Kultur

Kinderwünsche, Wohnungssuche und ein Flüchtlingscamp von innen

Rückblick auf das „achtung berlin“- Filmfestival (15. – 22.4.2015)

Von Angelika Nguyen

Das Berlin-Film-Festival fand zum 11. Mal statt und erfreut sich wachsender Aufmerksamkeit. Filme mit jeglichem Berlin-Bezug werden hier gezeigt: Berlin als Ort der Handlung oder Wohnort von Filmemacherinnen und Filmemachern, als Fluchtort oder Produktionsstätte, Geburtsstadt oder Heimat: Hauptsache, es kommt irgendwie Berlin vor.
Abendfüllende Spielfilme und Dokumentarfilme sind im Programm, mittellange – ca. einstündige – und kurze Filme. Mit „Notes of Berlin“ nahm gar ein Film teil, der noch gar keiner ist, sondern mit Hilfe des Festivals einer werden soll. Blogadaption nennt sich das, denn im Blog „Notes of Berlin“ posten seit Jahren Leute die berühmten Zettel in der direkten Öffentlichkeit, Notizen an Bäumen und Haltestellen, die alle kennen: Suche nach Wohnungen, verlorenen Katzen und dem netten Mann von neulich in der S-Bahn, Danksagungen, Computerreparatur und Tanzunterricht. Die Geschichten, die in diesen Zetteln stecken, sollen verfilmt werden in einem Episoden-Film – eine schöne Idee, der man Glück wünscht.

AchtungBerlin

Indessen war der Film, der in der Pressekonferenz groß angekündigt wurde, eine Enttäuschung: „Lichtgestalten“ lief als Eröffnungsfilm im Kino International. Die Idee klang erst mal ganz gut: Ein wohlsituiertes Paar Mitte 30 in teurer Berliner Maisonette-Wohnung, kreativ im Job und gut bezahlt, will eines Tages alle Brücken hinter sich abbrechen, die Wohnung verlassen, das Mobiliar zerstören, die Jobs aufgeben, sogar seine sämtlichen Internet-Spuren beseitigen und spur-los verschwinden. Wohin, wird nicht ganz klar, und warum das Ganze, auch nicht. Es entsteht keine Handlungslogik und leider auch keine sonst wie geartete Magie, nur Langeweile. Mit einer Handkamera filmen sich die beiden jeweils gegenseitig. Beim Nachdenken, beim Reden über Gefühle, beim Zersägen von Bildern, was martialisch wirken soll, aber doch eher albern herüberkommt. Die Handlung dreht sich um sich selbst wie auch das Paar, Max Riemelt – eigentlich ein angenehm klarer Schauspieler, muss sich dem Nebligen der Filmerzählung einpassen und wirkt wie seine Spielpartnerin Theresa Scholze unschlüssig – als wüssten sie nicht so recht, was sie da spielen sollen. Interessant ist, dass Regisseur, Buchautor und Produzent Christian Moris Müller mit einer solchen Story die Filmförderung überzeugen konnte.
Das komplette Gegenteil von „Lichtgestalten“ ist der aus Crowdfunding finanzierte erfrischende Low-Budget-Film „Das Floß!“, der nach Aussage der Macherinnen Julia C. Kaiser (Buch und Regie)und Julia Becker (Produktion und eine der Hauptrollen) ein Improvisationsprojekt entlang eines nur angedeuteten Buches war. Eines lichtdurchfluteten Morgens liegen, in einer Berliner Altbauwohnung, Katha und Jana, Wange auf Wange, Jana schnarcht, Katha sagt: „Du schnarchst“. So träge und vertraut, so alltäglich hat man selten ein homosexuelles Pärchen im Kino gesehen. Sie wollen heiraten: der Junggesellinnen-Abschied steht an– Katha auf dem Floß und Jana in der Wohnung – ein Samenspender ist auch schon angeheuert, zwecks Familiengründung – ganz spießig normal also, nur dass es eben zwei Frauen sind. Der Film thematisiert nicht die Homosexualität der beiden, sondern Liebe, Eifersucht, Freundschaft und schwebende Momente zwischen allem, Verführung und Betrug am letzten Tag vor dem Bund fürs Leben – das Universale, das in dieser scheinbar besonderen Geschichte steckt. Der Film wird viel mit bewegter Kamera erzählt – ohne dass einem schlecht wird, so gut war der Kameramann, der meistens auf dem Dach des Floßes lag, für lange Einstellungen und große Schwenks. Trotz „Improvisation“ sind hier Story und Drehpunkte und die Beweggründe der Figuren fest im Griff der Macherinnen. Auch darf öfter gelacht werden. Als Momo, der Samenspender, nachts auf dem Floß mitbekommt, dass ihm die 10.000 Euro Honorar womöglich flöten gehen, weil Katha von einem langjährigen Kumpel plötzlich ganz natürlich schwanger werden kann, ist das ein sehr komischer Moment. Gegen Ende des Films sagt Momo den schönen Satz: „Wer hat denn schon eine Anleitung fürs Leben?“ und schwimmt mit dem Frauenpaar auf dem Floß davon wie auf einer winzigen Arche Noah. Das sind Kinomomente!
Erfreulich ist, dass „Das Floß!“ einen Verleih gefunden hat und ins Kino kommen wird, obwohl er auf diesem Festival unverständlicherweise Weise ganz ohne Preis blieb. Gleich danach lief „Nachspielzeit“, ein munterer Berlin-Film, der in Neukölln spielt und in Prenzlauer Berg gedreht wurde – is ja auch egal. Ein Sozialdrama mit Augenzwinkern, ein Kaleidoskop mit vielen Berliner Sozialtypen: der türkisch-stämmige Jugendliche Cem, der kaltherzige Vermieter, kluge Ostler im Altersheim, das geheimnisvolle Mädchen, Gentrifizierer, Fußballer im Verein, Ausländerfeinde. Der Türke Cem und der Deutsche Roman (hinreißend gespielt von dem unvergleichlichen Frederick Lau) werden beim Fußball zu Feinden und kommen bei einer Auto-Explosion wieder zusammen. Das ist alles mit Tempo und Charme erzählt, so dass der Kitsch mit dem Krebs-Mädchen und der Familienzusammenführung im Altersheim am Schluss beinahe zu verzeihen ist. Der Film wurde als beste Produktion ausgezeichnet.
Dichter erzählt und ganz ohne Kitsch war dann allerdings die Regiearbeit von Tom Sommerlatte, der zwei Paare (zwei Brüder und deren Frauen) unter einem Dach in Frankreich zusammenbrachte und erzählte, was sich da en famille so abspielt. Das alte Märchen-Motiv von den ungleichen Brüdern scheint hier durch, und ist gleichzeitig modern aufgehoben. Godehard Giese, auffallend in TV-Filmen als feinnerviger Bösewicht, brilliert in der Rolle des Banker-Bruders. Beide – der Film und Hauptdarsteller Giese – bekamen Hauptpreise des Festivals.
Es war jedoch ein Festival vor allem starker Dokumentarfilme mit vielen Themen und diversen erzählerischen Strategien.
„Generation 89“ interviewt eine Gruppe von Menschen aus einer Gegend bei Dresden, deren Besonderheit es ist, dass sie beim Mauerfall 1989 Jugendliche waren und einen Teil ihrer Sozialisation im Westen erlebten. Die Erschütterung von Grundfesten einer Gesellschaft – Elternhaus, Schule, Staat – als Teil der Erwachsenwerdung zu erleben, bringt eine besondere Prägung mit sich, die die Protagonisten – einschließlich der Regisseurin und Autorin Anke Ertner – ganz unterschiedlich und dann auch wieder sehr ähnlich beschreiben. Das Generationsmoment wird bei aller Individualität der Wege sichtbar. Das ist ein Verdienst dieses sehr persönlich gehaltenen Films, der stimmungsvoll in der Ich-Form und mit krissligen Familien-8-mm- Filmen beginnt. Der Film wird es bei seiner unentschiedenen Länge (72 Minuten) und seiner sympathischen Unauffälligkeit wohl leider schwer haben, ins Kino zu kommen.
Gleich danach flimmerte in dem Dokumentarfilm „Foto: Ostkreuz“ eine Legende über die Leinwand – die Agentur Ostkreuz, gegründet 1990 von sieben renommierten Ost- Fotografinnen und Fotografen – unter ihnen Sybille Bergemann (Porträts, die späten Polaroids), Ute Mahler (Modefotos und mit Werner Mahler die Porträts für die jüngste Schaubühne-Kampagne), Harald Hauswald (Prenzlauer Berg 80iger Jahre in Schwarz-Weiß). Bis heute ist die Agentur Ostkreuz aktiv und lebendig, aber nur – und das zeigt der Film eindringlich – weil sie sich ständig veränderte und immer neue junge Mitglieder aufnahm – zum Beispiel Maurice Weiss (Politik, Bundestag), Annette Hauschild (Serien über Roma in Rumänien), Julian Röder (von der „Front“ dramatischer Demos in Seoul) – und sich mithin neuen Sichtweisen und Techniken stellte. Der Regisseur und Kameramann Maik Reichert nahm sich fünf Jahre Zeit, die Geschichte der Agentur zu erzählen, ihre Besonderheit, ihre Familiarität und ihre aktuellen Sorgen. Denn schließlich geht es bei Ostkreuz wie bei jeder Agentur ums Geldverdienen. Von einer Legende kann man nicht leben. Zu den spannendsten Momenten des Films zählt, als Reichert mit seiner Kamera bei einer Krisensitzung von Ostkreuz dabei ist, als es um die Finanzen geht. In einer Zeit, da jeder überall ständig Fotos mit seinen mobilen Geräten macht, sind Fotografen, die mit ihren Fotos Geschichten auf der Spur sind, fürs Tagesgeschäft zu langsam. Andererseits ist dies das Markenzeichen von Ostkreuz. Das aufzugeben, hieße, eine von vielen zu werden. Nach dem Film standen Mitglieder von Ostkreuz auf der Bühne und sagten, dass sie ihre Agentur in dem Film gut eingefangen sehen – das dürfte mehr sein als ein Werbe-Trick…Der Film wird ins Kino, ins Fernsehen und auf DVD kommen.
Ein persönlicher Film der schmerzhaft berührenden, aber auch komischen Art ist die Dokumentation „Alle 28 Tage“, wo die Regisseurin gleichzeitig die Hauptprotagonistin des Films ist. Thema: Sie versucht jetzt erst, als Anfang Vierzigerin, ihr erstes Kind zu bekommen – „weil bisher das Leben gelebt werden musste“. Der Film zeigt die Regisseurin, Autorin, Kamerafrau Ina Bormann, wie sie drei Mal durch den Prozess der künstlichen Befruchtung geht: Medizincocktails – Eisprung – Entnahme – Befruchtung mit dem Sperma ihres – auch nicht mehr jungen – Freundes im Reagenzglas – das Einsetzen befruchteter Eizellen in ihre Gebärmutter – unermüdlich ist die Regisseurin im Wiederholen des Procederes – und unermüdlich auch sie als Protagonistin – sie verfällt der „Sucht“ (O-Ton behandelnder Arzt) und dem immer mächtiger und zwanghafter werdenden Wunsch, doch noch ein Kind zu bekommen. Das zeigt Ina Bormann schonungslos – und völlig uneitel auch die Krise ihrer Beziehung zum Freund. Das ist einerseits sehr privat, gleichzeitig jedoch ein brisantes Beispiel für ein Phänomen unserer bequemen On-Demand-Gesellschaft – Natur soll keine Rolle mehr spielen, sagen sich moderne Frauen um die 40 – ich bestimme jenseits davon, wann ich mein Kind haben will : jetzt! Aber die Natur will nicht mehr, und die Folge ist Zwang. Das betrifft natürlich nur höhere Einkommensklassen. So eine In-Vitro-Fertilisation hat ihren Preis. Zehntausende Euro hat das Film-Paar am Ende zu zahlen – und kann es offenbar auch. Da hält sich Mitleid in Grenzen. Es bleibt eine bemerkenswerte – im übrigen meistens von der Protagonistin selbst stilsicher gefilmte – Dokumentation über ein typisch spätes Kinderwunsch-Paar, die keinen Festival-Preis bekommen hat.
Am Abend des Tages, als die Nachricht von den 800 toten Geflüchteten vor Lampedusa mal wieder die EU-Politiker entsetzte, hatte ein Studentenfilm über das Protest-Flüchtlingscamp am Oranienplatz Festival-Premiere. Die junge Regisseurin Asli Özarslan erzählte, dass sie über einen langen Zeitraum die Flüchtlinge in Kreuzberg besuchte, in wechselnden Jahreszeiten, sommers und winters. Der Filmtitel „Insel 36“ ist Programm: die alte Postleitzahl von Kreuzberg „1 Berlin 36“ war ein kulturelles Symbol des alten Westberlin. Hier hatte die türkische Immigration Berlins ihr einstiges Zentrum und prägt es bis heute. Hier sind Migranten aus aller Welt heimisch, und hier fühlen sich die Geflüchteten aus Syrien, Marokko, Eritrea, Somalia wohler als in einem Containerdorf bei Dresden. Özarslan spricht mit den entwurzelten Menschen, hört sich ihre Lebensläufe an, zeigt, wie sie in den Zelten schlafen und wie sie ihr Essen machen. Residenzpflicht, Bewegungsverbot, Arbeitsverbot sind die Kernprobleme, die den Flüchtlingen das Leben schwer machen, der Film zeigt den Teufelskreis und die Traumata nach der Flucht. Das Camp am Oranienplatz ist für viele Protestierer nicht nur ein Akt der Verzweiflung, sondern auch eine Insel seltener Gemeinsamkeit. Die einzige Frau unter ihnen hat dabei den Hut auf: Napuli aus dem Sudan. Der Film porträtiert sie. „Insel 36“ war der Jury eine „Lobende Erwähnung“ wert.
Thematisch dazu gehörte der kurze Film „Napps – Memoire of an Invisible Man“ der israelischen Filmemacherin Tami Liberman, die einen jungen Flüchtling aus Afrika zum Protagonisten ihres Filmes machte. Das Problem war nur: er wollte sich nicht filmen lassen, um als Illegaler nicht erkannt zu werden. So machte der Film aus der Not einen Erzählstil. Mr. X , wie er sich selber nennt, nimmt die Kamera selbst in die Hand und zeigt seine Sicht auf die Straßen und Plätze Berlins, spricht im Off vom Flüchtlingsleben in Italien, von den Erinnerungen an seine Großmutter und von seiner Begegnung mit den Flüchtlings-Dealern im Görlitzer Park. Die Idee der Nichtsichtbarkeit ist pragmatisch und politisch zugleich. Der Film wurde vom „Ex-Berliner“ ausgezeichnet.
Ein wichtiges Berlin-Thema sind schließlich Wohnungen – jeder kennt jemanden, der auszieht, einzieht, umziehen will oder umziehen muss. Keine Stadt hat eine solche rasante, auch zerstörerische Umstrukturierung auf dem Wohnungsmarkt je erlebt wie die einstmals geteilte, merkwürdige Stadt Berlin.
„Die Stadt als Beute“ von dem Berlin-Immobilien- Beobachter und Filmemacher Andreas Wilcke – der knackige Titel in bewusster Anlehnung an das politische Theaterdrama – beschreibt die Veränderung Berlins im ständigen Perspektivwechsel zwischen Wohnungssuchenden, Zwangsgeräumten, Maklern, Verkäufern und Verdrängten, Anlegern und Stadtsoziologen. Der Wandel der Stadt wird kritisch gezeigt – nicht im Zuge einer von Verkäufern wie ein Mantra beschworenen „normalen Entwicklung“, sondern als Resultat von Politik im Interesse des Eigentums – gemacht von Leuten, die sicher an guten Berliner Ecken wohnen können.

Das „achtung berlin“-Festival ist zu Ende gegangen, das nächste kommt bestimmt.