Von Tomasz Konicz
Berlin am 2.Mai 1945, Foto: Wikimedia, Jewgeni Chaldej, Auf dem Berliner Reichstag, Creative Commons Attribution 4.0 International, Mil.ru
Der Tag des Sieges hatte für mich – da ich in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts politisiert wurde – schon immer einen schalen Beigeschmack, der sich in den letzten Jahren nicht nur verstetigte, sondern verstärkte. Es setzt sich der Eindruck fest, als ob der historische Sieg über den Faschismus uns zwischen den Fingern zerrinnen würde, als ob die antifaschistischen Kräfte, die in einer breiten, selbst Systemkonkurrenz kurzfristig überbrückenden Allianz zusammenkamen, um der Barbarei ein Ende zu setzen, diesen Sieg gewissermaßen rückwirkend verspielen würden.
Damit sind nicht nur die Auseinandersetzungen gegen den überhandnehmenden Geschichtsrevisionismus gemeint, der unter Rückgriff auf die berüchtigte Totalitarismusideologie Faschismus und Kommunismus gleichsetzt, um so den verzweifelten und opferreichen Widerstand gegen den Vernichtungskrieg Nazideutschlands im Osten zu delegitimieren. Dieser insbesondere von der Neuen Rechten und reaktionären Kräften in den östlichen EU-Ländern forcierte Revisionismus ist nach einer Resolution des EU-Parlaments im September 2019 zur offiziellen geschichtspolitischen Linie der EU aufgestiegen, die sogar so weit geht, die Sowjetunion für den gegen jüdische und slawische „Untermenschen“ gerichteten Ausrottungsfeldzug des deutschen Faschismus verantwortlich zu machen.
Das Gedenken an den Sieg über die faschistische Barbarei war in den letzten Jahren nicht nur von diesen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen überschattet, sondern auch von konkreten Kämpfen auf der Straße gegen den aufschäumenden Faschismus – wie etwa während der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Sieges gegen den Faschismus in Berlin, als ein antifaschistisches Bündnis am 8.Mai 2005 einen Aufmarsch von rund 3.000 Nazis blockieren konnte.
Der Aufstieg der AfD in den vergangenen Jahren, deren Spitzenpersonal ausdrücklich Stolz empfindet angesichts der „Leistungen“ der Wehrmacht, verstärkte noch diese ohnehin gegebenen Tendenzen zum Geschichtsrevisionismus, die sich im Parlament und auf der Straße manifestieren.
Wie bei vielen anderen Themenfeldern auch, so profitierte die Neue Rechte von der bürgerlich-konservativen „Vorarbeit“ beim Geschichtsrevisionismus, die nun von ihren Exponenten ins ideologische Extrem getrieben wird. Gerade der rasche Aufstieg von rechtspopulistischen oder rechtsextremen Kräften in Europa und Amerika macht den prekären, gewissermaßen revidierbaren Charakter des Sieges von 1945 offensichtlich. Mitunter sind, etwa in Ungarn, die historischen Erben der faschistischen Kollaborateure Nazideutschlands inzwischen an der Macht – und sie nutzen die aktuelle Pandemiebekämpfung aus, um die Reste bürgerlicher Demokratie auszuhebeln, ohne auf nennenswerten Widerstand der EU zu treffen. Die schleichende Faschisierung hat aber auch die Zentren Europas und die BRD erfasst, in deren Staatsapparat faschistische Seilschaften zunehmend aktiv werden.
Die Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges, das ungeheure Leiden, die furchtbaren Opfer, die zugemutet werden mussten, um dem Wüten Nazideutschlands ein Ende zu setzen – sie scheinen nur einen Aufschub etlicher Dekaden gebracht zu haben. Der Tag des Sieges brachte die Befreiung von der Barbarei des Faschismus, aber er brachte nicht die Freiheit der gesellschaftlichen Emanzipation vom Kapital, dessen Krisenanfälligkeit und Widersprüche auch im 21. Jahrhundert die Brutstätte des Faschismus bilden.
Der Faschismus ist wieder stark, weil das widerspruchszerfressene kapitalistische System, das die Systemkrise der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hervorbrachte, seinen Fall überdauerte. Der Aufstieg der Neuen Rechten vollzieht sich somit in einer ähnlichen, sogar noch schwerwiegenderen Krisenkonstellation wie der Marsch der NSDAP an die Macht in der Weimarer Republik nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929. Der Faschismus als terroristische Krisenform kapitalistischer Herrschaft wird immer dann zur Option, wenn das System an seinen inneren oder äußeren, ökologischen Widersprüchen zu kollabieren droht.
Der „Weltkrieg“ des 21. Jahrhunderts, der der Menschheit die Lebensgrundlagen zu entziehen droht, entfaltet sich gerade in Gestalt der kapitalistischen Klimakrise und der zunehmenden sozialen Verwerfungen, die eine überflüssige Menschheit und ein unmenschliches, selbst Kleinkinder nicht schonendes Lagerregime an der EU-Peripherie produzieren – bei dem schon bürgerliche Kräfte quasi Vorarbeit für die faschistische Enthemmung zur totalen Barbarei leisten. Angesichts dieser evidenten Krisenschübe und der sie begleitenden Faschisierung der spätkapitalistischen Gesellschaften sollte der Tag des Sieges primär nicht als Gedenktag verstanden werden, sondern als Tag der Mobilisierung für die abermals anstehenden Kämpfe gegen die Barbarei im 21. Jahrhundert. Der zuverlässigste antifaschistische ist auch ein antikapitalistischer Kampf um die Systemtransformation, um ein Überführen des Kapitals in die Geschichte – dies erst würde den historischen Sieg gegen den Nazifaschismus irreversibel machen.