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Die „Revolution“ hat gesiegt und sie tut das, was sie meistens tut, sie frißt ihre Kinder

Am 18. März 1990 fand die letzte Volkskammerwahl der DDR statt. Unser ehemaliger Redakteur Wolfgang Rüddenklau kommentierte damals den Ausgang und die zu erwartenden Folgen.

aus telegraph 6/1990,
vom 30. März 1990

Wer am Wahlsonntag in Berlin durch die Wahlfeiern der verschiedenen Parteien hindurch ging, bekam ein Gefühl für die Situation. Bei Grünen und Frauen, Neuem Forum und Vereinigter Linker herrschte ungebremster Katzenjammer. Die Anhänger der PDS dagegen führten in den weiten Räume des früheren Hausses des Zentralkomitees unter flutendem Licht und mit all dem anderen technischen Eigentum der verpönten Ursprungspartei einen lärmenden Freudentanz aus. Zur DSU im Ratskeller des Roten Rathauses konnte ich nicht gelangen: Zwei Türsteher verweigerten den Einlaß allen, die keine Einladung vorweisen konnten. Ich sagte den Höllenhunden, daß ich schon zur Opposition gehört hätte, als sie noch das Pioniertuch trugen. „Das ist uns egal, wenn sie keine Einladung haben, kommen sie hier nicht rein.“ Alle Nichteingelassenen verwickelten sich dann prompt in Disput mit einer Mahnwache der Vereinigten Linken, die mit einem Transparent die DSU Fete bedrohten.

Ich unterhielt mich mit einem jungen Volkspolizisten, der das leere Staatsratsgebäude bewachte. „Sagen Sie, was werden Sie denn jetzt machen, wenn ihnen beispielweise befohlen wird, eine linke Versammlung aufzulösen?“ „Darüber habe ich mir noch keinen Kopf gemacht“, meinte der Polizist, „das kommt darauf an, was der neue Polizeipräsident meint. Privat kann ich ja denken, was ich will, aber dienstlich habe ich den Befehlen zu gehorchen.“ „Und was sagen Ihre Kollegen“, frage ich. Der Bulle: „Darüber unterhalten wir uns nicht, wir fragen uns hauptsächlich, wie sicher unsere Arbeitsplätze sind, wenn die Bonner Parteien jetzt alles übernehmen.“

Selbstverständlich habe ich den guten Mann beruhigt. Eine Polizei, sagte ich ihm, benötigt jede Regierung, ebenso wie jede Regierung Leute braucht, die das Maul halten und arbeiten. Schade um ihn, er hatte eigentlich ein hübsches und kluges Gesicht.

Und ist das nicht überhaupt ein Treppenwitz der Geschichte? Jahrelang haben da (wenn die Stasi richtig gezählt hat) 2500 Oppositionelle, allermeist Linke, hart in Kellern, auf Versammlungen und auf Straßen gearbeitet, ohne eine müde Mark zu bekommen. Dann geschieht das, was eigentlich niemand erwartet hatte, die Opposition bekommt immer mehr Zulauf und das Regime bricht zusammen. Und das Volk, das bisher gar nicht schlecht gelebt hat und die Karriere machte, auf die die Oppositionellen verzichten mußten, – dieses Volk optiert also für freie und geheime Parteienwahlen. Und dieses Volk gibt dann denen seine Stimme, die entweder, wie DSU und SPD, gerade erst gestern entstanden sind, oder wie CDU und PDS mit der Mehrzahl ihrer Mitglieder für 40 Jahre bürokratische Herrschaft verantwortlich sind. Und diese alten und neuen Machthaber werden jetzt hoch bezahlt und die früheren Oppositionellen haben bis dato nicht einmal Arbeitsräume und -möglichkeiten bekommen und betreiben weiter munter Selbstausbeutung.

Natürlich waren da noch ein paar Schauoppositionelle, wie Gysi, Böhme und Eppelmann. Aber wegen denen ließ sich doch nicht ein ganzes Volk hinters Licht führen! Nein, es ist schon so, wie Kommentatoren meinen: Dieses Volk hat den Kohl wegen der starken Mark gewählt, etwas weniger schon den Vogel, den Brandt und den Lafontaine, weil die die starke Mark etwas intellegenter unter die Leute bringen wollten, und die PDS wurde zumeist aus Anhänglichkeit an die alten Machthaber gewählt. Dieses Volk hat eine Himmelangst davor, sich selbst zu regieren und braucht deshalb dringend starke Männer.

Das soll übrigens keine Schuldzuweisung sein, obwohl natürlich gewisse Zweifel am Charakter des deutschen Volkes durchaus angebracht sind. Aber alles hat seine Gründe. Etwa im Herbst 1916 war es, als unter dem Eindruck der sich zuspitzenden Regierungskrise der russische Industrielle Putilow zum französischen Botschafter Paleologue sagte: „Das größte Verbrechen des Zarismus war nicht das Massaker im Jahre 1905. Das größte Verbrechen war, daß er die riesige Mehrheit des Volkes in Unmündigkeit hielt und damit unfähig machte, die Konstruktivität und Konsensfähigkeit zu entwickeln, die für eine Zukunft ohne diesen Zarismus gebraucht wird.“ Das Volk der DDR hat in anderer und in gleicher Weise durch fast 60 Jahre Diktatur und noch längere Jahre unter dem Obrigkeitsstaat vieles verlernt. Die Identifikation mit dem Stärkeren ist bis in die Volksweisheit, jedenfalls zur Gänze in die Erziehung der Eltern vorgedrungen und hat Köpfe und Hirne fast unwiderruflich vergiftet.

„Eine Revolution“, polemisierte der Anarchist Gustav Landauer gegen Liebknecht und Genossen, „…eine Revolution geschieht eben nicht wie auf der Wagnerbühne, wo sich bei Beginn des neuen Akts aus wabernden Nebeln das neue Bühnenbild erhebt. Eine Revolution schafft keine neuen Menschen. Wenn sich der allgemeine Freudentaumel gelegt hat, wird sich nur das entwickeln, was an neuen Menschen, an neuem Beginnen schon vor der Revolution da war.“ In der Tat, mit 2500 Menschen ist kein Staat zu machen, und das wollten wir ja auch nicht. Wir wollten, wie seinerzeit die meisten russischen Oppositionsparteien „ihrer Majestät Opposition“ sein, eine Opponentur, die sich der SED als lebensnotwendige Kontrollinstanz anbot, von dieser aber immer als staatsfeindlich zurückgewiesen wurde. Auch weil aber Opponentur-Mentalität nie schwand, war die Opposition nie in der Lage, ein eigenständiges Alternativkonzept zu entwickeln und der Bevölkerung zu vermitteln. Ob das einen Zweck gehabt hätte, ist die zweite Frage. Zu konstatieren bleibt, daß auch die frühere Opposition subaltern dachte und handelte und übrigens jetzt, ohne die früheren mächtigen Gegner, sich ebenso vaterlos, verwirrt und verwaist fühlt, wie das übrige Land.

Und wo bleibt, verdammt noch mal, das Positive? Ich weiß es auch nicht. Der Anschluß an die BRD unter konservativer Mehrheit mit einer einsatzbereiten SPD-Hilfmannschaft ist klar. Es werden harte Jahre werden, wirtschaftlich und politisch (auch für diese kleine Zeitschrift). Gewisse Lichtblicke werden zu erwarten sein, sobald die massenweisen Statusverschlechterungen für die DDR-Bevölkerung einsetzen, sicher daraus eine starke Frauen- und Arbeitslosenbewegung entsteht. Aber der Kapitalismus ist halt ein dynamisches System. Zum Abfangen der Frauen hat sich schon die CDU-Politikerin Süßmuth mit flotten Sprüchen profiliert und auch die anderen Bewegungen werden wohl bald an den Gestaden einer herrschaftsloyalen Partei oder Organisation stranden, die Vereinigte Linke bei der PDS und die Grüne Liga beim BUND. Es werden harte Zeiten und zum Schluß hat es sich nicht einmal gelohnt. Die Signale in Richtung Klima- und Hungerkatastrophe stehen auf freie Fahrt.

Einer Zeitschrift bleibt es immerhin, die schlichte und leider etwas komplizierte Wahrheit zu recherchieren und zu sagen, falls sie nicht doch gelegentlich verboten wird oder bankrott geht, für die Leser, die noch wahrheitswillig sind und für die Archive, die eines Tages von den Marsmenschen oder sonstigen Überlebenden ausgewertet werden. Für viele Oppositionelle in diesem Land wird das übrig bleiben, was die westdeutsche Linke schon seit langer Zeit praktiziert: Widerstand, um wenigstens die paar Inseln von unabhängigem Leben noch aufrechterhalten zu können. Das könnte eine Tugend werden, denn links zu sein bedeutet eben nicht nur, eine Gesellschaft von Freien, Gleichen und Selbstbestimmten anzustreben. Linke können eben nicht anders, als auch in einer herrschaftsgeprägten Gesellschaft ihre Sehnsucht in ihrem Lebensvollzug zu verwirklichen. Nicht, weil das irgendeinen Zweck haben soll, sondern weil ihnen eine andere Art von Leben keinen Spaß macht.

r.l.

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