„Beginning“, Georgien/Frankreich 2020, Regie: Dea Kulumbegashvili
Von Angelika Nguyen
Der Film beginnt mit einer rund acht Minuten langen Einstellung. Das ist lang für unsere Sehgewohnheiten, sehr lang. Aber man merkt es nicht so recht, weil so viel passiert: Ein kleiner Kirchenraum füllt sich allmählich mit Leuten. Ein paar Kinder werden von einer Frau ganz altmodisch in die Ecke gestellt, weil sie Fußball gespielt haben in ihren feinen Anzügen. Kirchentreffen in einem Dorf in Georgien. Als alle in den Bänken sitzen, erzählt ein Mann da vorn die Geschichte von Abraham und dessen Sohn Isaak. Alle hören zu, die Szene wird ruhig. Dann der Schreck: ein Brandsatz kracht durch die Tür in den Raum. Panik, Schreie, Versuche ins Freie zu kommen. Wir werden gewissermaßen Augenzeugen. In Echtzeit. Die besondere Wirkung dieser Eingangsszene kommt aus der Art der Erzählung. Man muss erst mal umschalten. Von den raschen Montagen der meisten Filme zu lang durchgespielten Szenen ohne Schnitt. Das kann irritieren, auch ermüden, bis man sich umgewöhnt hat. Das fordert eine andere Aufmerksamkeit. Kein Schnitt hebt etwas hervor, wir müssen uns selber heraussuchen, was uns wichtig erscheint.
Denn der Film setzt diese extrem langsame Erzählweise fort. Das brennende Haus ist dann von außen zu sehen, in der einsetzenden Abenddämmerung, Kinder laufen seltsam ausgelassen und unerschrocken herum, an der Kamera vorbei und wieder vor sie. Während das Haus brennt und brennt.
Yana, die Frau, die die Kinder in der Kirche bestrafte und die Gläubigen begrüßte, wird zur Hauptperson. Ihr folgen wir nach Hause, erleben das Gespräch mit ihrem Mann David. Sie reden über den Anschlag, der ihnen, den „Zeugen Jehovas“ galt. Dann reist David ab, Yana bleibt mit dem Sohn zurück. Als ein Polizist in Zivil bei ihr zu Hause sie erst mit Worten drangsaliert und dann, ein paar Szenen später, vergewaltigt, bleibt Yana in sich gekehrt und verschlossen. Dem Sohn erteilt sie ständig Befehle, Rügen, Aufträge. Einmal unterhalten sie sich zu Hause, wobei – wieder in langen Einstellungen ohne Schnitt – erst nur Yana und dann nur der Junge jeweils im Bild zu sehen ist. Die optische Trennung der beiden betont den Abstand zwischen Mutter und Sohn. Wieder droht sie ihm, falls er „lügt“, ruft zusätzlich den abwesenden Vater als Instanz an – und Gott, den sie ja „Jehova“ nennt. Gottesfürchtigkeit ist hier fast dasselbe wie die Furcht vor dem „Mann im Haus“, ein Erziehungskonzept aus früheren Zeiten, sollte man meinen. Später fahren sie zu Yanas Mutter, deren andere, viel jüngere Tochter gerade ein Baby bekommen hat und dann dem Wochenbett in die Arme eines neuen Freundes entflieht. Die Mutter erzählt vom Desinteresse des Kindesvaters, von der früheren Abwesenheit und Gewalttätigkeit auch von Yanas Vater.
All das wird ruhig, unaufgeregt erzählt, in den schon erwähnten langen Einstellungen, wobei die Figuren manchmal das Blickfeld der Kamera verlassen und manchmal wieder hineinkommen, wie auf einer Theaterbühne. Selbst die Vergewaltigung, aus großer räumlicher Distanz und ohne Schnitt über fünf Minuten gezeigt, wirkt in der Ferne seltsam undramatisch und zeitweise eher wie eine Liebesszene.
Diese Erzählart bewirkt, dass man das Warten auf Effekte ablegt, auch auf eine richtige Geschichte. Wir sehen einfach zu, wie die Figuren sich bewegen oder sich nicht bewegen, nehmen Geräusche vielleicht aufmerksamer auf. Einmal liegt Yana während eines Ausflugs mit dem Sohn so lange still mit geschlossenen Augen auf dem Waldboden, zeitweilig unter Vogelgezwitscher und Kuckucksrufen, dass man irgendwann nicht mehr weiß, ob Yana tot ist oder die Szene zum Standbild geworden oder ob der Film jetzt zu Ende ist. Nach fast sechs Minuten erfolgt der erlösende Schnitt in die Totale, und Yana kichert und sagt: „Keine Angst, ich lebe.“
Yana bleibt geheimnisvoll. Einmal sagt sie zu ihrem Mann: „Es ist, als ob ich darauf warten würde, dass etwas beginnt oder endet.“ Auch ihr Verhältnis zum Sohn bleibt ein Mysterium, oft ist sie streng und voller Vorschriften und Gottesverweise, aber auch zärtlich, mal ignoriert sie seine Ängste, mal nimmt sie sie ernst. Der weitere Verlauf dieses Mutterseins ist erschreckend und nicht vorhersehbar. Yana, die ihren Beruf als Schauspielerin nicht ausüben kann, ist konfrontiert mit den Bedürfnissen von Männern und denen ihres Sohnes, bewegt sich scheinbar ungerührt durch diesen Film. Und reißt am Ende alles ein.
Die Rache für die Vergewaltigung erfolgt auf Umwegen und führt zu einer Schlussszene, die schrecklich schön ist, wie ein Gemälde von William Blake. Am Ende verlässt der Film seine eigene Realität, auch Yana taucht nicht mehr auf.
Aber die eigentliche Grenze verläuft in diesem Film nicht zwischen Männern und Frauen, sondern zwischen den Erwachsenen und Kindern. Sie sind es, die noch fern den Sorgen und der Verbrauchtheit ihrer Eltern und Großeltern, hier wirklich noch lebendig sind, die lachen und sich freuen und ängstigen können. Die Bewegungen der Erwachsenen wirken matt. Die wohl schönste Szene des Films ist die, wo eine Gruppe Kinder bei einer Art Religionsstunde befragt werden. Yana, die die Fragen stellt, ist außerhalb der Kamera. Die Kinder aber sind desto besser in deren Blickfeld – frontal und natürlich, ohne Schnittunterbrechung. Konzentriert und ernst und fröhlich und sehr gut von der Regisseurin geführt, befreien sie für ein paar Minuten den Film von seiner Düsternis.
Der Film erzählt eine Geschichte aus dem heutigen Georgien, an einem kleinen Ort nahe den kaukasischen Bergen, wo die Regisseurin aufwuchs. Er erzählt von der Rolle der Männer im Leben von Frauen, von Konventionen, die von ihnen ertragen und mitgestaltet werden und dann, plötzlich, von der Hauptfigur durchbrochen. Wie schon andere georgische Filme der letzten Jahre erzählt auch dieser hier von alten, fest geschnürten Rollenmustern und Moral-Traditionen in dem postsowjetischen Land, das seit dem Zusammenbruch der UdSSR einen gewaltigen, mit anderen Sowjetrepubliken kaum vergleichbaren wirtschaftlichen Abstieg erlebt hat. Hinzu kamen Bürgerkrieg und jahrelanger Ausfall lebensnotwendiger sozialer Grundlagen. Die Regisseurin des Films, Dea Kulumbegashvili (Jahrgang 1986) erzählt in einem Interview davon, dass sie erst mit 17 Jahren ihren ersten Film sah, weil es vorher kaum Strom gab. Kulumbegashvili, aufgewachsen in der Not eines kollabierenden Systems, erzählt hier von einer Frau in mehrfacher Umzingelung. Drei Figuren stehen dafür: ihr Mann David, der den „Zeugen Jehovas“ im Ort vorsteht, einer besonders konservativen Glaubensrichtung, die der Frau Gehorsam vor dem Mann predigt; jener gewalttätige Polizist – und schließlich rechnet der Film auch Yanas Sohn dazu, als zukünftigen Mann. In gewisser Weise rächt sich Yana an allen dreien.
Der Plot des Films sagt jedoch nicht viel. Es ist seine besondere Inszenierung und extrem reduzierte Schnitttechnik, seine radikale Langsamkeit, die ihn ausmachen. Die Cineasten auf den Festivals waren hell begeistert. In Cannes war er in der offiziellen Auswahl, konnte aber wegen Covid19 nicht gezeigt werden; in San Sebastian wurde er – im September 2020 im großen Kino mit anwesendem Publikum gezeigt – mit gleich vier Hauptpreisen ausgezeichnet. In den USA wurde „Beginning“ als georgischer Beitrag für die Oscars 2021 eingereicht.
Die Kinos sind schon lange zu, Kinofilme erscheinen aber nach wie vor. Sie laufen im digitalen Angebot von Verleihen und Streaming-Diensten. „Beginning“ läuft, in Originalversion mit Untertiteln, als hauseigene Release-Veranstaltung bei „MUBI“, einem Streaming-Dienst, der Klassiker der Filmgeschichte und auch Filme und Formate jenseits des Mainstreams zeigt.
Foto: MUBI Deutschland