Kultur

Durchboxen in Deutschland

„Gipsy Queen“ (Österreich/Dt. 2020) Buch und Regie: Hüseyn Tabak

Von Angelika Nguyen

Die Geschichte beginnt irgendwo in Rumänien, außerhalb unserer Komfortzone: die junge Roma-Frau Ali Georghiu kriegt allein ein Kind in einer Küche, sie beißt in den Tisch vor Schmerzen, sie brüllt ihre kleine Tochter an, die sich daraufhin schnell in ihr Zimmer verzieht. Später, mit dem Baby im Arm und der Tochter an der Hand, wird Ali dann vom Vater aus der Gemeinde verstoßen.

Ali reist mit den Kindern nach Hamburg, kommt als Mitmieterin in der kleinen Wohnung der arbeitslosen Schauspielerin Mary unter, wartet mit anderen Tagelöhnern auf den Bus, der sie illegal zu einer Baustelle bringt oder räumt und putzt in der berühmt-berüchtigten Hamburger Boxkneipe „Zur Ritze“, deren Motiv auf der Eingangstür eher ein Bordell vermuten lässt. So hält sich Ali mit den Kindern über Wasser. An den Vater und die anderen in Rumänien zu denken, hat sie gar keine Zeit. Im Keller der „Ritze“ wird beim Anblick des dortigen Boxrings dann doch ihre Erinnerung an früher wach. Sie denkt an eine Hochzeit in ihrer Roma-Gemeinde, als sie noch ein Kind war und der Vater vor allen Feiernden statt die Zukunft des Brautpaars eher die der kleinen Ali beschwört.

Die Welt der Roma-Gemeinde in Rumänien wird kurz lebendig, vor allem die Rede des Vaters: „Ich habe Ali nicht für einen Ehemann großgezogen, sondern für uns alle. Für uns Roma, um uns stolz zu machen“ in Anspielung auf Alis Boxtalent. Was zunächst wie eine Befreiung des Mädchens aus alten Traditionen scheint, ist jedoch auch ein enormer Druck, den der Vater seiner Tochter mitgibt – mehr noch: Ali soll als Boxerin die Gesellschaft politisch aufmischen: „Im Leben spielen wir das Spiel der Weißen da draußen, im Ring hingegen spielen wir unser Spiel.“ In den Worten des Vaters schwingt viel Sendungsbewusstsein, und die Szene mit der Tochter im Ring ist allzu pathetisch geraten. Der Name Ali, das wissen wir jetzt, ist Programm. Durch alte Zeitungsausschnitte erfährt Mitbewohnerin Mary, dass Ali mal Junior-Europameisterin war, und sie staunt.

Tanne, der „Ritze“-Boxtrainer, der sie eines Nachts unten wütend in den Boxsack hauen hört, stellt Ali einem Manager vor und trainiert sie fortan. Alles scheint gut zu gehen. Die Geschichte von der armen Romni, die es im reichen Deutschland durch Fleiß und Ausdauer zu etwas bringt, hat natürlich genug Stoff zum Drama. Rausschmiss aus der schlecht bezahlten Putzkolonne, kein Geld für die Klassenfahrt der Tochter, Polizei-Razzien auf der Baustelle. Dann das Schlimmste, die Kinder werden ihr weggenommen, weil sie sie nachts wegen der Arbeit alleine ließ und sie draußen aufgegriffen wurden. Das große Haus der Pflegefamilie, in guter Lage an der Alster, sieht Ali nur von weitem, hinter einem Baum versteckt. Die Bedingungen, unter denen Ali die Kinder wiederbekommen kann, scheinen unerfüllbar. Ab diesem Punkt versandet die Geschichte etwas. Aber die ganze Haltung des Films, seine Machart und sein Grundton machen solche Schwächen wett. Der Stil ist ungewöhnlich in der deutschen Filmlandschaft, rau und hart und irgendwie unberechenbar. Was kommt als Nächstes, fragt man sich im Angesicht der finster blickenden Heldin, die von einer aussichtslosen Lage in die nächste gerät.

Die Besetzung der Hauptfigur mit der rumänischen Schauspielerin Alina Șerban, selber Romni und Aktivistin für die Rechte der Roma, ist ein Glücksfall für den Film, über weite Teile trägt sie ihn mit ihrem scheinbar immer gleich unbewegten Gesicht, das jedoch sehr fein die verschiedenen Stimmungen von Ali widerspiegelt. Sorge, Schmerz, sehr selten Freude und vor allem Zorn. Zorn auf die Umstände, unter denen sie leben muss, auf den Vater, der sie allein ließ, auf ihre Tochter, als die einmal, selbst in Not, eine Jacke im Kaufhaus klaut: „Du machst genau das, was die Deutschen von uns erwarten!“ Mit dabei Tobias Moretti als hartgesottener, aber sensibler Boxtrainer und quasi Ersatzvater. Und noch zwei stechen durch ihr Spiel heraus: das sind Sarah Carcamo Vallejos als Alis Tochter Esmeralda, die viel Schwieriges zu spielen hat und der kleine Aslan Yilmaz Tabak als Alis Sohn Mateo. Selten werden Kinder, Talent vorausgesetzt, in deutschen Filmen und TV-Stücken so angeleitet, dass sie die Gefühle ihrer Figuren glaubhaft zeigen können. Regisseur Hüseyin Tabak hat sich offensichtlich Zeit für die beiden genommen. Das ist wichtig, weil die Dramen der kleinen Familie der eigentliche Mittelpunkt sind, weniger die Boxkämpfe der Mutter.

Filmplakat

Sowieso ist „Gipsy Queen“ nicht der klassische Boxerfilm, in dem das Streben nach dem Sieg als Selbstüberwindung gezeigt wird, mit „Sei du selbst“ und „Du schaffst das“- Mantra, sondern viel mehr boxt Ali, um den Vertrag zu bekommen, der ihr und den Kindern eine gute Existenz in Deutschland sichert. Sie boxt für Essen und Miete und Kleidung und Klassenfahrten. Das ist der Unterschied zu den Männern, die sich in bekannten Hollywood-Filmen durchboxten (Marlon Brando, Robert de Niro, Will Smith), aber auch zu der einen Frau, die tragisch endet (Hilary Swank in „Million Dollar Baby“).

Vielleicht ist es hier die andere Motivation, mit der eine Boxgeschichte erzählt wird. Der deutsche Regisseur kurdischer Herkunft, Hüseyin Tabak, hatte beim Schreiben die Geschichte seiner eigenen Mutter vor Augen, die als 9-Jährige aus der Türkei nach Deutschland verfrachtet wurde und nicht zur Schule gehen durfte, weil sie auf ihre Geschwister aufpassen musste, sich selbst deutsches Lesen und Schreiben beibrachte und inzwischen eine eigene Firma leitet.

Das hier ist ein Boxdrama, das nur unter anderem vom Kampf im Ring erzählt, vor allem aber von einer Romni, die quer durch Europa mit zwei kleinen Kindern nach Hamburg kam, um überhaupt eine Zukunft zu haben. So erfahren wir auch nicht wirklich den Schluss des letzten Kampfes, wir ahnen ihn nur.