Kultur, Politik

Am achten Tag im Mai

Von Jochen Knoblauch

Manchmal stelle ich mir vor
ich wäre Neunzehnhundertdreiunddreißig
achtzehn Jahre alt gewesen

Vielleicht hätte ich Uniformen gut gefunden
Vielleicht hätte ich Juden gehaßt
Vielleicht hätte ich mich auf Krieg gefreut
Vielleicht hätte ich fremde Kinder ermordet

Manchmal stelle ich mir vor
ich wäre Neunzehnhundertdreiunddreißig
achtzehn Jahre alt gewesen

Vielleicht wäre ich ein Jude gewesen
Vielleicht wäre ich ein Dichter, der die deutsche Sprache liebt
Vielleicht wäre ich gerade verliebt
Vielleicht wäre ich gerade unter der Dusche in Auschwitz

Manchmal stelle ich mir vor
ich wäre Neunzehnhundertdreiunddreißig
achtzehn Jahre alt gewesen

Vielleicht, vielleicht vielleicht
Vielleicht könnte ich gegen Krieg sein
Vielleicht könnte ich gegen Rassismus sein
Vielleicht könnte ich gegen Antisemitismus sein

Manchmal stelle ich mir vor
ich wäre Neunzehnhundertdreiunddreißig
achtzehn Jahre alt gewesen

Vielleicht muß ich gegen Krieg, Rassismus und
Antisemitismus sein, weil ich ein Mensch bin
Vielleicht muß ich jetzt dagegen sein
weil wir aus unserer Geschichte lernen müssen

Vielleicht – nein, kein Vielleicht mehr
auf alle Fälle gegen Faschismus &
ich bin froh Neunzehnhundertdreiunddreißig
noch nicht gelebt zu haben.

P.S.
Die weißen Fahnen ließen sich
ungefragt in die Halterungen
anbringen, die zuvor für die
Hakenkreuzfahnen angebracht wurden.

Die DDR-Fahnen ließen sich
ungefragt in die Halterungen
anbringen, die zuvor für die
Fahnen der Kapitulation gedient haben
(Der Bundesadler verkroch sich hinter dem Kreuz
gänzlich ohne Haltung)

Bauen wir die Halterungen
ungefragt ab, bevor die nächsten
Fahnen uns ins Unglück stürzen.

Foto: Bensheim, Jerry Rutberg, gemeinfrei