Kultur, Osten, Politik

Kindheit im Vernichtungskrieg

„Iwans Kindheit“, 1962, UdSSR, s/w, Regie Andrej Tarkowski

Von Angelika Nguyen


Andrej Tarkowskis „Iwans Kindheit“ ansehen: https://www.youtube.com/watch?v=aRkPoF7iVGc

Der vielleicht zärtlichste sowjetische Film über den Großen Vaterländischen Krieg, den Verteidigungskrieg gegen die faschistische deutsche Invasion 1941 bis 1945, beginnt mit dem Traum eines Kindes.

Ein warmer, lichtdurchfluteter Sommertag. Ein schmaler Junge in kurzer Hose, barfuß, beobachtet die Natur, ein Kuckuck ruft, ein Spinnennetz in der Sonne, Kiefern, ein See. Als die Mutter des Jungen auftaucht, läuft er zu ihr, trinkt Wasser aus dem Eimer, den sie gebracht hat. Er lächelt sie an. „Hörst du auch den Kuckuck?“ fragt er. Sie lächelt zurück. Dann hört man plötzlich Schüsse. Eine Kinderstimme ruft „Mama!“. So fährt Iwan, etwa elf Jahre alt, aus dem Schlaf, in einer abgerissenen Steppjacke, auf dem dunklen Dachboden einer verlassenen Mühle, nachts, allein. Der Junge verlässt sein Nachtlager, flüchtet durch die nächtliche Landschaft, durch Trümmer und Rauchschwaden, nahe der deutsch-sowjetischen Kriegsfront entlang des Flusses Dnepr, im Herbst 1943.

Durchnässt und zitternd wird Iwan am Ufer von Rotarmisten aufgegriffen und zu einem Leutnant in einen Erdbunker gebracht. Der Leutnant, selber noch sehr jung, staunt Iwan an, kann nicht fassen, dass dieses Kind allein durch den kalten, von Deutschen scharf bewachten Fluss geschwommen ist und die Front durchquert hat.

Es stellt sich heraus, dass Iwan ein Kundschafter der Roten Armee ist. Per Telefon erhält der Leutnant den Befehl, dem Jungen Papier und Stift für seinen Bericht zu geben. Dabei ist Iwan die ganze Zeit über verschlossen, schroff im Ton, mit forciert tiefer Stimme und unbestimmtem Zorn. Erst als der benachrichtigte Hauptmann Cholin von der Abteilung Aufklärung eintrifft, wird Iwan weicher, seine Stimme hell, er rennt in Cholins Arme wie ein richtiges Kind.

Dann schläft Iwan ein, nach vollbrachtem nächtlichem Einsatz und einem heißen, in Eimern herbei geschleppten, Bad. Der nächste Traum: Das Badewasser wird zu Wasser in einem Brunnen, über dessen Rand Iwan mit seiner Mutter in die Tiefe blickt. Sie unterhalten sich, ihre Stimmen hallen im Brunnenschacht. Wieder die Gewehr-Schüsse am Ende: die Mutter liegt wie tot am Brunnenrand. Im Schlaf wird Iwan wieder zum Kind. Wenn er keine Kontrolle mehr hat, ruft er nach seiner Mutter, träumt von ihr und seiner kleinen Schwester. Wieder wach, erkundigt sich Iwan prompt beim Leutnant, ob er im Schlaf geredet habe. „Früher hab ich nie im Schlaf geredet. Mit mir muss wohl was nicht in Ordnung sein.“ sagt er.

Einmal, als man Iwan eine Zeitlang allein im Bunker lässt, liest er die russischsprachige Inschrift an der Wand, von Rotarmisten oder Partisanen, die vor nicht allzu langer Zeit dort von den Deutschen gefangen gehalten wurden, als diese noch auf dem Vormarsch Richtung Moskau waren und wohl selber diesen ehemaligen Kirchen-Keller als Unterstand ausgebaut haben. „Wir sind acht. Keiner von uns ist älter als 19.“ steht da geschrieben. „In einer Stunde wird man uns erschießen. Rächt uns!“ Für Iwan ist diese Botschaft ganz persönlich. Ja, das will er: Rache. Für jene unbekannten Hingerichteten, klar, aber vor allem für seine Familie. Das ist es, begreift man allmählich, was dieses Kind antreibt. Den Schock des Verlustes, die Trauer, den Schmerz, den Zorn auf die Täter… Das alles hat Iwan verwandelt in Energie, um die Deutschen aus dem Land zu treiben bis nach Berlin. Bis sie besiegt sind. Bis sie wissen, was es heißt, die eigene Behausung verwüstet zu finden und die Liebsten tot. Dafür schwimmt Iwan nachts durch den Dnepr unter Beschuss, dafür mimt er im operativen Feindesland ein Bettelkind und beobachtet derweil aufmerksam ihre Militärtransporte, dafür friert und hungert er. Immer wieder versuchen seine Vorgesetzten von der Aufklärung, ihn aus dem Krieg zu nehmen und ins sichere Hinterland zu bringen. Aber aus dem Schulinternat war Iwan wieder ausgerissen. „Was soll ich da?“ erklärt er dem Leutnant. „Mir den Bauch mit Grütze vollschlagen und lernen, was Pflanzenfresser im Leben der Menschen bedeuten?“ Auch die Militärschule kann ihn mal. Soll er dort pauken, was er längst aus eigener Erfahrung kennt? Lieber zur Front, zur Aufklärung, wo sich Dinge entscheiden. Den Feind mit eigenen Augen sehen und die Niederlage der Deutschen mit herbeiführen.

Als Iwan vor der Fahrt zur Militärschule wieder ausreißt, landet er irgendwo in einem Dorf, das die Deutschen niedergebrannt haben. Er trifft einen alten Mann, von dessen Haus nur noch der Ofen und die Eingangstür stehen. Durch diese Tür guckt der Alte, ein Huhn im Arm und bittet Iwan „herein“. Er fragt Iwan nach seiner Mutter, woraufhin der nur schweigt. Der Mann versteht. „Meine Alte haben die Deutschen auch erschossen.“ sagt er. Dann will der alte Mann jedoch wiederum das Haus in Ordnung bringen, weil seine „Pelagaja bald zurück kommen“ wird. Iwan hält sich eine Hand vors Gesicht, die Verrücktheit des Alten geht ihm nahe. Als seine „Ersatzväter“ Katasonnitsch und Grjasnow, die Vorgesetzten von der Aufklärung, ihn aufspüren und mit dem Auto mitnehmen, lässt Iwan noch mal anhalten und legt dem Alten ein Brot und eine Konservendose auf den rußgeschwärzten Brunnenrand. Eine Geste des Mitgefühls. Aber der Alte sieht an dem Brot vorbei in eine unbekannte Ferne, eine Träne rinnt ihm übers Gesicht. Dann verriegelt er die Tür, die keine Tür mehr ist.
Im Auto wollen die beiden Männer Iwan erneut überzeugen oder auch wechselweise befehlen, sich in Sicherheit zu begeben. Sie nennen ihn Wanja und noch zärtlicher in der weitergehenden Verkleinerungsform Wanjuscha, wie in der russischen Kultur bei kleinen Kindern üblich, um zu betonen, dass er nicht an die Front gehört, dass er Kind ist. Liebesbotschaft und Ermahnung in einem.

Vergebens. Iwan setzt sich schließlich gegen die Erwachsenen durch und zieht wieder los, hinter die feindlichen Linien, mit einem neuen Auftrag. In diesem ganz unkindlichen Verhalten zeigt sich die tiefe Verletzung des Kindes. Wo soll er hin, nach all diesen Erlebnissen, nach dem Tod seines Vaters, eines Grenzsoldaten der ersten Kriegstage, und nach dem Mord an seiner Mutter und seiner kleinen Schwester, nach dem Todeslager für Kinder in Trostjanka, von dem er einmal erzählt, nach seiner Einkesselung durch die Deutschen, als er bei den Partisanen kämpfte?

Frieden, das kann Iwan vielleicht gar nicht mehr. Das hieße, zur Ruhe zu kommen. Und kämen dann die Dämonen seiner Träume nicht erst recht?

„Was der Junge durchgemacht hat“, sagt Cholin zu Galzew. „das kannst du dir gar nicht vorstellen.“

Er wirft einen Stuhl in Richtung Kamera. Unversehens geht diese Szene über in echte Dokumentaraufnahmen vom Sieg der Roten Armee in Berlin, Kameraden werden vor Freude hoch in die Luft geworfen, das Katjuscha-Lied mit Tanz nahe der Museums-Insel, die zerstörte Reichs-Kanzlei, Selbstmorde von Nazifamilien. Das verkniffene Gesicht von Keitel, einem direkt Verantwortlichen deutscher Kriegs-Verbrechen in der Sowjetunion, bei Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde. Überall weiße Tücher an den Fenstern.
Aber der Film endet nicht siegestrunken in Berlin. Er endet, wie er begann: in einem Angst-Traum von Iwan.

Plakat zur Kinopremiere in der DDR 1962, ©DEFA-Stiftung/Werner Gottsmann

1962 erschien dieser Film, als der Sieges-Jubel von 1945 längst verklungen war. Nach Stalins Tod neun Jahre zuvor hatte das innenpolitische Tauwetter in der Sowjetunion eingesetzt und erlaubte in den Filmen über den Großen Krieg gegen das faschistische Deutschland im Subtext auch eine Auseinandersetzung mit den Missständen im realen Sozialismus. Wenn Iwan von denen spricht, die sich vor dem Krieg drücken und sich im Hinterland den „Bauch mit Grütze vollschlagen“ und sie „Schmarotzer“ nennt, meinte der Regisseur Tarkowski auch diejenigen der politischen Funktionärs- und Behördenschicht in der SU, die Privilegien und Befugnisse gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung genossen und ein neues System von Ungleichheit geschaffen hatten. Die historische Zuversicht war brüchig geworden, die Sieger der Geschichte nicht mehr ganz so überzeugend. Da wurde es desto wichtiger, jenseits der großen Sprüche das, was damals im Krieg geschah, zu verstehen und offen auch die eigenen Leute zu kritisieren. Wie in der Geschichte von Iwan eben, die unter dem Titel „Leuchtspur über den Strom“ zuvor schon als Kinderbuch von Wladimir Bogomolow in der DDR erschienen war. Iwan erlebte die Befreiung in Berlin nicht mehr.

Der Befreiungsbegriff zum 8. Mai, der in der DDR zum Gründungsmythos gehörte und in der BRD seit der Bundestagsrede von Richard von Weizsäcker 1985 ebenfalls endlich anerkannt wurde, wird nach wie vor von rechts scharf bekämpft. Aktuell, anlässlich der Forderung, den 8. Mai endlich zum deutschen Feiertag zu erheben, auch offen im Bundestag. Die parlamentarische Rechte, auch als Vertreter der Nazis in diesem Land, meldet sich dazu mit einer neuen dreisten Äußerung. Der 8. Mai sei „für die KZ-Insassen (…) ein Tag der Befreiung gewesen“, andererseits für Deutschland „ein Tag des Verlustes von großen Teilen“ und „von Gestaltungsmöglichkeit“, so AfD-Fraktionschef Gauland.

Man kann froh sein, dass es zu dieser “Gestaltungsmöglichkeit“ nicht mehr gekommen ist. Das, was die Deutschen bis zu ihrer Niederlage im Zweiten Weltkrieg angerichtet hatten, reicht schon als Anschauungsbeispiel.

Iwan war keine Erfindung. Es gab diese Kinder in der kriegsverwundeten Sowjetunion. Der jüdisch-russische Kriegsfotograf Jewgeni Chaldej, dessen Familie von deutschen „Einsatzgruppen“ ermordet wurde, hat 1945 in Wien einen solchen namenlosen russischen Kindersoldaten fotografiert. Der war dreizehn, genauso alt wie Iwan bei der Befreiung gewesen wäre. Er stammte aus Kiew und sagte zu den Soldaten: „Meine Eltern sind tot, nehmt mich mit.“ Er und Wanja, sie haben gesehen, was die deutsche Armee und ihre Helfer in der Sowjetunion mit den dort lebenden Menschen gemacht haben.

Die beiden Jungs verstehen heißt, diesen Krieg zu verstehen. Und die Befreiung und den Sieg. In Berlin.

Nachsatz:

Der Film „Iwans Kindheit“ sollte eigentlich am 7. Mai., dem Vorabend des 75. Jahrestages der Befreiung im Robert-Havemann-Saal des Hauses der Demokratie und Menschenrechte aufgeführt und besprochen werden. Diese Veranstaltung wird nachgeholt, sobald wie möglich.

Die DVD: erschienen bei Icestorm.