50. Jahrestag des Kniefalls von Willy Brandt in Warschau
Von Angelika Nguyen
Ein Kranz sollte niedergelegt werden und dann weiter im Programm. Aber dann geschah etwas, das als Ikone ins Bilderbuch des 20. Jahrhunderts einging. Denn: die begleitenden Trommelschläge reichten Willy Brandt nicht, nicht der mitgebrachte Kranz, auch nicht das Herumzupfen an den Schleifenbändern. Er guckte nicht nur auf das überlebensgroße steinerne Figurenensemble. Er ging auf die Knie. Er sagte nichts. Vielleicht eine halbe Minute kniete er dort, schweigend auf den regenfeuchten Stufen zum Denkmal und stand mit einem Ruck wieder auf und ging, immer noch entrückt, zur Delegation zurück. Nun war der Staatsbesuch von Bundeskanzler Willy Brandt im Dezember 1970 in Polen an sich schon etwas Besonderes. Erkannte doch der westdeutsche Staat 25 Jahre nach Kriegsende per Vertrag endlich mal die Grenze nach Polen an. Geplant war für den 7. Dezember dann auch jener Besuch am Denkmal des Aufstands im Warschauer Ghetto, für jene jungen jüdischen Männer und Frauen, die 1943 unglaubliche 28 Tage lang den Widerstand gegen die deutsche Armee und SS hielten – und mithin für alle Opfer der Shoa.
Die Geste war spontan. „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ schrieb Brandt in seinen „Erinnerungen“.
Als Mensch also kniete er da, aber schließlich war er auch Bundeskanzler. So kniete er wohl auch für Deutschland, meinten viele und irrten sich.
Denn sein Land – die Bundesrepublik Deutschland – stand nicht unbedingt hinter ihm.
Selbst einem, der den Nazis entkommen war und seine Großeltern im Ghetto Theresienstadt verloren hatte, dem ZDF-Journalisten Gerhard Löwenthal, auch genannt „Karl Eduard von Schnitzler des Westens“, war die Geste Willy Brandts „zu unterwürfig“.
Viel schärfer noch waren die Transparente von Protestdemos, auf denen stand „Hängt die Verräter!“, „Niemals Oder-Neisse-Grenze anerkennen!“, „Hier werden wir Mitteldeutschen verraten!“. Die Träger dieser Transparente kamen keineswegs mit Stiefeln und Glatze daher, sondern wirkten wie empörte Bürger – wie wir sie inzwischen gut kennen.
Und mitten im Kalten Krieg passte die Geste sowieso nur wenigen so richtig. Auf polnischer Seite registrierte Brandt „Befangenheit“, wie er ebenfalls in den „Erinnerungen“ schrieb.
Im Osten Deutschlands, in den DDR-Medien, wurde das Ereignis überhaupt nicht erwähnt. Zu groß war wohl der Neid. Ein solch eindrückliches Gedenken der Opfer des deutschen Faschismus, noch dazu von einem ehemaligen Widerstandskämpfer, der mit seinem Decknamen „Willy Brandt“ in die Politik gegangen und jetzt Bundeskanzler war – das passte in keine DDR-Schublade. Einen solchen Pluspunkt im Kalten Bilderkrieg gönnte der antifaschistische Staat einem westdeutschen Regierungschef nicht. Lieber ließ die Stasi ihn bespitzeln.
Zu denen, die Willy Brandts Geste guthießen, ja, von ihr bewegt waren, gehörten Marek Edelman und Israel Gutman, die einst zu den Aufständischen des Ghettos gehörten und auf verschiedenen Wegen überlebt hatten, sowie Marcel Reich-Ranicki, der aus dem Warschauer Ghetto fliehen konnte und sichtlich berührt vor der Kamera sagte, erst ab diesem Moment habe er gewusst, warum er aus Polen nach Westdeutschland umgezogen war. Und Marek Edelman meinte, das sei ein Zeichen für ein Deutschland, zu dem man „wieder Vertrauen“ haben könne.
So beschrieb auch Egon Bahr, der Brandt damals als Berater begleitete, die Botschaft des Kniefalls mit dem Satz: „Vor diesem Deutschland braucht man keine Angst zu haben.“ Dieser Satz irritiert, wenn man an die „Rattenlinien“ denkt, über die seit Kriegsende 1945 prominente Nazis, unter ihnen Eichmann, Mengele, Barbie, aus Europa fliehen konnten. Die Hoffnung Edelmans schwindet, wenn man an die „Stille Hilfe“ denkt, einen eingetragenen Verein, der seit 1951 – und mindestens bis 2011 – angeklagte und flüchtende Altnazis finanziell, juristisch und sozial unterstützt. Wenn man sich daran erinnert, wie der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer darum kämpfen musste, dass einigen wenigen Auschwitz-Tätern 1964 der Prozess in Frankfurt gemacht wurde und deswegen Morddrohungen erhielt. Wenn man bedenkt, dass Fritz Bauer, als er vom Aufenthaltsort Eichmanns in Argentinien erfuhr, das lieber nicht den deutschen Behörden, sondern dem israelischen Geheimdienst mitteilte. Zu Recht, wie sich später herausstellte, denn der Bundesnachrichtendienst kannte längst Eichmanns Versteck und blieb tatenlos. Auch Mengele, der Massenmörder von Auschwitz, konnte sich sicher sein, dass deutsche Behörden zwar Bescheid wussten, aber nicht zugriffen, wenn er aus Südamerika zu Familientreffen nach Bayern kam. Egon Bahrs Satz und Marek Edelmans Hoffnung stimmen auch nicht mehr, wenn man an den nie aufgeklärten Brandanschlag in einem jüdischen Altersheim in München im Februar 1970 denkt, bei dem sieben Menschen starben, und daran, dass 1972 die deutsche Regierung eine israelische Spezialeinheit nicht ins Land ließ, um die gekidnappten jüdischen Olympiasportler in München zu retten; dass 10 Jahre nach Brandts Kniefall der Rabbiner Shlomo Levin und seine Lebensgefährtin in ihrer Erlangener Wohnung erschossen wurden, von einem Nazi der „Wehrsportgruppe Hoffmann“, die viel zu spät verboten wurde.
Und nicht zuletzt kam Willy Brandt aus einem Land, in dem die „verfassungsfeindliche“, aber legale NPD mit deutschen Steuergeldern unterstützt wurde. Als die Mauer fiel, sagte Willy Brandt in einem Interview: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“. Ein Satz, der bejubelt wurde. Was immer er damit gemeint hat, in Bezug auf die West- und Ost-Naziszene und alle Bürger, die an Stamm- und Küchentischen ihre judenfeindlichen und sonstigen Vorurteile pflegen, hatte er recht.
Sein Kniefall aber, der das Straßenpflaster in der Warschauer Innenstadt für dreißig Sekunden als heiligen Ort definierte, diese Geste, die heute als Jahrhundert-Moment gefeiert wird, geriet damals zwischen alle Fronten.
Heute wird gern so getan, als sei es damals allgemeiner Konsenz gewesen, dass Willy Brandt mit solcher Geste dort, wo das Warschauer Ghetto gestanden hatte, die deutsche Schuld an Shoa und Krieg bekannte – und sein eigenes Mitgefühl. In Wirklichkeit musste er sich rechtfertigen dafür. Weil diese Geste vor dem Denkmal ermordeter Jüdinnen und Juden Empörung bei den Deutschen daheim auslöste – weil selbst das Gedenken vielen von ihnen noch zu viel war.
Das erinnert irgendwie an heute. Seither ist wohl eine Entwicklung geradewegs zu einer rechtsextremen Partei gelaufen, einer Partei, die, salonfähiger als die NPD, im Bundestag sitzt. Deren Fraktionsvorsitzender von dem, wo Willy Brandts Sprache versagte, als einem „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte redete und Applaus bekam. Das erinnert auch daran, dass jüdische Männer in Deutschland ihre Kippa doch lieber erst hinter dem Eingang einer Synagoge und in anderen geschützten Räumen aufsetzen als in öffentlichen Verkehrsmitteln. Vor diesem Deutschland keine Angst haben?
So mutet Willy Brandts Kniefall in Warschau immer auch an wie ein Trotzdem, wie eine Gegenwehr. Eine Geste des Widerstands. Gegen die fatalen Kontinuitäten. Gegen die Kultur des Verdrängens und Vergessens deutscher Schuld. Vielleicht macht das seine Größe mit aus.