Kultur, Osten

Auf den Tag des Sieges

Von Anne Hahn


Magdeburg 1986 Foto: Archiv Anne Hahn

„S dnjom podedy!“, rufe ich und lächle den Uniformierten an. Er ist stehenglieben und dreht uns seine Orden-bestückte Brust zu. Ein goldenes Abzeichen reflektiert einen Sonnenstrahl, blendet mich. Der Mann streicht zögerlich über seinen Schnauzbart und nickt schließlich, klopft auf das helle runde Brot unter seinem Arm und geht weiter. Wir stehen wie angenagelt in der prallen Sonne und blinzeln ihm nach. Richtig, er dreht sich noch einmal um und fragt, „Wohin wollt ihr eigentlich, Kinder?“ Matthias atmet zischend aus, wie immer, wenn er denkt, jetzt haben sie uns. Ich greife nach seiner Hand und schaukele sie, während ich mit der anderen in die steil aufragenden Berge weise. „Wandern, da oben“. Der Mann grinst, schüttelt den Kopf und verschwindet in einem der Häuser.

Es ist der Morgen des 9. Mai 1989. Wir sind vor wenigen Minuten in Mindschiwan, Aserbaidschan, aus dem Zug gestiegen. Hinter uns liegen zehn Tage Urlaub in einer Ferienanlage am Kaspischen Meer, die wir mit zwei Dutzend Pärchen aus dem Bezirk Magdeburg verbracht haben. Anreise per Flugzeug von Berlin-Schönefeld nach Moskau und weiter nach Baku, von dort mit dem Bus an seltsamen Silhouetten vorbei. Staub, flache rote Erde, in sie tunkende Ölpumpen, dahinter hochragende Denkmäler und eine blasse Großstadt. Wir haben frühchristliche Klöster besichtigt, Bakus Neubauviertel und Riesen-Lenin-Statuen von nahem bestaunt, Tennis gespielt, Kwas getrunken und sind jeden Tag geschwommen. Wir hatten Durchfall, Sonnenbrand und Angst.

Wir sind auf der Flucht. Matthias und ich haben uns Ende April von Magdeburg verabschiedet. Freunden und Familie erzählt, dass wir an die Ostsee wollen, Klamotten nähen und verticken. Zogen los mit dem Ticket vom Jugendtourist, Rucksäcken, Hundert Mark Westgeld, gefälschten Pässen, Wanderhosen und -Schuhen. Die DDR hatte sich für uns erledigt, wir mussten nur noch rauskommen. In der kleinen Szene unserer großen Maschinenbaustadt waren wir durch einigen Unfug zu bekannt, um den üblichen Weg über die Tschechoslowakei und Ungarn einzuschlagen, deshalb die Sowjetunion. Am 8. Mai klettern wir in einen Waggon des Nachtzuges von Baku nach Armenien, in der Ferienanlage ahnte keiner etwas. Bei uns in der DDR wird die Befreiung vom Faschismus am Tag zuvor gefeiert, unsere sowjetischen Freunde zelebrieren den Tag des Sieges am 9. Mai – die Uhren gingen `45 mal wieder anders zwischen Moskau und Berlin.
Ich habe mehrfach Gelegenheit, auf den Tag des Sieges zu sprechen zu kommen in dieser Nacht. Jeder Waggon wird von einem Zugbegleiter betreut, zwei Soldaten patrouillieren pro Waggon, ein paar Offiziere den gesamten Zug. Alle fragen nach unseren Pässen und Ziel. Bis auf den aserbaidschanischen Großvater in unserem Abteil kann ich die Männer überzeugen, dass wir wandern gehen wollen – im kaukasisch-iranischen Grenzgebiet! Dass es ein schöner Feiertag wird morgen, wir Ferien haben und uns freuen auf die Berge. Zeige immer wieder unsere grünen buchförmigen Sozialversicherungs-Ausweise, in die wir Passbilder eingeklebt haben. Der Alte sitzt die ganze Nacht auf seiner Pritsche und starrt uns an, kaut auf den Schnurrbartenden. Wir schlafen nicht, mitunter klappern unsere Zähne im Gleichtakt der Schienen.


„Sozialversicherungs-Ausweise, in die wir Passbilder eingeklebt haben…“ Foto: Archiv Anne Hahn

Mindschiwan ist ein Wellblechhüttendorf in den Bergen, das letzte in Aserbaidschan, geradeaus liegt Armenien, hinter dem Aras, der schmelzwasserprall durchs Tal donnert, der Iran. Da wollen wir hin. Es ist früh am Morgen und 40 Grad heiß. Wir stehen schwitzend am Fuß der kahlen Gipfel und murmeln dem Offizier hinterher: Einen schönen Tag des Sieges!

Es ging nicht gut aus für uns an diesem Tag im Kaukasus. Obwohl, wir wandern tatsächlich, überkletterten alle Grenzzäune und wurden nicht erschossen. Kamen bis kurz vor den Fluss, da kriegten sie uns. Wir wurden verhaftet, verhört und zurück gebracht nach Ost-Berlin, am 17. November kam ich aus dem Gefängnis und war die letzte aus meinem Freundeskreis, die im Westen landete. Inzwischen fahre ich mehrmals im Jahr nach Magdeburg, um meine Mannschaft spielen zu sehen. Am 8. Mai werde ich mit alten Freunden nach Rotterdam reisen, ein Zugticket habe ich schon. Es gibt etwas zu feiern: im „Kuip“ von Rotterdam gewann am 8. Mai 1974 der 1. FC Magdeburg den Europapokal der Pokalsieger gegen den AC Milan. Auf den Tag des Sieges!