Von Thomas Klein
Eine Bestandsaufnahme
Seit 1945 feierte man in ganz Europa und darüber hinaus jedes Jahr am 8. bzw. am 9. Mai den Tag des Sieges der Anti-Hitler-Koalition über Nazi-Deutschland. Die nationalen Besonderheiten der Begehung dieses Tages als Feier- und/oder Gedenktag waren von Anfang an beträchtlich – nicht allein ausgedrückt im Unterschied als Feier des Sieges oder als Tag der Befreiung. Einvernehmlich war jedoch bei denen, die diesen Tag feierten, das Narrativ des Antifaschismus, in dessen Zeichen auch das Gedenken und die Erinnerung stand. Seit 1985 bekam dieser Tag als „Tag der Befreiung von der Nazi-Gewaltherrschaft“ schließlich auch in der (alten) Bundesrepublik seine Anerkennung, die dann im vereinigten Deutschland offiziell weiterhin Bestand hatte.
Nun hat Russland seinen Überfall auf die Ukraine im Jahr 2022 u. a. gerade auch mit diesem Narrativ propagandistisch gerechtfertigt: Der Einmarsch stünde im Zeichen der „Entnazifizierung“ der Ukraine, der „Befreiung“ des Landes von einem „Nazi-durchsetzten Regime“ mittels einer russischen „militärischen Sonderoperation“, begleitet von einer gewaltsamen „Demilitarisierung“ des Landes. Diesen Überfall „Krieg“ zu nennen, ist in Russland strafbewehrt. Begrifflich verweist der Euphemismus einer „militärischen Sonderoperation“ eher auf die ursprüngliche russische Illusion, im Stil der sowjetischen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 die Ukraine 2022 ebenso wie damals die Sowjets die CSSR rasch unter Kontrolle bringen zu können.
Auch der realitätsnähere Verweis Russlands auf dessen Sicherheitsinteressen im Ringen zwischen NATO/USA/EU und Russland um die Ukraine im Vorfeld der mit der Krim-Annexion und der Sezession ostukrainischer Separatistenregionen bereits 2014 begonnenen militärischen Auseinandersetzungen ändert nichts daran, dass die überwiegend weltweite Ächtung des russischen Kriegshandelns seit Februar 2022 auch zur Diskreditierung des antifaschistischen Narrativs führte, sofern es russischerseits oder seitens seiner Verbündeten ins Feld geführt wurde. Diesen Überfall mit einer als zynisch empfundenen russischen Bezugnahme auf den antifaschistischen Konsens der Kriegsalliierten des 2. Weltkriegs zu versehen, hat auch die Akzeptanz des historischen Gedenkens und der Feier des 8./9. Mai schwer beschädigt. Denn wer schlagartig und ankündigungslos ein ganzes Land überfällt, steht im Kontext der Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ zweifellos als Aggressor da. So hat jetzt beispielsweise Lettland alle öffentlichen Feierlichkeiten zum 9. Mai verboten zugunsten eines Tages des Gedenkens an die zeitgenössischen ukrainischen Kriegsopfer. Dass der russische Überfall auf die Ukraine unter antifaschistischem Signum den 8. Mai nicht nur in Deutschland massiv ins Zwielicht rücken wird, ist einer der Kollateralschäden, den das Putin-Regime verursacht. In der Transition „Sowjetunion -> Russland“ werden in Ländern des postsowjetischen Bereichs außerhalb der heutigen russischen Dominanzsphäre alle mit Russland assoziierten Gedenksymbole des Weltkriegsendes verboten. Während Putins Russland den 9. Mai als Tag des Sieges der Roten Armee zunehmend erfolgreich für sich vereinnahmt hat (so mit Siegesparaden), zeigt das Ausweichen des Gedenkens etwa in Polen und der Ukraine vom 9. auf den 8. Mai sowohl deren Distanzierung von Russland als auch weg von dessen Sieger-Narrativ hin zum Gedenken als dem 8. Mai als Tag des Friedens und der Opfererinnerung.
Doch auch jenseits dieser tragischen Entwicklung gab es schon lange vorher Kontroversen um einen angemessenen Umgang mit dem historischen Gedenken und dem Charakter einer Feier des Siegs der Anti-Hitler-Koalition über den Faschismus. Damit ist noch nicht einmal das in der Nachkriegs-BRD gepflegte Narrativ eines „Trauergedenkens“ an den „Tag des Zusammenbruchs“ am 8. Mai 1945 gemeint: Allein die Tatsache, dass die Völker der Sowjetunion unter den Alliierten die Hauptlast des Krieges trugen (ihnen also auch der größte Anteil am Sieg zukam) und sie zudem die größten Opfer des Krieges (27 Millionen Tote – gar nicht zu reden von den enormen wirtschaftlichen Schäden) zu beklagen hatten, führte folgerichtig zu einer entsprechenden Gewichtung im Gedenken und manchmal auch bei der Begehensweise der Feier des Sieges. Zuweilen gerieten dann auch jene Feiernden, welche die Ambivalenz des Charakters der Anti-Hitler-Koalition im Lichte der Vorkriegs-Konflikte und der Nachkriegs-Dynamik hin zum Kalten Krieg uneingeschränkt anerkennen, in den Verdacht einer Beschönigung, Verharmlosung oder sogar Rechtfertigung des real existierenden Stalinismus in der Sowjetunion und/oder ihrer ost- und südosteuropäischen Nachkriegs-Satellitenregime. Allein die Betonung der Bedeutung der Roten Armee für den Sieg rechtfertigten in den Augen mancher Kritiker schon den Eindruck einer „Feier der Sowjetunion“ – ergo des stalinistischen Regimes. Hier liegen auch die Wurzeln der nunmehr 30 Jahre andauernden Renaissance einer Pflege des Gedenkens und anhaltender Traditionspflege nationalistischer, rechtsradikaler oder sogar faschistischer Bünde im Kontext des „antisowjetischen nationalen Befreiungskampfes“ im Baltikum und in ehemals sowjetisch beherrschten Ländern des Ostens. Umgekehrt sahen sich Kritiker einer Feier des Sieges in Hinblick auf deren Warnungen vor der Gefahr einer Verdrängung der Erinnerung an die stalinistischen Verbrechen – auch der Verbrechen des stalinistischen Regimes am eigenen Volk – dem Vorwurf ausgesetzt, den gesamteuropäischen antifaschistischen Konsens der Feier dieses Sieges über den Faschismus abzuwerten.
Doch auch jene Kritiker, die in einer Feier des Sieges am 8. Mai eine Geringschätzung der Erinnerung an die ungeheuren Opfer des Krieges durch die Überbetonung des Charakters dieses Tages als Feieranlass wähnen, wogegen aus ihrer Sicht eher das Gedenken an den Blutzoll des Krieges angemessen wäre, argwöhnten mitunter, hier würden sich spätgeborene Antifaschisten billig den opfergesättigten Sieg über Nazideutschland auf die eigene Fahne schreiben wollen.
Nun steht der 8. Mai ebenso wie der 9. Mai im Zangengriff der Gefahr, entweder das Weltkriegsgedenken den Befürwortern des russischen Angriffskrieges zu überlassen oder diese Erinnerung verschüttet zu sehen von neobellizistischen „Westlern“, die ihre „Werte“ in der Ukraine bis zum letzten Ukrainer gegen Russland durchsetzen wollen. Zusätzlich droht der populistische Aufschwung nationalistischer, rechtsextremer und sogar neonazistischer Bünde und Parteien nicht nur im postsowjetischen Raum, sondern auch in ganz Westeuropa, den mühsam errungenen europäischen antifaschistischen Konsens zu überwältigen. Dies umso mehr, als beim „großen Antagonisten“ Russland der Vorrat an solchen einflussreichen extremistischen Rechtsauslegern und Neofaschisten womöglich sogar noch größer ist, als in den Ländern der Koalition gegen Russland. Die russische Unterstützung etwa von Le Pen in Frankreich und ähnlicher Strömungen in Westeuropa zeigt dabei deutlich, wie „antifaschistisch“ das heutige russische Regime entgegen seiner Lippenbekenntnisse tatsächlich ist.
Antifaschismus im Spannungsfeld des Ukraine-Krieges
Die auffällige Zurückhaltung westeuropäischer Leitmedien in ihrer Ukraine-Berichterstattung über die rechtsnationalistische Asow-Bewegung wie über die Formationen der rechtsradikalen Parteien „Rechter Sektor“ und „Swoboda“ ist nachvollziehbar: Denn die Dekuvrierung ausgewiesener Nazis unter ihnen und die Tatsache, dass beispielsweise das Bataillon Asow in die Nationalgarde integriert wurde und so direkt dem ukrainischen Innenministerium unterstellt ist, würde als Bekräftigung der russischen Propagandanarrative verstanden werden und eine unappetitliche Nähe der NATO-Ukraine-Allianz zu neonazistischen ukrainischen Formationen signalisieren, denen die Verehrung des antisemitischen Nazikollaborateurs Stepan Bandera gemeinsam ist. Dessen Verehrung als Nationalheld findet man auch bei ukrainischen Spitzendiplomaten. Die Dämpfung solcher unerwünschten Assoziationen erfolgt gemeinhin unter Hinweis auf die inferioren Wahlergebnisse der Parteienableger dieser ultranationalistischen rechtsextremen Vereinigungen (so zum Beispiel durch die Bundeszentrale für politische Bildung). Damit werden allerdings die anwachsende Popularität und der zunehmende Einfluss etwa der Asow-Bewegung heruntergespielt, deren militärische Formationen offiziell das Symbol der Wolfsangel (u. a. das Wappen der 2. SS-Panzerdivision „Das Reich“) tragen und sich zuweilen sogar mit dem Hakenkreuz dekorierten. Es gibt also nicht nur die Verbreitung von „fake-news“, sondern auch die Abwertung von „real-facts“ im Propagandakrieg der Antagonisten.
Für linke Antifaschisten sollte es selbstverständlich sein, weder die Existenz von Nazis in der Ukraine und deren wachsenden Einfluss zu leugnen, noch sich den propagandistischen Täuschungsversuchen des Putin-Regimes unter Missbrauch des antifaschistischen Narrativs zur Verschleierung der wirklichen russischen Kriegsziele zu beugen. Denn wenn ein Regime, das alle oppositionellen politischen Minderheiten unterschiedslos und massiv kriminalisiert, seine homophobe Diskriminierungspraxis fortlaufend verschärft, die Gleichschaltung von Medien und Justiz betreibt sowie die Präsidialdespotie hin zu einer manifesten Diktatur zu steigern im Begriff ist, im Namen dieses antifaschistischen Narrativs Krieg zu führen vorgibt, kann das nur noch zynisch genannt werden. Ebenso wachsam müssen linke Antifaschisten aber auch gegenüber wieder erstarkenden Tendenzen in Europa sein, im Namen des Kampfes für „Freiheit und Democracy“ und begünstigt von einer Atmosphäre der Kriegshysterie, patriotischer Autosuggestion und aggressiver militaristischer Agitation neuerlich faschistische Formationen zu tolerieren – nun statt im Namen des Kampfes gegen das „Reich des Bösen“, die Sowjetunion, wie bis vor 40 Jahren, nun im Kampf für die Schwächung Russlands im Namen der „europäischen und transatlantischen Werte“ (Biden). Der 8. Mai bleibt als Tag der Befreiung und des Sieges über den Faschismus europaweit ein Feiertag – trotz Rotz und Stalinismus, trotz Kriegsgeschrei und neuen heißen Kriegen weltweit.