kippe. „Gegenüber den Bauern haben wir schwer gesündigt“ räumte Lenin 1919 ein.
Die Bolschewiki hatten nicht nur gegenüber den Bäuerinnen „gesündigt“. Sie hatten im Laufe des Bürgerkrieges die Macht der Sowjets soweit zurückgedrängt, dass sie zu reinen Akklamationsorganen der von der bolschewistischen Parteibürokratie vorgefertigten Beschlüsse verkommen waren. Laut der Verfassung von 1918 waren die in der Revolution spontan entstandenen Räte zur gesetzgeberischen Staatsgewalt in der Union der Sowjets „aufgestiegen“. Aber schon 1918 gab es keine unabhängigen und freien Wahlen mehr zu den Sowjets. In Petrograd wurde den Bolschewiki Wahlbetrug nachgewiesen und andernorts fanden diese Wahlen oft gar nicht statt, sondern das örtliche Exekutivkomitee der Sowjets wurde von oben einfach eingesetzt, natürlich mit verlässlichen Bolschewiki. Oskar Anweiler konstatierte nüchtern: „Die Verfassungsartikel verdeckten die eigentliche Realität des sowjetischen Staates.“
Nach Ende des Bürgerkrieges 1920 kam es zu einer riesigen neuen Welle von 165 Bauernaufständen in ganz Russland. Der berühmteste war der Tambower Aufstand mit 15.000 Bäuerinnen unter Waffen. Überall erscholl der Ruf nach freien Wahlen der Sowjets. Dann kam die Massenstreikbewegung im Frühjahr 1921 mit Kronstadt als ihrem Höhepunkt. Die Bolschewiki hatten keine Basisanbindung mehr und waren zu einem diktatorischen Machtapparat verkommen.
Auch die linken Kommunisten um Bucharin und später die „Arbeiteropposition“ stellten die alleinige Vorherrschaft der Bolschewiki in den Sowjets nicht in Frage. Kein namhafter Bolschewiki setzte sich für eine Mehrparteienpräsenz in den Sowjets nach dem Verbot der Sozialrevolutionäre im Sommer 1918 ein. Alle einte der Glaubenssatz, dass in der Partei der Bolschewiki die revolutionäre Klasse sich organisiert und die Diktatur der Klasse durch die Partei somit die logische Folge sei.
Auf dem 10. Parteitag der Bolschewiki im März 1921 wurde auch die innerparteiliche Opposition gegen die Diktatur der Partei über die Sowjets, über die Klasse, zu Grabe getragen. Mit dem Fraktionsverbot gegenüber der Gruppe der „Arbeiteropposition“ um Alexandra Kollontai räumten Lenin und Trotzki entscheidende Hindernisse für den späteren Aufstieg Stalins aus dem Weg.