Kultur

Der Working-Class-Touch

„Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ (USA 2017), Buch/Regie: Martin McDonagh

Von Angelika Nguyen

Wie lebt ein Mensch, der ein schweres Trauma erlebt hat? Eine Mutter, deren jugendliche Tochter vergewaltigt, ermordet und verbrannt wurde? Und kein Mörder ist gefasst. So ein Mensch kann versteinern oder er kann aktiv werden.

Mildred Hayes wird aktiv. Nach sieben Monaten der Trauer um ihre Tochter Angela und der Ergebnislosigkeit polizeilicher Ermittlungen in dem kleinen Ort Ebbing/Missouri ergreift Mildred die Initiative. Hier setzt der Film ein.

Am Ortseingang sieht Mildred drei riesige, ewig nicht benutzte Plakatwände, sie steigt aus und begibt sich in die Landschaft mit den drei Billboards. In Mildreds Gesicht bewegt sich nichts, sie guckt nur. Die Größe ihrer Idee erzählt der Film mit anderen Mitteln: Musik und eine totale Landschaftsaufnahme, die die Dimension der Wände zeigt. So pathetisch werden wir in die Geschichte hineingezogen.

Aber dann geht es sehr nüchtern weiter: Mildred handelt mit dem widerstrebenden Vermieter, der Ärger im Ort vermeiden will, die Monatsmiete für die Werbewände aus und gibt für jede Wand einen Satz in Auftrag: „Was nun, Chief Willoughby?“,  „Immer noch keiner verhaftet?“, „Vergewaltigt, während sie starb.“

Die Leute in Ebbing, wo jeder jeden kennt, reagieren mehrheitlich ablehnend auf die Wände, die dann wie Mahnmale aus der Landschaft ragen, blutrot und von Scheinwerfern angestrahlt. Sie sehen es als Angriff auf den Frieden ihrer kleinen Gemeinde und vergessen dabei, dass der Frieden schon mit Angelas Hayes’ Ermordung vorbei war. Das wollen sie vergessen, aber Mildred hindert sie daran. Ihre Motivation ist stark. Sie will, dass der Mörder gefunden und bestraft wird.  Sie greift jeden an, der sie angreift: den feindseligen Zahnarzt, die pöbelnden Mitschüler ihres Sohnes, den gewalttätigen Polizisten Dixon. So ist der Polizeichef Bill Willoughby gezwungen, sich zu verhalten, muss Mildred erklären, was er gedenkt, zu tun.

Die Akte Angela Hayes wandert aus dem Schrank wieder auf den Schreibtisch, eher nebenbei ist Angelas verbrannter Körper auf den Polizeifotos zu sehen.

Allmählich schlägt der Polizeichef sich immer mehr auf Mildreds Seite, aber er will auch seine Mitarbeiter nicht verstimmen. Außerdem ist er todkrank, ihm bleibt nicht viel Zeit, dieses Fall abzuschließen.

Als zentrales Figurenensemble des Films agiert das Trio Mildred Hayes, der moderate Polizeichef und sein cholerischer Stellvertreter Jason Dixon; das ist eine spannende Konstruktion aus lauter Antipoden, die sowohl als hart gesottene Akteure als auch empfindsam in ihren eigenen Familien gezeigt werden. Mildred, die mit ihrem Sohn alleine ist, seit ihr Mann aus dem Trauerhaus in die Arme einer 19Jährigen flüchtete; Bill, der bisher glücklich mit seiner Frau und seinen Töchtern zusammen lebte – und Jason, der sich nicht aus der Umklammerung von Mama Dixon lösen und nie ein eigenes Leben beginnen konnte.

Doch dann bringt sich Bill Willoughby wegen des Krebses nach einem schönen Familienausflug um. Da bricht das Chaos aus, ohne den Chief gehen die Hassgefühle auf Mildred und ihre Plakatwände mit Jason durch, und er schlägt den Vermieter der Wände krankenhausreif. Es ist eine Frage der Zeit, wann er Mildred angreifen wird. Und so brennen auch bald die Billboards…, der gigantische Eindruck der brennenden Riesenwände, weithin sichtbar, erinnert an die Inszenierungen des Klu Klux Klans, sie wirken wie die Ankündigung eines weiteren Mordes.

Aber da setzt der Film auf Mildreds erfrischende Gegenwehr.  Sie kann das Feuer gern erwidern, bitteschön und betritt eines Nachts mit sorgfältig vorbereiteten Molotowcocktails das Haus gegenüber dem Polizeirevier. Es folgt eine große komplexe Szene. Essentiell hat der Regisseur hier Komik, Tragik und Action in einem kleinen Straßenabschnitt konzentriert. Während Mildreds Brandsätze das verhasste und ihrer Meinung nach leere Revier zertrümmern, steht nämlich der böse Polizist Jason Dixon zufällig doch da drinnen. In aller Ruhe liest er den Abschiedsbrief, den Bill ihm geschrieben hat, denn durch die Kopfhörer ist er akustisch isoliert. In der Tonspur aber hören wir den Brief von Bill: von Liebe im Polizeiberuf ist da die Rede, und dass Jason nur den Mut haben muss, gut zu sein. „Wenn dich dann jemand als schwul beschimpft, zeige ihn an wegen Homophobie. Das ist heute alles möglich.“ Als Jason endlich mitbekommt, dass er gleich selber brennen wird, rettet er sich durch die Flammen, aber nicht nur sich, sondern auch die Akte der ermordeten Tochter von Mildred. Ein wundersamer Drehpunkt! Und der kleinwüchsige traurige Jimmy (spezieller Auftritt von Peter Dinklage) schlägt die Flammen auf Jasons liegendem Körper aus, steht dann im grellen Scheinwerfer der Polizeiautos. Großes Kino!

Die Schauspieler leisten eine gewaltige Ensemblearbeit.

Während Frances McDormand hinter minimaler Mimik die fluchende, zornige, kampfbereite, dann wieder sensible und schmerzerfüllte Mildred darstellt, spielt Woody Harrelson ungewohnt leise den Puffer zwischen den Konfliktparteien. Denn auch die Freundschaft mit dem cholerischen Kollegen Dixon ist ihm wichtig, den Mildred für einen Sadisten und für ihren ärgsten Feind hält. Sam Rockwell als Jason Dixon schafft glaubhaft die Verwandlung vom haltlosen, widerwärtigen Gewaltmenschen in einen vielschichtigen Charakter, der am Ende genauso bewegt wie die Hauptheldin.

Auch die Nebenfiguren mit sorgfältiger Darstellung lotet der Film aus. Die hinterbliebene Hayes Familie – dem Klischee nach nur noch eine kaputte, zerstörte Familie – erzählt der Film so, dass erkennbar wird, wie viel Liebe bei aller Zerrissenheit sie doch verbindet. Derweil vermeidet der Film in den Gesprächen zwischen Mildred und ihrem Sohn Robbie jede Sentimentalität, jeden Trauerkitsch. Statt die Mutter zu ermutigen wegen der Billboards, beklagt er sich im Auto: „Da denkt man mal zwei Minuten nicht an den Mord und zermartert sich mal kurz nicht das Gehirn, da erinnern deine Scheiß-Billboards mich wieder daran, danke sehr auch, Mom.“

Der Film erzählt zugleich Rache-Drama, Krimi, Komödie, Tragödie, zwei prägnant skizzierte Mutter-Sohn-Geschichten und eine Good-Cop-Bad-Cop-Geschichte. Seine Besonderheit besteht darin, dass trotz der schrecklichen Vorgeschichte und seines Gewalt-Sujets eine schöne Leichtigkeit vorherrscht: ein Markenzeichen des irisch stämmigen Autors und Regisseurs Martin McDonagh, der schon mit dem vergleichsweise kleinen Film „Brügge sehen und sterben“ einen Publikumsliebling landete.

In gewisser Weise ähnelt „Three Bilboards…“ den Filmen der Coen-Brüder, und das nicht nur, weil Frances McDormand mitspielt. Dieselbe Verbindung von Schlägereien und Mord und Totschlag mit Situationskomik; ähnlich rasante witzige Dialoge und ähnlich großartige Landschaftsaufnahmen, untermalt mit der Musik desselben Komponisten: Carter Burwell. Nur, dass, wenn es bei den Coen-Brüdern gar zu ulkig und absurd wird, bei McDonagh immer noch Bodenhaftung bleibt und seine Figurenentwürfe mehr in die Tiefe gehen, eher entwicklungsfähige Charaktere erzählen als festgelegte Typen.

Martin McDonagh schreibt seine Filmgeschichten ebenfalls selbst, die Sprache seiner Figuren ist ein Feuerwerk an Flüchen in gänzlich unkorrekter, unverblümter Sprache, authentisch gespeist aus Zorn, Traurigkeit, Liebe und Furcht der Menschen – und jenseits aller Höflichkeit. Die Rolle der Mildred hat er nur für Frances McDormand geschrieben, „for someone who’s in touch with a kind of working class sensibility.“ Der Regisseur spielt damit auf eine Grundhaltung der Schauspielerin an, die bis in die Körpersprache geht. Ihr Bildungsniveau kann er nicht gemeint haben, denn McDormand hat einen Uniabschluss in Yale. McDormands Stil geht jede Ziererei ab, jede Koketterie. Sie spielt ganz direkt und ohne Gefälligkeit. Wer ihre Golden-Globe-Rede neulich zur Auszeichnung für die Mildred-Darstellung gesehen hat, weiß, dass das nicht nur ihren Figuren eigen ist, sondern auch ihr selbst. Diese starke Ausstrahlung ist wichtig für die Rache-Geschichte.

Und noch etwas zeichnet diesen Film aus: sein tiefes Interesse für das Lokale, Provinzielle, das er in kaum merklichen Momenten in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang stellt. Wenn der Nachfolger des weißen Chiefs Willoughby ein schwarzer Chief ist, der den Namen Abercrombie trägt, jener Mode-Firma, die oft wegen Diskriminierung angeklagt wurde, dann ist das ein verstecktes politisches Statement, ein Augenzwinkern, vielleicht auch eine Verbeugung. Denn genau 50 Jahre nach dem Film „In the Heat Of The Night“, wo 1967 in Sparta/Mississippi ein graduierter Detective (Sidney Potier) verhaftet wird, nur weil er schwarz ist, spaziert 2017 im Nachbarstaat Missouri in „Three Billboards Outside Ebbing….“ ein schwarzer Mann ins weiße Polizeirevier und stellt sich als neuer Leiter vor. Nachdem die diensthabenden Polizisten kurz die Luft angehalten haben, akzeptieren sie stumm. So was ist heute möglich. Da können auch die ewig Gestrigen nichts machen. Wer nicht mitbekommt, was die neue Zeit geschlagen hat, der ist ein Trottel. Was früher selbstverständlich war, ist es heute nicht mehr. Auch das erzählt der Film.

Als Mildred es zu Beginn des Films wagte, die riesengroßen Plakatwände mit Ermahnungen an die Ortspolizei aufzustellen, holte sie fortan aus den Anwohnern von Ebbing das Böseste und auch das Anständigste hervor.

Am Ende hat sie einen neuen Freund gewonnen für die Jagd auf den Mörder ihrer Tochter. Was sie vorhaben? Wer weiß.

 

 

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