Kultur

„Du hast nichts gesehen in Hiroshima“

Zum 75. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki

Der Filmklassiker „Hiroshima mon amour“ (1959), Buch: Marguerite Duras, Regie: Alain Resnais

Von Angelika Nguyen

Foto © COPYRIGHT trigon-film

Sommer 1957, in Hiroshima. Ein Mann und eine Frau, nachts, nackt, im Bett. Man sieht ihre verschlungenen Körper, ihre Hände auf seinem Rücken, sein Arm um ihre Schulter, und man hört, wie sie sich unterhalten. Ein ungewöhnlicher Dialog. Die Frau sagt etwas – und er widerspricht jedes Mal. Nicht spontan, sondern rituell.
Sie sagt: „Ich habe alles gesehen in Hiroshima. Ich habe das Krankenhaus gesehen, wie könnte man es übersehen.“ Dazu sieht man Bilder vom Krankenhaus, schweigend in die Kamera blickende Patienten. Der Mann, in ihrem Arm, antwortet: „Du hast kein Krankenhaus gesehen in Hiroshima. Du hast nichts gesehen in Hiroshima.“ Sie fährt fort: „Vier Mal war ich im Museum in Hiroshima.“ Er fragt: „In welchem Museum in Hiroshima?“ Sie sagt: „Ich habe die Nachbildungen gesehen und das verbogene Eisen, das verwundbar geworden war wie Haut. Losgelöste Haarschopfe, die die Frauen von Hiroshima am Morgen nach dem Erwachen wiederfanden, und mir ist heiß geworden auf dem Platz des Friedens.“ Bilder vom Museum, von einem Bus mit der Aufschrift „Atomic Tours“, von der breit lächelnden Reiseleiterin, von starren Ausstellungsstücken, von der Künstlichkeit eines Spielfilms, der den Tag der Bombe nachstellte. Er antwortet wieder: „Du hast nichts gesehen in Hiroshima, nichts.“ Sie spricht weiter: „Ich habe immer über das Schicksal von Hiroshima geweint, immer.“ Er antwortet: „Nein, worüber hättest du weinen sollen?“ „Ich habe auch die Wochenschauen gesehen.“ sagt die Frau, und jetzt zeigen die Filmbilder keine Nachahmungen, keine Museumsstücke mehr, sondern echte Dokumentaraufnahmen von verletzten Menschen nach der Bombe. Eine der bekanntesten ist dabei: ein kleiner Junge, vielleicht fünf Jahre alt, hockt weinend auf einem Tisch, und Ärzte versorgen notdürftig seine Brandwunden, die den kleinen Körper zum großen Teil aufgerissen haben, die Haut ist verschwunden. Ein Schuljunge, dessen Mund bis auf das Gebiss weggebrannt ist, bei vollem Bewusstsein, auch bei ihm wird herum getupft. Seine Augen blicken zur Kamera, geschockt. Liegende Menschen auf Krankenbetten mit verbrannter Hautoberfläche, ergebenen Blicken, ein schreiendes Baby mit körniger, strahlenverbrannter Haut. Sie alle leben noch, aber es ist klar, dass wenige von ihnen überlebt haben dürften.
Dann kehrt der Film – Aufatmen beim Publikum – wieder zu den glatten, unversehrten Körpern des Liebespaars zurück. Er sagt: „Nichts, nichts weißt du.“ Später lachen beide, gelöst, entspannt nach der Liebe, man erkennt ein Hotelzimmer und ihre Gesichter: ein japanischer Mann und eine französische Frau, sie sprechen französisch miteinander. Sie verbringen eine zufällige Liebesnacht zusammen in Hiroshima.
Man erfährt, dass er selbst nicht in Hiroshima war, als die Bombe fiel, aber seine Familie war dort. Sie fragt nicht nach. Er ist ein unversehrter Überlebender.
Es dauert nicht lange, bis die beiden in ihre jeweiligen Leben zurückkehren werden, in ihre jeweiligen Familien, zu ihren jeweiligen Partnern. Ein kurzer Film über die Liebe also? Ja und nein. Es ist ein Film, in dem der Gang der Handlung merkwürdig verschwindet hinter dem fortgesetzten Gespräch, das die beiden miteinander führen.
Den Unterschied zwischen den beiden, den so offenkundigen zwischen ihrer Herkunft, Biographie, Weltanschauung, Geschichte überbrücken die beiden in ständiger Annäherung und Entfernung und erreichen Augenblicke, in denen sie sich so nah sind wie vielleicht niemand anderem mehr danach.
Sie sagt irgendwann: „Unsere erste Begegnung war wie ein Wiedersehen.“ Was sie aneinander gespürt haben vielleicht, als sie sich zu Beginn der Nacht verliebten, ein gewisses gemeinsames Anderssein, das bestätigt sich im Laufe des Films. Auf seine harmlose Frage, aus welcher Stadt sie käme, verdunkelt sich nämlich ihr Gesicht. Sie kommt aus Nevers, einem kleinen Ort in Frankreich, so klein, „dass ein Kind drum herumlaufen kann.“ „Wen hast du geliebt in Nevers, einen Franzosen?“ fragt der Mann. „Warum fragst du gerade nach ihm, warum nicht nach den anderen?“ fragt sie zornig. Und er sagt: „Weil, so wie ich es verstehe, du in Nevers begonnen hast, die Frau zu werden, die du heute bist.“
Geworden zu sein, wie man ist, durch das, was man war, durch Traumata im Krieg und in der Liebe. Als sie wider Erwarten auch den nächsten Tag und die nächste Nacht miteinander verbringen, beginnt die Frau ihr Geheimnis zu erzählen. Sie liebte, 18jährig, einen jungen deutschen Soldaten, einen Feind der Besatzungsmacht, sie liebten sich sehr, heimlich, in Scheunen, Ruinen, in den Wäldern um Nevers. Er ist ihre große Liebe, eines Tages findet sie ihn angeschossen auf einem Weg, von unbekanntem Schützen kurz vor Abzug der Deutschen. Sie bleibt bei dem Geliebten, bis er stirbt, die ganze Nacht, bis „sie ihren lebenden Körper nicht mehr von seinem toten Körper unterscheiden“ kann, wird dann selbst kahlgeschoren, vom Mob verhöhnt, von ihren verschämten Eltern weggesperrt. Als man sie eines Tages, mit wieder langem Haar, herauslässt, geht sie für immer weg aus Nevers, radelt zwei Tage lang nach Paris. Als sie dort ankommt, „stand der Name Hiroshima in allen Zeitungen“. Das erzählt der Film nicht in einem Stück, sondern in kleinen abgehackten Sätzen der sprechenden Frau, zwischendurch reden sie von anderen Dingen, von ihren Berufen, ihren Ehepartnern, trinken Kaffee am Morgen, duschen zusammen im Hotel, liegen wieder nackt am Nachmittag in seiner Wohnung, schweigen sich am Bahnhof auf einer Bank an, verlassen einander in den nächtlichen Straßen von Hiroshima, finden sich wieder. Einmal ohrfeigt er sie sogar, um sie aus ihrer Vergangenheit wieder zurück zu holen. „Ich will ihn nicht vergessen“ sagt sie verzweifelt. „Ich vergesse ihn schon.“ Und sie streiten sich, wie es sich für Verliebte gehört. „Bleib bei mir in Hiroshima, acht Tage, drei Tage,“ bittet er irgendwann, entgegen aller Vernunft. Sie lehnt ab. Er darauf, zornig: „Mir wäre es lieber, wenn du gestorben wärst in Nevers!“
Dabei bleibt Hiroshima immer präsent, als Umgebung der Handlung, als überlebende, verschwiegene Stadt der Atombombe. Eine Stadt, die nur scheinbar zur Ruhe gekommen ist und ihr Trauma nicht einfach in das Museum weg sperren kann. Es ist da, gestern, heute, morgen.
Wie die Frau in dem Film es sagt, indem sie von „nur vorübergehend Überlebenden“ spricht. Und wie der Mann sagt: „Es gibt kein Aufhören in Hiroshima.“

Die radioaktive Strahlung brannte in den Körpern weiter, es ging immer weiter. Es gab keine Kühlung. Der Fluss Ota, der durch Hiroshima fließt, aus dem die Durstigen tranken, in den sie sich hineinstürzten, um das Brennen zu lindern, war kontaminiert und verursachte innere Blutungen, an denen die Menschen starben.
Während die Verletzten nicht versorgt werden konnten, während 70.000 sofort starben und während man in Japan noch nicht recht begriff, welche Art von Bombe da auf das Land geworfen worden war, während durch die Strahlung ganze Generationen bis heute genetisch geschädigt wurden, zündeten die USA schon die zweite Atombombe in dem 300 Kilometer entfernten Nagasaki, in vollem Bewusstsein dessen, was sie taten und mit den frischen Eindrücken von Hiroshima.
Während in zwei japanischen Städten am 6. und 9. August 1945 die Welt unterging, fand am 14. August in New York City die freudestrahlende „Victory Parade“ statt. Entlang der Fifth Avenue feierten die Leute, marschierten fröhliche Rückkehrer, küsste ein Matrose eine Krankenschwester. Eine bizarre Gleichzeitigkeit. Auch Gleichgültigkeit, bis heute. Gern wird dann die Rechnung herausgeholt, wonach eine Invasion von GIs auf den Inseln Japans, um das dortige Militärregime zu besiegen, eine viel höhere Anzahl von Todesopfern vor allem unter den US-Soldaten gefordert hätte. Woran sich die Rechnung genau festmacht, ist unklar, denn bis heute weiß niemand genau, wie viele Todesopfer die beiden Atombomben gekostet haben, da neben den 200.000 noch 1945 Gestorbenen eine unbekannte Zahl von Menschen später an Strahlenkrankheit, Krebs und Missbildungen im Mutterleib gestorben sind. Auch hält sich hartnäckig die die USA mehr als entlastende Legende, die Atombombe hätte die Kapitulation Japans und das gute Ende des 2. Weltkriegs überhaupt erst ermöglicht. Dem gegenüber stehen historische Analysen, wonach Japans Städte bereits seit März 1945 von der US-Luftwaffe massiv mit konventionellen Bomben übersät worden waren, mit insgesamt wohl 900.000 Toten, was Japans Machthaber nicht bewog, aufzugeben. Der Kriegsrat, der schließlich die Kapitulation beschloss, tagte nicht unter dem Schock Hiroshimas unmittelbar danach, sondern wie geplant am 9. August, Stunden vor dem Abwurf der zweiten Bombe auf Nagasaki. Entscheidend war, so die Analysen, die Kriegserklärung der Sowjetunion, jetzt gab es keinen Verbündeten mehr.
Wenn aber die militärische Rechtfertigung wegfällt, was bleibt dann von den Atombombenabwürfen auf vorwiegend von Familien bewohnte Städte übrig? Nur noch die Übertretung einer moralischen Schwelle, ein gigantisches Verbrechen gegen die Menschlichkeit, für das es so oder so keine Entschuldigung gibt.
Und als sich Barack Obama als erster US-Präsident 2016 aufraffte, fast 71 Jahre danach Hiroshima zu besuchen, durfte er um Entschuldigung dann auch nicht bitten. Zu viele Kräfte daheim waren an der Version von der „kriegsentscheidenden“ und damit gerechtfertigten Atombombe interessiert. Unweit des „Atomdoms“ hielt Obama also eine möglichst schwammige Rede über den „Tod, der vom Himmel kam und die Welt veränderte“ und über seine Hoffnung auf „atomare Abrüstung“, versuchte er eine hoffnungslose politische Balance. Auf der einen Seite befand sich die Mehrheit seiner Landsleute, die die Atombombenabwürfe nach wie vor billigte und auf der anderen Seite die weltweite Bewegung von Atomwaffengegnern mit Organisationen aus 60 Ländern, Friedensaktivisten, nicht zuletzt die Überlebenden und deren Familien von Hiroshima und Nagasaki. Keine der beiden Seiten war am Ende zufrieden. Die Befürworter des Atombombenabwurfs waren wütend, dass der Besuch überhaupt stattfand, die Gegner enttäuscht über die zu nichts verpflichtende, wohlfeile Allgemeinheit der Worte Obamas. In der Tat waren in den vergangenen Jahrzehnten von den USA Milliarden für die Modernisierung vorhandener Atomsprengköpfe ausgegeben worden.

Das soziale Schicksal der Überlebenden war noch ein weiterer Schlag in deren Leben. Sie leben seither, gezeichnet von den Narben ihrer Körper, mit fehlenden Gliedmaßen, fehlenden Haaren, ihrem hoffnungslosen Blick weithin erkennbar und schwer traumatisiert als Aussätzige der japanischen Gesellschaft. Familie verloren, Job verloren, Gesundheit verloren. Zudem mussten sie für die Behandlung ihrer Verletzungen und Verstrahlungen lange Zeit selbst aufkommen, was viele gar nicht konnten. Denn hinzu kam andauernde Erwerbslosigkeit, weil ihnen niemand Arbeit geben wollte, aus Angst vor Ansteckung, aber auch aus optischen Gründen. Diese so genannten Hibakusha hat die schwedisch-amerikanische Autorin Editha Morris in ihren Romanen „Die Blumen von Hiroshima“ und „Die Saat von Hiroshima“ (1958 und 1965) nicht nur porträtiert, sondern sie ist selbst als Ich-Erzählerin in die Figur der überlebenden Yuka geschlüpft. Später baute Morris zusammen mit ihrem Mann in Hiroshima ein Heim für Atombombenopfer.

Der Film „Hiroshima mon amour“ war nach Morris’ Roman die zweite herausragende westliche Kunstdarstellung der Auswirkungen des Atombombenabwurfs auf die Menschen in Hiroshima und in der Welt. Sein besonderer poetischer Zugriff in der Liebesbegegnung eines asiatischen Mannes und einer europäischen Frau und ihr vertrauter Austausch über das, was sie im Innersten bewegt, macht seine enorme emotionale Wirkung aus. Viel mehr als der Dokumentarfilm über Hiroshima, den Resnais ursprünglich plante, es vermutlich vermocht hätte. Der Film schlug unvermutet Brücken: zwischen Mann und Frau, zwischen Asien und Europa, zwischen Hiroshima und Nevers, zwischen einer verbotenen Liebe aus dem 2. Weltkrieg und einer zu Tode getroffenen Stadt am Ende des Krieges. Brücken, wie sie die in Vietnam aufgewachsene Französin Marguerite Duras, die Autorin des Films, schlagen konnte. Sie erfand dieses Liebespaar, das alle Grenzen überschreitet und sich für zwei Nächte und einen Tag so nah kommt wie selten zwei Menschen es können. Dass sie sich „bestimmt nie mehr wiedersehen werden, bevor sie sterben.“ wie die Frau einmal sagt, ist fern von Kitsch. Es ist Schmerz. Bei Duras tut Romantik weh, und Glück ist bei ihr nur eine kurze Angelegenheit. Zusammen mit Regisseur Alain Resnais, der 1955 immerhin den ersten, der damaligen Bundesrepublik höchst unwillkommenen, Dokumentarfilm über deutsche Konzentrationslager, „Nacht und Nebel“, fertig stellte, schuf Duras diesen sehr besonderen Film.
Über die Erzählung dieser Liebesgeschichte gab der Film seinen Beitrag zur westlichen Wahrnehmung von Hiroshima als nicht länger nur eine lokale, sondern weltweite Angelegenheit. Zumal zur Drehzeit das atomare Wettrüsten zwischen den Supermächten des Kalten Krieges schon in vollem Gange war.
Der Erfolg des Films war groß – bei Kritik und Publikum gleichermaßen, derweil er sich politisch zwischen alle Stühle setzte. Die Französin liebt 18jährig in Nevers 1944 einen deutschen Soldaten, und der Japaner fürchtet nichts so sehr wie das Vergessen seiner Heimatstadt Hiroshima zwischen den Fronten des Kalten Krieges.
Man könnte kritisch anmerken, dass die Geschichte des Japaners zu kurz kommt, dass sie, genau genommen, gar nicht erzählt wird. Aber er ist sehr präsent als Zuhörer, als einer, der jeden Schmerz versteht, vielleicht, weil er aus Hiroshima kommt. Seine monotone Responding-Zeile vom Anfang „Du hast nichts gesehen in Hiroshima.“ könnte er am Ende revidieren und ihr sagen, dass sie vielleicht die einzige Touristin ist, die in Hiroshima etwas gesehen hat. Weil sie mit ihrem eigenen Trauma, mit ihrem eigenen Wissen in diese Stadt kam.
Hiroshima kann man nicht, wie auch sonst nichts, per Sightseeing erfahren.