Ein Gespräch mit dem Dresdner Stasi-Auflöser1 Wolfhard Pröhl
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telegraph: Herr Pröhl, was können Sie uns als ehemaliger Stasi-Auflöser zum „Fall Andrej Holm“ sagen.
W. P.: Nun gut, aus eigener spezieller und langjähriger Erfahrung kann ich mich mal qualifiziert hierzu äußern. Wir haben uns immer bemüht, die Wirklichkeit nicht mit Ja/Nein-Entscheidungen abzubilden. Im „Fall Andrej Holm“ hatte ich mich im Netz ähnlich gemeldet und bin von Freunden um diese Stellungnahme gebeten worden.
telegraph: Ist das nötig?
W. P.: Ja, weil vor allem und zu Recht von Andrej Holm erwartet wird, ehrlich zu sein. Wenn dies aber mit den MfS-Akten gespiegelt wird und viele Leute Ehrlichkeit nur anerkennen wollen, wenn er exakt den Wortlaut dieser Akten zitiert, dann wird es absurd.
telegraph: War er denn nun hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS?
W. P.: Ein ganz klares JA. Das wussten 1989 so aber diejenigen, die die KuSch-Akten2 anlegten und wir wissen es heute, weil wir diese einsehen können.
Andrej Holm war zeitig Berufsoffiziersbewerber und begann beim MfS als Offiziersschüler (OS). Allgemein bekannt war, dass ein OS bei der DDR-Armee drei Jahre Studium bis zum Leutnant brauchte. MIG-Piloten sogar vier. Er muss sich selber als einen ‚MfS-Azubi‘ gesehen haben, der verschiedene Stationen einer Ausbildung durchläuft, um dann spätestens nach dem Studium ‚richtig‘ beim MfS anzufangen.
Um es mal ‚westdeutsch‘ zu sagen: Es wurden natürlich keine getrennten Verträge für Ausbildung und Mitarbeit abgeschlossen. Andrej Holm befand sich in einem (langjährigen) Ausbildungs- und nicht in einem Arbeitsverhältnis. Als OS seit wenigen Wochen hat ihn weder beim MfS jemand für voll genommen, noch hätten wir dies bei der Auflösung getan. Ich halte es auch für sehr schwierig, z. B. einen IM-Führungsoffizier im Rang eines Majors mit einem OS quasi gleichzusetzen. Die Bewertung ersterer Tätigkeit verrutscht dadurch ins Harmlose.
telegraph: Das ist Ihre Einschätzung von heute?
W. P.: Nein. Wir haben in Dresden im Januar 1990 begonnen, die neuen Jobs der Hauptamtlichen zu durchleuchten. Es gab Befürchtungen von Fehlbesetzungen (z. B. als Lehrer) oder einer Machtkonzentration. Wir hatten schließlich im Frühsommer 1990 ca. 80% der MfS-Beschäftigten im Bezirk Dresden (BV) mit ihren neuen Arbeitsstellen abgefordert und so die Forderung ‚Stasi in die Volkswirtschaft‘ begleitet. Das werden 2500 Menschen gewesen sein. Die Ranghöchsten waren meist die Ältesten und gingen in Rente. Der größte Teil hatte Ränge von Leutnant bis Major, fast alles Männer im Übrigen. Dagegen waren ‚Berufsanfänger‘, also junge Leute von der Wach- und Sicherungseinheit (WSE) oder eben OS wie Holm eher harmlos. Die vereinfachende Gleichsetzung von Wachregiment (WR) mit WSE wurde damals schon übernommen. Was denn sonst?
telegraph: Gab es das häufig?
W. P.: An OS in Dresden kann ich mich nicht direkt erinnern, wohl weil die Ausbildung außerhalb war. Es gab eine Art Fachschulstudium oder eben die Stasi-Hochschule Potsdam-Eiche.
Einmal sind OS der BV Dresden angekommen und haben ihre Entlassungspapiere geholt. Außer „Na, Glück gehabt Jungs, macht was draus!“ war da nichts von unserer Seite.
telegraph: Aber Herr Holm war doch direkt in einer MfS-Diensteinheit, der AKG.
W. P.: Dies hing wohl mit seiner beabsichtigten Delegierung zum Journalistik-Studium zusammen. So hätte seine ‚Ausbildung‘ sogar noch länger gedauert. Weil jedoch Andrej Holm nach dem 7. 10. von der Grundausbildung kam, ist mit ihm bis Mitte November nicht viel passiert – und durch ihn auch nicht: der sehr restriktive Militärapparat des MfS hat ja nicht gerade auf einen 19jährigen Berufsanfänger gewartet. Ab 18. 11. galt dann Modrows Anordnung zur Umwandlung in ein AfNS3 und ab da hatte das MfS genug mit sich selber zu tun. Erst recht nach den Besetzungen im Dezember passierte hier nichts mehr.
Es ist deswegen Unfug, von einer Dienstzeit 1. 9. bis 31. 1. auszugehen und genau so ist zu verstehen, dass Holm zwar möglicherweise eine turbulente Zeit in Erinnerung hat, aber seine eigene Rolle beim MfS als absolut unbedeutend sieht.
telegraph: Hätte er nicht trotzdem beim Fragebogen …
W. P.: Nun hatte er ja nicht seine Kader-Akte unterm Arm. Im Fragebogen gibt es die Rubrik ‚Stasi-Azubi‘ leider nicht und für das, was er dort gemacht hat und welche Position er dort einnahm, ist ein „Nein, siehe WR“ für mich weit näher an der Realität als ein Ja. Würden Sie die Leute von KuSch fragen, käme eine andere Auskunft. Aber die waren ja auch sehr stolz darauf, mehr zu wissen als die anderen.
Wenn Sie mal Azubis bei Siemens fragen, ob die dort arbeiten, werden sicher auch nicht alle ja sagen, einige vielleicht ‚später sehr gerne mal, jetzt lerne ich dort‘. So sehe ich die Sache mit Andrej Holm. Es wird ja auch niemand behaupten – so hoffe ich – dass Holm mit 14 Jahren beim MfS begann, weil er ja damals schon unterschrieb!
Durch seinen eigenen sehr offensiven Umgang mit diesem Lebensabschnitt nach seiner U-Haft 2007 halte ich die heutige Debatte erst recht für völlig verquer. Die Uni als sein Arbeitgeber hatte ab da einen vollen Überblick und hat nicht reagiert – was soll sie jetzt anders sehen?
telegraph: Und RA Eisenberg sagte sowieso, er dürfe auch lügen.
W. P.: Was halt RA‘s so sagen. Ich teile diese Meinung nicht. Natürlich darf man lügen, wird aber beim Erwischen dann auch zu Recht bestraft. Für mich hat Andrej Holm nicht gelogen.
telegraph: Was halten Sie von der ganzen Diskussion nach nun 27 Jahren?
W. P.: Die sehe ich als ziemlich interessengeleitet. Die Stasi eignete sich prima als Prügelknabe, so wurden die SED-Oberen und Blockflöten verschont. Eine ernsthafte Aufarbeitung hat aber nicht stattgefunden, die würde im Übrigen auch die Arbeit der bundesdeutschen Dienste gefährden. Statt dessen konzentriert sich die Debatte als eine Art Ersatz-Ventil immer mal wieder auf Einzelpersonen, die man auch aus anderen Gründen weg haben will.
Stasi-Verstrickungen aus dem konservativen politischen Lager werden da schnell mal unter den Teppich gekehrt, ob Fußballtrainer oder Star-Trompeter. Von einem 2. Vorsitzenden des Rates des Kreises Kamenz als heutigen sächsischen Ministerpräsidenten ganz zu schweigen.
Ich erinnere da an eine ganz frühe Ausstellung des Bürgerkomitees Leipzig mit dem Titel: Stasi – Macht und Banalität. Neben dem ganzen Mist und der Gefährlichkeit dieses Repressionsapparates gab es eben auch Abgestürzte, Abgehängte und – wie A. Holm – Anfänger.
Für mich ist das Thema seit 15 Jahren erledigt. Nur beim Auffliegen des NSU habe ich gedacht: ‚Den Film kennst Du doch schon. – Ibrahim Böhme und RA Wolfgang Schnur lassen grüßen.‘
telegraph: Vielen Dank für Ihre Einschätzung.
1) Wolfhard Pröhl war im Dresdner Bürgerkomitee zur Auflösung des MfS Dresden. Nach Mitwirkung an der Installation eines Sonder- und dann Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen per Gesetz arbeitete er bis Ende 1991 in dessen Behörde. Er hat dort IM-Überprüfungen im Öffentlichen Dienst und in Wahlfunktionen sowie die ersten Akteneinsichten Betroffener begleitet. Von 1993 bis 1995 war er beim Landesbeauftragten Sachsen (LBStU) angestellt und auch da ging es vorrangig um IM in Verwaltungen und Parlamenten, nun als Beratungs- aber auch Beschwerdeinstanz.
2) KuSch – Kader und Schulung: Sowohl ‚Personalwerbe-Abteilung‘ als auch internes Kontrollorgan. MfS-Mitarbeiter wurden wegen manischer Überläufer-Angst teilweise ebenso ‚durchleuchtet‘ wie ‚Staatsfeinde‘.
3) AfNS – Amt für Nationale Sicherheit: Aufgrund des Drucks der Strassendemonstrationen wurde ab 18. 11. beginnend das MfS in ein AfNS umgewandelt. Einhergehen sollten damit Personalreduzierungen und Verzicht auf Beobachtung der DDR-Opposition. Die Vernichtung von MfS-Unterlagen geht maßgeblich darauf zurück.