Kultur, Osten

„Ich wollte schick im Westen ankommen.“

„Der Ost-Komplex“ Dokumentarfilm von Jochen Hick, 2016

Von Angelika Nguyen

Der Ost-Komplex (Trailer Deutsch) from GALERIA ALASKA on Vimeo.

Jedes Jahr im Januar die gleichen Nachrichtenbilder: die immer noch etwas staatlich anmutende Kranzniederlegung durch führende Linke-Politikerinnen und –Politiker an den Gräbern von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin-Friedrichsfelde.
Was die Nachrichten nicht zeigen, sind die Wortgefechte, die sich dort – ebenfalls jährlich – Leute aus verschiedenen politischen Lagern liefern. Linke gegen Linke, Stalinisten gegen Antistalinisten, Rechte Antistalinisten gegen linke Antistalinisten, Antikommunisten gegen Kommunisten, DDR-Nostalgiker gegen DDR-Geschädigte und mittendrin linke Menschen aus dem Ausland, die die Binnenauseinandersetzungen nicht so recht erfassen. Anstoß ist ein vergleichsweise kleiner Gedenkstein „Den Opfern des Stalinismus“, der seit 2006 seinen Platz in der Gedenkstätte hat.
Unter diese Turbulenzen mischt sich die bewegliche Kamera zum Filmbeginn ausgiebig – eine aufregende, authentische Exposition. Stimmungen werden eingefangen, Statements erfragt, andere von ferne beobachtet, manche brüllen sich heiser, dazwischen Polizei.

Wer aus der Gruppe um den umstrittenen Stein sein Hauptprotagonist ist, verrät der Film zunächst nicht, lässt ihn als einen von vielen erscheinen.
Wie andere gibt Mario Röllig sein Statement ab – für die Opfervereinigung.
Dann folgt eine Stimmcollage mit Aussagen von Mario Röllig über seine Festnahme und Verhöre durch die Stasi, damals 1987. Im Bild dazu verkrisselte Aufnahmen aus dem Stasi-Archiv, jetzt bei der Bundesstelle für Stasiunterlagen.
Spätestens da wird klar – Regisseur Jochen Hick arbeitet mit einer Filmsprache, die um ihre Mittel weiß und die weiß, wie sie Spannung aufbaut, was Zuschauende von Anfang an in Atem hält.

In seinen Lieblingssachen habe er sich damals auf den Weg gemacht, erzählt Mario Röllig (Jahrgang 1967), auf die Flucht über die ungarisch-jugoslawische Grenze, 20jährig: mit pinken Socken, schwarzen Lackschuhen, Karo-Jeans. „Warum denn das?“ fragt Hick verwundert. „Na, ich wollte schick im Westen ankommen, nicht so räudig.“ lautet die Antwort. Denn eigentlich war Mario Röllig ganz unpolitisch, nur schwul – und verliebt. In einen arrivierten Westler – und da wurde es politisch. Wegen des Freundes wollte Mario Röllig mal eben über die Ost-West-Grenze rennen, dann Festnahme durch einen ungarischen Wachmann („Ich hätte den Sand fressen mögen, weil ich’s nicht geschafft habe.“), zurück in die DDR, Stasi-Gefängnis, Verhöre, Verrat eigener Bekannter („Ich habe denen mehr erzählt, als die hören wollten.“), Freikauf 1988 in den Westen, 1999 Wiederbegegnung mit seinem Stasiverhörer im KaDeWe, Krise, Depressionen, HIV-positiv. Heute ist Röllig Aktivist gegen das Unrecht in der DDR, Antikommunist, unterwegs als Zeitzeuge in Schulen, im Ex-Stasigefängnis in Berlin-Hohenschönhausen, auf einer Einheitsfeier der Kreis-CDU Dortmund, sogar entlang der Ostküste der USA.

Dabei bleibt der Film dicht an Röllig dran, wechseln die öffentlichen Momente mit ganz persönlichen. So entsteht ein komplexes Bild des Menschen Mario Röllig. Freundlich ist er, zugewandt, der sich gern mit Ex-Kollegin Diana an seinen lukrativen Kellner-Job im Restaurant am DDR-Flughafen Schönefeld erinnert („Wir haben die D-Mark im Schlüpper versteckt“) und an die ungarischen Hotelaufenthalte mit dem älteren Westfreund, der alles bezahlte. Auch eine gewisse Melancholie bei Röllig macht der Film aus – und Heimatlosigkeit. Das letzte Stück Heimat sei ihm bei der Behandlung in der Stasi-Haft verloren gegangen, sagt er einmal.
Das klingt erst mal gut, aber der Film nimmt es nicht einfach so hin. Wie sah denn Mario Rölligs Heimat aus? Der Film geht weiter zurück, dahin, wo Mario Röllig aufgewachsen ist, in eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in Friedrichshagen, wo die Eltern heute noch wohnen.
Dorthin geht Jochen Hick, um etwas über den Sohn zu erfahren, und mit der ihm eigenen filmischen Geduld erfährt er noch viel mehr: wie die Mutter das Essen für zwei macht, Aussicht auf einen grünen Hof, der gedeckte Küchentisch mit Fleisch, Soße, Kartoffeln und Kompott, da ist nicht nur DDR-Gemütlichkeit zu sehen, sondern auch mühsam errungene Nachkriegsruhe, warm, sicher und beschränkt. Und wie der Vater erzählt, dass sie beide selber aus Kommunistenfamilien kamen, erscheint ihre „SED-Treue“, wie es im Jargon der Diktatur-Aufarbeitung heißt, plötzlich als mögliche Reaktion der zweiten Generation auf die Verfolgung der Eltern durch die Nazis. Zugleich wird deutlich, wie fremd sich Mario Röllig in diesem Milieu gefühlt haben muss, mit seinem Anderssein, wie stark irgendwann der Impuls gewesen sein muss, nicht nur der DDR, sondern auch diesem Elternhaus zu entfliehen. Nicht umsonst spricht er von Wut, als nur Monate später, nachdem er im Westen angekommen war, die Mauer aufging und er alle wiedersah, die er hinter sich gelassen hatte. Ein gutes Vertrauensverhältnis gab es offenbar nicht mit den Eltern, denn sie erfuhren erst von der Stasi, dass ihr Sohn homosexuell ist. Bis auf den heutigen Tag können sich sie sich nicht mit seinem Schwulsein abfinden, wünschen sich beide ganz offen in die Kamera „eine hübsche, ordentliche Schwiegertochter“.

Da bekommt man eine Ahnung von Marios Zerrissenheit, von seinem Bedürfnis nach einem Zuhause, nachdem es das hier schon lange nicht mehr war. Integration, Akzeptanz, Ankommen sucht Röllig seither, mit wechselndem Erfolg. Über seinen Marktwert als Zeitzeuge denkt er nach. Bei seinen Führungen in Hohenschönhausen wirkt Mario Röllig auf die Besuchsgruppen sympathisch und authentisch, in den Schulen hören ihm die Jugendlichen aufmerksam zu und fragen nach. Die CDU Dortmund hingegen hat ein Problem mit ihm, und er mit ihr. Röllig redet sich in Widersprüche. Eigentlich sei ja die CDU eine Partei, die er als schwuler Mann „nicht wählen“ könne, noch könne er dort Mitglied sein. Andererseits sei sie die einzige Partei, die mit der DDR als Unterdrückungsstaat „auseinandersetzt“, deshalb sei er dort eingetreten. Ein Dilemma.
Auch bei der Angabe seiner Fluchtgründe trifft Röllig einander widersprechende Aussagen: mal ist es „nur wegen des West-Freundes“ (im Gespräch in seiner Wohnung), mal, weil er „Kapitalismus ganz toll“ findet (in der CDU-Rede). Aber das nützt ihm nichts. Wie sehr der Versuch, eine Art Heimat in der CDU zu finden, tatsächlich zum Scheitern verurteilt ist, zeigen die Reaktionen der Kreismitglieder auf jene Rede zum 3. Oktober. Denn Röllig schont die Leute nicht, kann es nicht. Als er sich als einstigen „dunklen Teil des Doppellebens eines Familienvaters“, bezeichnet, überfordert das sichtlich die Parteigefährten.

Auch lässt man Röllig im Politik-Betrieb gern spüren, wer das Sagen hat, behandelt ihn herablassend bis verächtlich, vor laufender Kamera: da ist der arrogante Auftritt des Dortmunder CDU-MdB Steffen Kanitz, mit direkten Anweisungen an Röllig, er solle in der Rede die Vokabel „Unrechtsregime“ für DDR benutzen, und dort ist die selbstgefällige Unerzogenheit, mit der der alte Kurt Biedenkopf auf der gemeinsamen US-Vortragsreise Rölligs wichtige Bemerkungen über Rassismus in der DDR (wobei Röllig seine eigenen Eltern als Beispiel anführt) auf dem Podium abkanzelt, unverhohlen zur Pause drängt und ihn hinterher rügt wie ein Oberlehrer. Und Röllig lächelt stumm.

Aber es gibt auch den widerständigen, seiner Selbst sicheren Mario Röllig. So verbittet er sich die Inszenierungswünsche des RTL-Journalisten Michael Ortmann in seiner Ex-Stasi-Haftzelle oder widerspricht politischen Mitstreitern, wenn sie national-deutsch werden.
Problematisch hingegen ist Rölligs Gleichmacherei des DDR-Regimes und der Stasi-Opfer mit Nazideutschland und den Opfern der Shoa. So spricht Röllig einmal von der „Chance“, es hier nun mit Wiedergutmachung und Aufklärung „besser zu machen“ als nach 1945. Da hakt Jochen Hick leider nicht nach.

Regisseur, Produzent und Autor Jochen Hick, der hier auch die Kamera mit führt, hat schon öfter in seinen Filmen („DDR unterm Regenbogen“; „Out in Ost-Berlin“) das Spannungsfeld Homosexualität und DDR erkundet, und er versteht es, den Außenseiter-Blick auf eine Mehrheitsgesellschaft zu erzählen. Selten hat man aus genau solcher Perspektive eine private Kaffeegesellschaft im Dokumentarfilm erlebt wie die bei der Familie Röllig in Friedrichshagen.

Ost-Komplex: ein Wort mit vielen Assoziationen. Ein Wort wie aus dem Kalten Krieg, als Bezeichnung eines abgeschlossenen, feindlichen, auch unbekannten Territoriums. Und ein Wort aus der Psychologie: die Komplexe der Ostdeutschen. Aber auch der Begriff Komplexität steckt da drin: der Osten als weites Feld, widersprüchlich, vielfältig, bunt. Auf alle diese Assoziationen lässt sich der Film ein.

Und dann – schon im Abspann – überrascht er noch einmal: mit Rölligs entschlossenem Satz – als ehemaliger Flüchtling – über geflüchtete Menschen, die heute zu uns kommen.

Ein schöner Schluss.

Foto: Vimeo, Jochen Hick © Galeria Alaska Prod.