„US vs. Billy Holiday“, USA 2021, Regie: Lee Daniels
Im Online-Kino, als DVD und Bluray.
Von Angelika Nguyen
Der Film beginnt mit einem Foto. Zuerst sehen wir darauf nur eine Menge lachender weißer Männer, Jungen, vielleicht auch Frauen irgendwo weiter hinten. Dann führt ein kleiner Kameraschwenk dahin, worüber diese Menge sich so freut: ein Menschenkörper brennend in einem Scheiterhaufen, unkenntlich schon als Individuum, erkennbar noch als Afroamerikaner, vermutlich zu Tode gequält von diesem mordlustigen Mob ehrbarer US-Bürger. Darüber die schriftliche Information, dass 1937 dem US-Senat ein Gesetzesentwurf über das Verbot von Lynchmorden vorlag – und dass er nicht durchkam. Das Foto ist nicht inszeniert, sondern authentisch.
Nach diesem schockierenden Intro die erste Spielszene. 1957. Billy Holiday, die berühmte schwarze Sängerin, ist zu einem Radiointerview geladen. Erschöpft sieht sie aus, krank, zwei Jahre vor ihrem Tod. Der Moderator fragt Holiday, warum sie nur immer wieder dieses gewisse Lied, „Strange Fruit“, singen würde – obwohl es doch nur Ärger mit der Regierung für sie bedeute. Holiday antwortet mit einer Frage: „Haben Sie schon mal einen Lynchmord gesehen?“ Der Moderator guckt verwundert. Denn er ist ein Weißer, für den die Welt in Ordnung ist, so wie sie ist. Aber Billy Holiday ist eine schwarze Sängerin in den USA der 40iger, 50iger Jahre. Für sie gelten die diskriminierenden „Black Codes“ in den Gesetzen ihres eigenen Landes. Für sie ist die Welt nicht in Ordnung. „Es geht um Menschenrechte“, sagt Holiday dem beschränkten Moderator. „Ich soll Ruhe geben und ‚All of me‘ singen.“ Schnitt: Holiday singt mitreißend ihr Liebeslied „All of me“, das Publikum geht begeistert mit.
Von Anfang an sind die Szenen von Regisseur Lee Daniels so angelegt, dass die beiden Welten der USA, die schwarze und die weiße Welt, immerzu aufeinanderstoßen. Rückblende 10 Jahre früher: Es ist die Zeit der großen Erfolge Holidays im Café Society in New York City. Dort hatte sie stets am Ende ihrer Auftritte das Lied „Strange Fruit“ gesungen, das die Leute im Café – Weiße und Schwarze – gern von ihr hören wollten. Das Café warb explizit damit. Was war das Besondere an dem Lied? Wohl ist Billy Holiday berühmt geworden mit ihren Liebesliedern und ihrem viel variierten Blues von Einsamkeit. Mit „Strange Fruit“ jedoch ging sie in die Geschichte der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung der USA ein. 1939 zum ersten Mal von ihr vorgetragen, ist es das wohl politischste Lied, das je in ein amerikanisches Mikro gesungen wurde, in seltsamem Kontrast zum glamourösen Ambiente. Es rief die Bundespolizei auf den Plan, so brisant war es. Wovon handelte es bloß, dass es als so gefährlich galt, als „aufwiegelnd“? Der Text beschreibt „seltsame“ Früchte, die von Bäumen in den Südstaaten hängen, schwarze Körper, die in der „südlichen Brise“ baumeln, verdrehte Münder, hervortretende Augen. Er beschreibt, wie der süße Duft von Magnolien plötzlich abgelöst wird vom Gestank verbrannten Fleisches. Es rückte da plötzlich eine schreckliche gesellschaftliche Wirklichkeit der US ins Scheinwerferlicht großer Bühnen, die Sängerin oft mit einer Blume im Haar, im festlichen Kleid.
Das Lied war 1937 von Abel Meeropol, einem jüdischen weißen Songwriter aus New York, geschrieben worden, in einer Zeit, da die sogenannte Racial Segregation, „Rassentrennung“, in den USA noch völlig normal war und Lynchmorde an schwarzen Menschen im Süden an der Tagesordnung. Meeropol, dem als Angehörigen der jüdischen Diaspora und als Kommunist Verfolgtsein nicht fremd war, hatte das Foto eines Lynchmordes gesehen, das ihn berührte und zu dem Text und der Melodie inspirierte.
Im ersten größeren Dialog mit ihren Managern geht es sogleich darum, dass Holiday aufhören soll, dieses Lied zu singen, mit dem Argument, die Regierung sei dagegen. Der Film setzt an diesem biographischen Bruch in Holidays Leben ein, da die aktive Verfolgung durch das FBI beginnt. Offiziell wegen ihrer Drogenkonsums, inoffiziell wegen „Strange Fruit“. Holiday widersetzt sich, will das Lied auch bei den nächsten Auftritten wie gewohnt singen, aber dann ist da etwas zu spüren, in den Blicken der Männer und in ihrem Schweigen – Holiday weicht zurück, sie spürt die existentielle Gefahr. Diese Bedrohung bestimmt die Atmosphäre des Films, außer in ein paar ausgelassenen Gesangseinlagen und einer fröhlichen Bustour der Band. Dass Holiday heroinsüchtig ist, wird vom FBI als Vorwand genommen, sie zu observieren – und schließlich zu verhaften. Diesen Trick der Polizei in zutiefst rassistischen Strukturen erzählt Lee Daniels in mehreren Strängen und sehr ausführlich. Zwei FBI-Männer, die es historisch gab, stehen für die repressive Staatsmacht: der Weiße Harry J. Anslinger, Leiter der Drogenbehörde, ein klassischer Bösewicht: machtbewusst, fanatisch, Frauenhasser, Jazzhasser, Holiday-Hasser, Rassist – und der Schwarze Jimmy Fletcher, der als verdeckter Ermittler mit Holiday flirten und sie dann auf frischer Tat bei Heroin-Konsum überführen soll. Die schwarze Frau, im Zenit ihres Ruhms mit einem festen Platz in den Clubs und Theatern der Ostküste – die es sich jedoch wegen eines politischen Liedes mit den Behörden verscherzt und vernichtet werden soll. Das ist der Plot des Films.
Die Verfolgung Holidays lauert überall, auf der Bühne, auf der Straße, im Hotelzimmer, im Bett. Lee Daniels erzählt den Abstieg Holidays als politische Intrige. Als Holiday erkennt, dass Fletchers Charme nur ein Trick war, um sie zu verhaften, ist das nur einer von vielen Tiefschlägen in ihrem Leben, der nächste folgt, als sie vor Gericht das Urteil hört: sie muss ins Gefängnis – sie hatte gedacht, sie käme in eine Klinik. Doch dann zeigt sich, wie gut sie das Gefängnis verkraftet und sich auch passabel in die Gemeinschaft einfügen kann. Als Holiday das Gefängnis verlässt, scheint sie gestärkt, clean, mit größerem Selbstvertrauen zu sein. Sie macht eine Tournee mit ihrer Truppe, hat ein grandioses Comeback in der ausverkauften Carnegie Hall. Nur gerät sie noch stärker in die Abhängigkeit von Männern, die sie ausbeuten, denn ihre Lizenz hat sie als Vorbestrafte verloren. Der Staat schlägt wieder zu: ihr werden diesmal Drogen untergeschoben, und die Polizei steht zufällig vor der Tür. Holiday, die Interpretin von „Strange Fruit“, wird gejagt, bis in den Tod. Das wäre für sich erzählt eine gerade Geschichte gewesen.
Aber damit begnügt sich der Regisseur nicht. Er rückt den Agenten Fletcher ins Zentrum neben Billy und teilt damit die Aufmerksamkeit auf verwirrende Weise. Das Milieu der Nebenfigur wird detaillierter erzählt als das von Billy. Gratulationen von den FBI-Kollegen, dass er Holiday so schön übers Ohr gehauen hat („Ein Weißer wäre in Harlem aufgeflogen! Du ebnest uns den Weg!“). Seine Mutter rügt ihn dafür, jedoch mit einer Weisheit, die nicht zu ihr passt. Auf Fletchers Erklärung „Ich brachte Holiday ins Gefängnis, weil Drogen unser schwarzes Volk zugrunde richten.“ sagt die Mutter: „Es ist nicht die Droge, wegen der sie verhaftet wurde, sondern wegen des Liedes ‚Strange Fruit‘! Sie singt es für uns alle.“ Da spricht nicht die Figur, sondern der Regisseur selber. Schade um die Szene. Eine einfache Ohrfeige von Mama Fletcher wäre glaubhafter gewesen.
Fletcher bespitzelt Holiday weiter, während er sich doch immer mehr in sie verliebt. Doch immer wieder und auf ermüdende Weise kehrt Fletcher in sein FBI-Büro zurück. Schließlich werden er und Billy ein Paar, eine vergiftete Lovestory. Manchmal weiß man nicht mehr, um wessen Perspektive es geht, die von Fletcher oder die von Billy. Das Problem des Films ist, dass er zu viel erzählen will, am liebsten „alles“. Wie der Regisseur in einem Interview gesteht, hätte er auch gern das Liebesverhältnis von Holiday mit der Schauspielerin Tallulah Bankhead noch näher ausgeführt. Er freue sich schon darauf, eines Tages den „Director‘s Cut“ zu präsentieren.
So reicht Daniels‘ Erzählfreude noch über das Filmende hinaus, über den Abspann, es wird berichtet, wie es weiterging mit den Figuren und dass das Verbot von Lynchmorden, der Emmett-Till-Antilynching-Act, gerade wieder vom US-Senat geprüft werde. Nach Fertigstellung des Films wurde es tatsächlich verabschiedet – am 26. Februar im Jahre 2020!
Von der formalen Abschaffung der Sklaverei 1865 bis zur Gleichstellung vor dem Gesetz mit dem Civil Rights Act 1964 war es ein langer schmerzvoller Weg für Afroamerikaner*innen – und von dort bis heute, wie anhaltende antischwarze Polizeigewalt und die Black-Lives-Matter-Bewegung zeigen. Mitten auf diesem historischen Weg war Billy Holiday, deren Leistung als einsame Vorkämpferin um Schwarze Bürgerrechte noch zu wenig anerkannt ist. Es ist ein Verdienst des Films, Holiday als Hauptfigur zu erzählen und ihr besonders schwieriges Leben, in dem sie nicht einmal sterbend in Ruhe gelassen worden ist. Umstellt von FBI-Agenten, mit Handschellen ans Krankenbett gefesselt, so starb, gerade mal 44jährig, Billy Holiday.
Andra Day in der Titelrolle gibt eine grandiose Vorstellung ab. Sie ist ein Glücksfall für den Film, weil sie beides kann: spielen und singen. Sie hat die Stimme, die sie wie die von Billy Holiday klingen lassen kann und zugleich interpretiert sie die Songs auf ganz eigene Weise, als die R&B-Sängerin, die Day selber ist. Dafür gab es die Nominierung für den Oscar, den Day leider nicht bekam.
Die vielleicht stärkste Szene des Films aber spielt sich jenseits des Trubels in der Lobby eines vornehmen Hotels anno 1947 ab. Holiday, längst berühmt, will mit ihrer weißen Freundin Bankhead im Fahrstuhl hochfahren. Der Liftboy, ein ganz junger Afroamerikaner, tritt ihr entgegen und sagt ihr, dass sie keinen Zutritt habe. Holiday aber besteht darauf, auch als die weiße Freundin ihr anbietet, mit ihr zusammen im Lastenaufzug zu fahren. Da sagt der Mann: „Im Süden lyncht man UNS für weniger.“ Sie wirft ihm, dem schwarzen Bediensteten, der nur seinen Job behalten will, ihre glühende Zigarette an die Dienstuniform. Geht raus vors Hotel und weint. Der Mann bewahrt, sichtlich aufgewühlt, mit Mühe die Fassung nach dieser Konfrontation. Die Szene ist so stark, weil hier zwei miteinander einen Konflikt austragen, auf dessen einer Seite sie eigentlich zusammen gehören – gegen die weißen Machthaber – und doch treten sie hier gegeneinander an. Dieses Thema wird noch mal variiert in der Person des FBI-Agenten Fletcher und der von Holidays schwarzem Manager. Hautfarbe allein schafft noch keine Einigkeit, gemeinsame Not noch keine Courage, etwas zu ändern und große Popularität noch keine Erlaubnis, den Personenaufzug oder vordere Busplätze zu benutzen.
Der Ruhm des Liedes wuchs nach ihrem Tod, 1978 wurde „Strange Fruit“ in die Grammy Hall of Fame aufgenommen, und das Time-Magazine nannte es „Lied des 20. Jahrhunderts“.
Auf offener Bühne klagte es die Täter an, nahm es den Taten das beinahe schon „Normale“ und das sogar Volksfestliche, das Lynchmorden im Süden oft anhaftete, wie James Baldwin es in seiner düstersten Erzählung „Des Menschen nackte Haut“ beschreibt. Dass die Täter sich nicht länger als Unschuldige fühlen dürfen, das ist der Kern des Liedes. Es verwies in die Zukunft, es kündigte den Willen der schwarzen Menschen in den USA an, das nicht länger hinzunehmen. Nicht mit den Legenden Malcolm X und Martin Luther King, die noch Kinder waren, als Billy das Lied zum ersten Mal sang, begann der Aufstand der Afroamerikaner*innen im 20. Jahrhundert, sondern mit Billy Holiday, die das Lied 20 Jahre lang bis kurz vor ihrem Tod wieder und wieder trotz FBI-Beobachtung sang und die per Gesetz nur durch Hintereingänge „For Colored“ zu ihren Auftritten gelangen konnte.
Und, obwohl Andra Day im Film tatsächlich dann jenes Lied singt, um das es die ganze Zeit geht, ist es ein viel größeres Erlebnis, die Original-Aufnahme von Billy Holiday aus dem Jahr 1959 kurz vor ihrem Tod zu hören und zu sehen. Schmerzvoll, zornig und untröstlich singt Holiday da das Lied ihres Lebens, es ist ihr Abschied an die Welt.