Kultur

Abschied via Skype, Kohlenschleppen in Kreuzberg, Eifersucht in Lissabon

12. Berlin-Film-Festival 13. – 20. April 2016

Von Angelika Nguyen

Ein Spielautomatenknacker mit desolater Familie, ein traumatisierter deutscher Lehrer, ein Mädchen mit Schussverletzung aus Zentralafrika, ein Ex-Jugoslawe mit vier Pässen, ein aus Berlin stammender englischer Rabbi, ein kubanischer Video-Filmer, ein tapferer Kohlenhändler, Geflüchtete des Herbstes 2015, ein krankhaft eifersüchtiger Arzt, Ex-Models. – Eine bunte Mischung von Film-Figuren bevölkern wieder die Kinos des Berlin-Filmfestivals.
Das Festival – mit Wettbewerben für diverse Filmformate und anderen Sektionen – hat sich gut etabliert in den letzten Jahren und erfreut sich guter Besuchszahlen. So unterschiedlich wie die Themen der Filme sind auch die Sorgen der Protagonistinnen und Protagonisten: Während im Westen oft Beziehungsprobleme, Einsamkeit, Psychologie und Sinnkrisen im Vordergrund stehen, sind Geschichten aus dem anderen Teil der Welt, die sich auch in Berlin abspielen können, geprägt von existenzielleren Erfahrungen wie Bomben im Balkankrieg, Überfälle kongolesischer Rebellen auf zentralafrikanische Dorfbewohner, Hunger, Entwurzelung, Flucht. Dass man als Besucher diese globalen Gegensätze im Stundentakt und mit immer neuen Geschichten erleben kann, ist einer der Reize des Festivals.
Eine Quizfrage ist zuweilen: was hat DAS mit Berlin zu tun? Die Regisseurin Jules Hermann, deren Film „Liebmann“ in Frankreich spielt, konnte die Frage selbst nicht beantworten. „Liebmann“, eine Berlinale-Übernahme, erzählt ohne Eile, wie der deutsche Lehrer Antek Liebmann sich in einem kleinen französischen Ort in Frankreich einfindet, Avancen von Männern und Frauen bekommt und die Folgen eines Amoklaufs in seiner Schule mit sich herumträgt. Godehard Giese, Preisträger vom letzten Jahr, trägt mit seiner zurückhaltenden Darstellung den Film und tröstet über manche Schwächen der Inszenierung – unter anderem eine allzu künstliche „Bewältigung“ des Amoklaufs – hinweg.
„Fado“ ist die spannende Eifersuchtsgeschichte des deutschen Paares Fa-bian und Do-ro (intensiv: Golo Euler und Luise Heyer) in Lissabon, die scheinbar konventionell beginnt und dann aber Tiefe bekommt, durch ein Bildmotiv vom Meer, das dem Haupthelden immer wieder begegnet. Konsequent schreiten die Folgen der Eifersucht von Fabian fort, bis zur endgültigen Eskalation. Regisseur Jonas Rothlaender lotet die filmische Sprache für seine Erzählung aus und fällt damit auf in einer Reihe eher konventioneller Inszenierungen. Die Metapher von der Riesenwelle, die alles Bestehende mit sich in den Abgrund reißt, funktioniert in diesem Film, der Phantasie und Realität nach dem subjektiven Erleben von Fabian psycho-logisch durcheinanderbringt.
Beeindruckender als die meisten erfundenen Geschichten jedoch waren reale Menschen in den Dokumentarfilmen: In „Arlette, Mut ist ein Muskel“ erlebt man die noch sehr kindliche 15jährige Arlette aus einem Kriegsgebiet in Zentralafrika, deren Schussverletzung in der Berliner Charité behandelt wird und die bei einem neuen Ausbruch der Gewalt in ihrer Region kurzerhand von ihrer Mutter via Skype verabschiedet wird mit den Sätzen: „Komm nicht zurück, in Deutschland bist du sicher.“ Kindertränen vor dem Laptop. Der Film ist Resultat einer langen Beziehung des aktivistischen Regisseurs Florian Hoffmann zu Arlette, die er zufällig in ihrem Heimatdorf kennenlernte und deren rettende medizinische Behandlung er mit organisierte. Auch nach dem Film, erfuhr man im Gespräch, dauerte der Kontakt zwischen Filmemacher und der Protagonistin fort.
Zum Thema Flucht gibt es noch den hochaktuellen kollektiven Dokumentarfilm „Fluchtrecherchen“, wo 11 Filmemacher ihre Beobachtungen, Gedanken, Visionen, Bilder, Assoziationen vom Herbst 2015 in 11 Kurzgeschichten skizzierten, deren Drehorte von Berlin bis Lesbos reichen.
Das anderthalbstündige Porträt von „Rabbi Wolff“, der schon in „Im Himmel, unter der Erde“ von Britta Wauer auftauchte, folgt der Spur eines charmanten alten Mannes, der, 1927 in Berlin als Wilhelm Wolff geboren, nun schon lange als William Wolff in England zu Hause ist und als Landesrabbiner von Mecklenburg-Vorpommern mit den russischen Juden dort nicht warm wurde. Mit seiner gekonnten Erzählart fällt Wauers Porträt schon beinahe ein bisschen zu schön aus.
Eine sehr besondere Sicht auf das wahrscheinlich bald vergangene Kuba vermittelt der Film „Somos Cuba – Wir sind Kuba“. Kein professionelles Filmteam tauchte da auf und verschwand wieder, sondern der kubanische Gelegenheitsarbeiter Andres filmte sieben Jahre lang mit einer kleinen Videokamera einfach sein direktes Umfeld, eine Kuba-Perspektive von innen, die in dieser Art das erste Mal das Licht der Weltkinos erblicken dürfte, in abendfüllender Länge.
Dauerthema Mieten in Berlin liefert auch diesmal wieder einen Beitrag: den zum Teil komisch-skurril gestalteten Dokumentarfilm „Miete essen Seele auf“, der mit seinem Titel deutlich den Fassbinder –Film zitiert, denn es geht um Widerstand gegen die kulturelle Verdrängung von ärmeren Migrant_innen aus Kreuzberg per steter Mieterhöhung.
Publikumsliebling wurde Ahmed Özdemir, ein türkischstämmiger Kohlenhändler in Berlin-Kreuzberg in „Herkules“, den Regisseur Volker Meyer-Dabisch von 2001 bis 2015 mit der Kamera regelmäßig aufsuchte und so ein Stück von Ahmeds Leben, aber auch der Geschichte türkischer Immigration in Westberlin aufnahm. Der Film lebt vom Charme und der direkten Art Ahmeds, den sein Sohn Oktay einmal als Herkules seiner Kindheit bezeichnet, was dem Film seinen Titel gab. Von Oktay, der selbst als Schauspieler für Kino und Fernsehen arbeitet, kommt auch der Satz „Im deutschen Filmgeschäft ist eine große Kälte.“ Eine bittere Randbemerkung des Festivals.

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