von Jürgen Schneider
Am 17. März ist St. Patrick’s Day, ein Hochfest für Irlands Schutzheiligen. Der heilige Patrick soll dort mal 461, mal 493 jeweils am 17. März das Zeitliche gesegnet haben, nachdem er ab 432 die irischen Heiden zum Christentum bekehrt haben soll. Ihm wurde in Europa schon ab dem 9. Jahrhundert mit Feierlichkeiten gedacht. Seit der Reformation reklamieren die irischen Katholiken Patrick für sich als einen Botschafter Roms, während ihre protestantischen Glaubensbrüder und -schwestern in ihm einen Proto-Protestanten sehen. Das in Grün getauchte, karnevaleske Treiben, mit dem er heute in Irland und in den USA geehrt wird, hat seinen Ursprung in nordamerikanischen Militärparaden des 18. Jahrhunderts, die der Rekrutierung irischer Immigranten dienen sollten.
Als absolute Wundertat Patricks gilt die Vertreibung der Schlangen aus Irland. Religiöse Legende und zoologische Wirklichkeit fügen sich hier zusammen, denn Irland ist wegen des frühzeitigen Abbruchs der Landverbindung zwischen Irland und England frei von Reptilien und Amphibien jeder Art, mit Ausnahme der nicht zu fürchtenden Eidechse und des Wassermolchs.
Wissenschaftler haben die Geschichte von der Schlangenvertreibung schon lange als Mythos gekennzeichnet, wie etwa Dr. Selmar Eckleben, der 1885 in seiner Untersuchung »Die älteste Schilderung vom Fegefeuer des heil. Patricius« schrieb: »Ich möchte die Vertreibung der dem Heiligen widerstrebenden bösen Geister und giftigen Würmer, deren Vertreibung ihm Herzenssache war, für eine allmähliche Mythenbildung erklären und in jenen die Druiden wiedererkennen, die ihm bei der Bekehrung Irlands viel zu schaffen machten.«
Bob Quinn schreibt in seinem Opus »The Atlantean«, in dem er die alten maritimen Verbindungen Irlands untersucht, in Nordafrika hätten einst die Ophiten oder Naasener gewirkt, Angehörige einer Sekte, die der Schlange im Paradies göttliche Natur zuschrieb. Galt also Patricks Zorn dieser Sekte? In seinem Werk »Sacred Drift – Essays on the Margins of Islam« führt der New Yorker ontologische Anarcho Peter Lamborn Wilson alias Hakim Bey aus, die Legende von der Vertreibung der Schlangen aus Irland kaschiere die wirkliche Geschichte – die Vertreibung der Mauren aus Irland. 1929, so Wilson weiter, sei in Chicago der St. Patrick’s Day als »Moorish Tag Day« begangen worden, an dem die »tags« (kleine Schildchen) für wohltätige Zwecke verkauft worden seien.
Viele irische Dichter und Schriftsteller haben sich mit dem hl. Patrick beschäftigt. So auch James Stephens (1882-1950), der vor allem wegen seiner Romane »The Charwoman’s Daughter« (London, Macmillan, 1912) und »The Crock of Gold« (London, Macmillan, 1912; dt. »Der goldene Hort«, übersetzt von Joachim Kalka, Stuttgart, Klett-Cotta, 1985) bekannt wurde. Zu seinen Schriftstellerfreunden gehörte James Joyce, der Stephens ausersah, »Finnegans Wake« zu beenden, sollte er es nicht bewerkstelligen können. In »Finnegans Wake« lässt Joyce den hl. Patrick als »Eurasischen Generalissimo« auftreten. Kein Wunder also, dass James Stephens in seinem Text ›St. Patric‹, eine mit wenig haltbaren Fakten angereicherte Fiktion, China zum Schauplatz der Handlung macht.
St. Patric
James Stephens (1946)
Es ist schon eine ganze Weile her, dass St. Patric unter uns weilte. Er wurde im Jahre 389 geboren und starb der Legende nach im Alter von 123 Jahren. Vor eintausendfünfhundertfünfzig Jahren war er ein kleiner Junge, und es ist bemerkenswert, dass wir nach so langer Zeit überhaupt noch etwas über ihn wissen.
Wir wissen viel; er ist sehr gut dokumentiert: wir verfügen über seine Schriften und Aufzeichnungen von Zeitgenossen. Natürlich hat sich gar manche Legende über ihn gebildet, und es gibt bestimmte Fragen, die immer wieder aufgeworfen werden, aber nicht mehr beantwortet werden können.
Da ist zum Beispiel die Frage nach seiner Nationalität. Einige Gelehrte behaupten, er sei gebürtiger Römer gewesen, was Unsinn ist; einige meinen, er sei Franzose gewesen, was lächerlich ist, und gewisse andere versteifen sich darauf, dass er Engländer gewesen sei, was frevelhaft ist. Es gibt auch ein paar, denen ich am ehesten zustimme, weil sie denken, dass er lediglich und einfach nur ein Ire war.
Wir haben seine Schriften in Latein, was sein Römertum beweisen könnte, wäre da nicht die Tatsache, dass dieses Latein barbarisch schlecht war. Wir verfügen indes über kein einziges von ihm überliefertes französisches oder altenglisches Wort: wäre er in einem dieser beiden Länder geboren worden, hätte das ein oder andere Wort ihrer Sprache Eingang in seinen Wortschatz gefunden. Auf Irisch schrieb er freilich recht viel, und sein Irisch ist perfekt: bog-Irish ist etwas ganz anderes als bog-Latin, und dies erinnert mich an die feine Geschichte von einem gewissen Papst, der nie sein Brevier öffnete, weil er Angst hatte, er könnte sich sein Latein ruinieren.
Es stellt sich auch die Frage, woher sein Name Patric stammt. Zu seinen Lebzeiten war dies kein Name, sondern ein vom Senat verliehener Titel, der so viel bedeutete wie Graf oder Marquis. Dieser Titel wurde von der Kirche erst ein paar hundert Jahre nach Patrics Tod verliehen. Auf seinem Grabstein steht patric. Wäre er Franzose oder Engländer gewesen und hätte diesen Titel getragen, wäre er sehr schnell wegen lèse-majesté im Kerker gelandet. Kein römischer Soldat hat jemals einen Fuß auf irischen Boden gesetzt, so dass ein Ire ihnen einen ihrer Titel klauen konnte, wenn er es wollte.
Nun ist St. Patric’s Day, und ich möchte Ihnen zwei Geschichten erzählen. Ich weiß nicht mehr, woher ich sie habe. Irgendjemand hat sie mir vor vielen Jahren erzählt, gedruckt habe ich sie nie gesehen, sie gefielen mir aber so gut, dass ich sie nicht vergessen habe. Laut der alten Geschichte versuchte St. Patric zuerst an der Ostküste an Land zu gehen, ganz in der Nähe von Dublin, jenseits des Hügels von Howth, sei aber von den Bewohnern verjagt worden, nach Norden gesegelt und habe in Ulster an Land gesetzt.
Ganz in der Nähe von Dublin gibt es zwei Ortschaften: Leix und Offaly. In Leix hatte Patric versucht an Land zu gehen. Dort war er angekommen, und seine erfreuten Seeleute tischten am Ufer das für sie und den besten Heiligen der Welt erste Mahl auf festem Boden seit Wochen auf. Sie waren gerade im Begriff, Platz zu nehmen, um zu speisen, als die Einwohner von Leix aus den Wäldern her angriffen und sie auf ihre Schiffe zurücktrieben. Sodann setzten sich eben diese Einwohner an den Strand und dinierten, was für den besten Heiligen der Welt und seine teerigen Seeleute zubereitet worden war.
So viel dazu. Die Zeit verging, und St. Patric wurde berühmt. Etwa zur gleichen Zeit wurden auch die Leute aus Leix berühmt, besonders bei den Einwohnern des Nachbarortes, der Offaly hieß. Diesen wurde es zur schlechten Gewohnheit, ihren Nachbarn aus Leix eine bestimmte Frage zu stellen.
Nehmen wir zum Beispiel einmal an, ein paar Leute aus Leix befänden sich in einem benachbarten Hotel, und einige Männer aus Offaly kämen zufällig auch in dessen Pub; ein Mann aus Offaly – es waren ziemlich rüde Kerle, diese Offalys, man könnte vielleicht sogar sagen, dass sie offalyrüde waren – nun, ein Mann aus Offaly würde plötzlich sehr neugierig und mit lauter Offaly-Stimme fragen: »Wer hat St. Patrics Dinner verspeist?« Daraufhin würden sich natürlich die Männer aus Leix komplett des Pubs bemächtigen und so den Männern aus Offaly einen Schlag versetzen. Nach einer Weile wurde das schlechte Nachbarschaftsverhältnis dieser beiden Ortschaften so berühmt, dass es fast wie ein Witz anmutete.
Nun ändert sich der Schauplatz: Wir werden Irland verlassen und uns nach China begeben, von allen Gegenden dieser Welt ausgerechnet nach China. Nun, eines Tages wütete einer dieser großen Stürme, die man nur in einem chinesischen Meer erlebt. Es war ein Sturm, der aus einem heftigen Hurrikan bestand, der von einem Tornado attackiert und dann von einem Taifun weggewirbelt wurde. Kurzum, es herrschte steifes, schlechtes, ziemlich abscheuliches Wetter, durch das ein Schiff schlingerte, schwankte und daraus zu entkommen suchte. Die Seeleute hatten bereits aufgegeben und sich als verloren angesehen, als sie irgendwo und irgendwie in einen Hafen und damit endlich in Sicherheit geschaukelt wurden.
Die zähen Matrosen machten fest und gingen dann in die Stadt, ganz so, wie es Seeleute zu tun pflegen. Als sie ihr Ziel erreichten, schlingerte und schaukelte ein zweites Schiff in den Hafen, und diese Seeleute, teerig wie die anderen und ebenso durstig, taten das Gleiche: sie machten sich auf den Weg, etwas zu trinken zu finden, das nicht wie Salzwasser schmeckte, und gelangten just zu jenem Etablissement, das die anderen kaum zehn Minuten vor ihnen angesteuert hatten.
Sie betraten die Herberge und benahmen sich so höflich wie Seeleute sein können, denen die Sprache fremd ist. Doch dann spitzten sie die Ohren, denn sie kannten die Sprache, und sie blickten zur Decke und sahen einander an, konnten sie doch ihren Ohren nicht trauen, denn sie hörten Sprache und Diktion, die zu den Leuten von Leix gehörten, während sie zu den Leuten von Offaly gehörten.
Einer von ihnen bemerkte zu einem seiner Gefährten nur eben so laut, dass es ein paar Morgen weit zu hören war: »Mein Sohn, kannst du mir sagen, wer es denn gewesen sein könnte, der St. Patrics Dinner verspeist hat?«
In weniger als drei Sekunden begegneten sich die Männer von Leix und Offaly mit Tischbeinen, und binnen zehn Minuten eskortierte eine kleine chinesische Armee sie in den Karzer. Am folgenden Morgen wurden sie einem Gentleman vorgeführt, den sie untereinander Kadi nannten, ihn aber mit Euer Ehren ansprachen.
Dieser Richter war eine erlauchte und gelehrte Seele und in der Tat sehr neugierig, warum zwei sturmgeplagte Schiffsbesatzungen einander angriffen und nach ihrem Aufeinandertreffen einen Pub in exakt drei Minuten zerlegten, sodass der ganze Vorfall erörtert und ihm bis ins Detail erklärt wurde.
»Sagen Sie mir nun«, bat der Richter, »wann dieses hervorragende Dinner von diesen verderblichen Leuten aus Leix gestohlen und verspeist wurde?«
»Verderblich, das sind sie, Euer Ehren«, sagte der Dolmetscher, »und es geschah auf schmutzigste Weise vor eintausendfünfhundertfünfzig Jahren.«
»Was?« schrie der Kadi.
»Vor eintausendfünfhundertfünfzig Jahren«, wiederholte der Dolmetscher.
Der Richter war zunächst verlegen, dann ungläubig und schließlich erfreut. Er erhob sich von seinem Stuhl. Er verbeugte sich erst vor den Männern aus Offaly, dann vor den Männern aus Leix und erklärte schließlich seiner eigenen Bevölkerung, einschließlich der Armee, dass dies die bemerkenswerteste und schönste Geschichte der Ahnenverehrung sei, die er je vernommen habe, dass diese Männer gewiss aus einem heiligen Land kämen und vermutlich selbst Heilige seien, jede einzelne Teerjacke von ihnen, und dass diese Geschichte ein Beispiel für ganz China sein sollte, vor allem für die jungen Leute, die sich an ihre Großväter nur erinnerten, wenn sie Prügel für ihr Vergessen bezögen. Er ordnete die Freilassung der Gefangenen an, sandte sie zurück auf ihre Schiffe, nachdem er ihnen Fässer voller Bier und Fässchen voller Sake geschenkt hatte, wünschte ihnen ein glückliches Leben und mahnte sie, auf keinen Fall St. Patric zu vergessen. (…)
(aus: James, Seamus and Jacques: Unpublished Writings by James Stephens. Hrsg. von Lloyd Frankenberg. – London & New York, Macmillan, 1964)
Ins Deutsche übertragen von Jürgen Schneider