Kultur

Familienbildnis

„Lebenszeichen. Jüdischsein in Berlin“ (Dt. 2018) von Alexa Karolinski im Salzgeber-Club

Von Angelika Nguyen

Foto: Copyright Salzgeber Club

Tellerklappern sind die ersten Geräusche. Eine Frau, ganz in Schwarz gekleidet, deckt den großen Esstisch in einem Haus in Berlin. Das macht sie ganz in Ruhe, beobachtet von ihrer Tochter, die hinter der Kamera steht. Kerzenleuchter in einer Reihe, schweres Silberbesteck, gutes Porzellan. Immer wieder zupft die Frau an Kleinigkeiten, bis alles für die stimmt. Jeder Zoll Gediegenheit. Im Off erklingt die Stimme von ihr, Annie Karolinski Donig, sie erzählt der Tochter Alexa von früher, von ihrer jüdischen Familie in Kanada, wohin ihre Eltern – Alexas Großeltern – einst aus Polen geflüchtet waren, und es hätte extra keine deutschen Produkte bei ihnen gegeben – und dass sie sich dann ausgerechnet in einen deutschen Juden verliebte. „Dein Papa“ sagt die Mutter.

Der Film wechselt episodisch zu anderen Orten in Berlin und zu Menschen mit Berlin in ihrer Biographie. Zum „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ zum Beispiel, dem grauen Stelenfeld in der Nähe des Brandenburger Tors. Man sieht es von innen und von weitem, dass es wie ein wogendes steinernes Meer aussieht. Die Regisseurin fragt zwei französische Geschwister nach ihrem Eindruck von dem Denkmal. Wie ein Friedhof mit Geistern, sagt das Mädchen. Wie der Übergang zwischen zwei Welten, sagt der Junge.

Oder zu Besuch bei dem Historiker Stefan Zielinski, während er in seinem Privatarchiv nach Dokumenten sucht. Er nennt es „An-Archiv“ und sagt, dass er das Suchen mag, es gehört für ihn zur Arbeit selbst. Er sucht sich immer alles wieder „neu zusammen“, denn was sei Geschichtsschreibung denn sonst, als sie sich immer wieder neu zusammen zu suchen. Geschichte sei nichts Objektives, was ein für alle Mal so und nicht anders sei. Der Historiker gibt eine kurze eindrückliche Abhandlung über die deutsche Medien-Reflektion des Holocaust oder auch der Shoa, ein von Deutschen begangenes Verbrechen, für das es bezeichnenderweise bis heute kein passendes deutsches Wort gibt.

Alexa Karolinski, in Wilmersdorf geboren, wandert als Regisseurin und Kamerafrau im Westen Berlins umher, landet am Wannsee, im berühmten Garten der Villa des Malers Max Liebermann, wo freiwillige Gärtnerinnen die Anlage pflegen. Mit ihnen redet sie ein bisschen, ist bei ihnen in der Sonne zwischen den Pflanzen, um am Ende die Gedenktafel für Max Liebermann zu zeigen. Max Liebermann, der jüdische Urberliner, der als alter Mann noch den Fackelzug der Nazis 1933 von seinem Privatfenster im Pariser Palais aus erleben musste und fortan „nicht mehr aus dem Fenster dieser Zimmer“ sehen wollte.

Karolinski könnte das Thema „Jüdisches Leben in Berlin“ weit öffnen, aber sie bleibt meistens in ihrem vertrauten Umkreis, ihrem persönlichen Mikrokosmos. Damit schafft sie eine Art Familienbildnis. Mit der Mutter spricht sie über deren einstigen Irrtum, die Weihnachtsleuchter in den deutschen Fenstern seien Chanukka-Leuchter, mit ihrem Bruder David über das Deutschland-Lied, jüdisches Aussehen, jüdische Zugehörigkeitsgefühle. Sie beobachtet, wie am Bahnhof Friedrichstraße das Ehepaar Michalski sorgfältig ein Figuren-Denkmal abwäscht, fegt, aufräumt. Es ist ein Denkmal für die jüdischen Kindertransporte in der Nazizeit –für die wenigen Geretteten nach England und für die vielen Ermordeten in die Vernichtungslager. Es ist eine pragmatische kleine Demo da alle Tage in der Friedrichstraße, von den vorbei strömenden Menschen kaum beachtet. Karolinski besucht auch eine Bekannte aus der Jüdischen Gemeinde, Evelyn Gutman, die als Kind in den Luftschutzbunkern von Berlin, ganz im Dunkeln überlebte und jetzt immer in allen Zimmern die Lampen brennen lässt. Mit einer guten Freundin spricht die Regisseurin über ihre eigene Empfindlichkeit gegen gusseiserne Eingangsbögen mit Schrift. Und mit einer befreundeten Professorin über deutsche Konzentrationslager. Die „Expertisen“ sind familiärer Natur. Einen herausragenden filmischen Platz bekommt Pedro Donig, der Mann von Karolinskis Mutter, Alexas Stiefvater, der an Demenz erkrankt ist. Abwesend bleibt der leibliche Vater, der nur erwähnt wird.

Das jeweilige persönliche Verhältnis der Regisseurin zu ihren Protagonistinnen und Protagonisten bestimmt die Art, wie sie sie filmt, wie sie mit ihnen redet oder schweigt. Das war schon in „Oma und Bella“ (2012) so, Karolinskis gelungenem Debütfilm über ihre Oma und deren beste Freundin, wo die Regisseurin außer als Filmemacherin auch als Enkelin fungierte, als „Alexale“, wie ihre Oma sie in der jiddischen Verkleinerungsform nennt.

In „Lebenszeichen“ sind die sozialen Rollen der Regisseurin vielfältiger, sie ist Tochter, Stieftochter, Schwester, Freundin, Schülerin, Interviewerin, Dokumentaristin. Die Erzählungen der Mutter werden nicht gefilmt, sondern als Tonspur montiert, während die Mutter mit der Vorbereitung des Festmahls beschäftigt ist, sie sieht nie zu ihrer Tochter hinter der Kamera hin, der Bruder wiederum sitzt nah bei Karolinski auf dem Balkon, die Freundin etwas weiter weg, während sie über jüdische und nichtjüdische Wahrnehmungen diskutieren. In der Mutter eines Freundes dagegen, Professorin für „Holocaustforschung“, sieht die Regisseurin offenbar eine uneingeschränkte Autorität. Mit ihr erörtert sie die Frage, „in welchem Konzentrationslager“ Alexa inhaftiert gewesen wäre, Sachsenhausen, Auschwitz, Ravensbrück? Da kehrt die Ältere die Lehrerin heraus – wie sie selbst zugibt. Ihre absolute Aussage, jüdische Gefangene seien „niemals nach Ravensbrück“ gekommen, sondern immer nur nach „Auschwitz, Riga“ und so, ist jedoch mindestens durch das Schicksal des Schriftstellers Jurek Becker und seiner Mutter widerlegt, die als zwei von ca. 3 000 vom Ghetto Litzmannstadt direkt nach Ravensbrück gebracht wurden, was allerdings als „Privileg“ galt. Aber wie wichtig ist das hier? Es ging Alexa Karolinski doch wohl eher um das Gefühl, das sie als Besucherin der Gedenkstätte KZ Sachsenhausen hatte: zu anderen Zeiten wäre sie selbst in einem Nazilager gefangen gewesen, bedroht, ermordet worden.

Und nicht zuletzt gibt es ein Wiedersehen mit Regina Karolinski , der über 90jährigen Oma von Alexa, die man nach dem ersten Film begrüßt wie eine alte Bekannte. Sie hat gerade Physiotherapie mit einem polnisch sprechenden Therapeuten, ein kleiner Tanz nach einem polnischen Scherzlied, das sie sogar kurz mitsingt.

Alexa Karolinski hat großes filmisches Gespür. Man spürt sie hinter der Kamera, ihre Perspektive. Sie achtet genau auf die Gestaltung von Filmzeit, die Dauer einer Einstellung, einer Sequenz. Sie weiß, wann geredet werden kann und wann nicht. Sie macht die unheilbare Krankheit ihres Stiefvaters in einer bewegenden Sequenz der immer gleichen täglichen Handgriffe erlebbar, indem sie ihm seine Zeit lässt. Sie sieht den ziehenden Wolken über Berlin nach, schwenkt schmucke Altbau-Fassaden in City West ab bis hin zum Fußweg-Pflaster, wo golden glänzend die Stolpersteine eingelassen sind. Sie macht aus dem einstigen kulturellen Missverständnis ihrer Mutter ein filmisches Erlebnis, indem sie viele diverse Weihnachtsleuchter im abendlichen Berlin in langer Abfolge feierlich vorführt, verweist fast nebenher auf den jüdischen Ursprung des Christentums.

Am Schluss ist der Tisch für das Rosh-Hashanah-Fest gedeckt. Die Gäste können kommen. Die Wärme eines jüdischen Zuhauses, sagt die Mutter zur Tochter, habe sie erst hier in Berlin kennengelernt.

Hinweis:

Der Film „Lebenszeichen“ ist in einer Reihe von Dokumentationen zum „Jüdischen Juni“, in dem auch Anne Franks Geburtstag liegt, im Salzgeber Club als Video On Demand zu sehen.