Die Blumen von gestern, 2017, Buch & Regie : Chris Kraus
Von Angelika Nguyen
Sein Leben ist für den Deutschen Totila Blumen , bis er Zazie trifft, „eine einzige Hundescheiße“. Totila ist Historiker, Spezialgebiet Holocaust. Mit niemandem kommt er klar, weder mit seiner Frau Hannah im Bett noch mit seinem Kollegen Balthasar, der beim Thema des bevorstehenden Auschwitz-Kongresses eher nüchtern-bürokratisch-geschäftlich bleibt, nicht so emotional wird wie Totila, der „sich nicht im Griff hat“.
Da tritt zum Ärger erst und dann zum Glück, die französische Auslandsstudentin Zazie, mit Fachschwerpunkt Holocaust, in sein Leben, und sie ist die Erste, die genauso wütend, unüberlegt, unverblümt und anstrengend ist – wie er selbst. Aber das Geheimnis ist, dass sie noch viel mehr verbindet als dieselbe Fachrichtung und ähnliches Temperament: ihrer beider Großeltern lebten einst in Riga, wo Opa Blumen und Oma Rosencranz gemeinsam auf dasselbe Gymnasium gingen. Ein verspätetes Klassentreffen in der dritten Generation also? Nicht ganz. Denn Totilas Großvater, General Blumen, wurde Organisator der massenhaften Gasmorde an der jüdischen Bevölkerung Rigas, darunter Zazies Großmutter Rebecca. Die erste große Enthüllung des Films, eine Zäsur. Aber erst eine Attacke Zazies gegen sich selbst weckt Totila aus seiner notorischen Abschottung. Und er öffnet sich Zazie wie noch nie jemandem auf der Welt.
Beide verbindet außer ihrem Jähzorn und ihrer Leidenschaftlichkeit auch Furchtlosigkeit im Widerstand gegen verfassungsfeindliche Tatoos, Mercedes-Sponsoring („Die haben Zwangsarbeiter fertig gemacht.“) für den geplanten Auschwitz-Kongress und lustige Gruppenfotos von Burschenschaften. Beide verraten sich gegenseitig ihre Geheimnisse, die sich ähneln in ihrer Lebensverneinung: Totilas sexuelle Impotenz ist wie ein Pendant zu Zazies etlichen Selbstmordversuchen. Mit dieser Art Vertrautheit können sie sich die Freude am Leben wieder geben.
Wie verzaubert reisen sie dann nach Riga und werden von der Kamera merkwürdig entrückt in der Gedenkstätte Bikernieki gefilmt; Zazies roter Mantel und rote Blumen auf den Massengräbern der Naziopfer, jetzt also doch eine Geste des Gedenken, aber mit großer stummer Intensität. Vielleicht ein bisschen viel Musik, das Spiel der beiden hätte vermutlich gereicht.
Der Film erzählt von Gefühlserbschaften, von der Weitergabe des Auschwitz-Traumas bis in die dritte Generation der Opfer in Zazies Familie, ebenso wie von der Weitergabe der Hass-Ideologie in Totilas Nazi-Familie; aber auch vom frühen Ausstieg Totilas und vom Schmerz auch all jener Menschen, die sich mit den Traumata des Holocausts näher beschäftigen . Denn was heißt denn Trauma? Heißt Verletzung, Überempfindlichkeit, Zorn. Normal ist das nicht. Dieser Verrücktheit geht der Film mit aller möglichen Komik nach. Daher gibt es auch so viel lachen.
Bevor Totila und Zazie sich verlieben, streiten sie sich bis aufs Blut, fliegt der Mops des Institutsdirektors aus dem Autofenster, werden Zähne ausgeschlagen, Fensterscheiben zerbrochen, ein Farbtopf ausgekippt, eine Pulsader geöffnet, ein Kiefer zertrümmert. Gefühle werden in diesem Film nicht großartig besprochen, sondern so umgesetzt, dass wir sie sehen können, spontan, aggressiv, erfrischend.
Der Film geht der Frage nach, was Auschwitz heute bedeutet. Es ist ein fester Teil unseres Bildungskanons geworden, ist Gegenstand kluger Abhandlungen, Symbolwort und ganzjähriges Touristenziel, viel fotografiert, eine Ikone des „beschissenen 20. Jahrhunderts“, wie Totila sagt. Aber der Schmerz, wo ist der geblieben? Auschwitz als Ursache von Schmerz, das entdeckt dieser Film neu.
Es ist, als stieße er die Fenster muffiger Geschichtsmuseen auf, als zertrümmerte er das zum Ritual erstarrte Gedenken und das Glas der Vitrinen mit den Ausstellungsstücken und als holte er die Lebendigkeit des Schmerzes in die Gegenwart, ins Leben der beiden Hauptfiguren.
Angenehm sarkastisch, auch bitter kritisiert der Film die Institutionalisierung der Erinnerung, all die Jobs, die daran hängen, die Suche nach Sponsoring in der deutschen Industrie, die so manches Mal an der Shoa mit verdient hat. Auf den Sitzungen in den Räumen seiner Arbeitgeber tickt Totila regelmäßig aus.
Nicht so gut funktionieren die Nebenfiguren um die beiden: Totilas Ehe mit Hanna (kurze Auftritte für die unterfordert wirkende Hannah Herzsprung) bleibt ein kaputtes Rätsel, ebenso der lieblose Umgang mit der schwarzen Adoptivtochter Sarah, und geradezu als Fehlbesetzung mutet Jan Josef Liefers als Totilas Kollege Balthasar und Zazies Geliebter an. Keine Sekunde glaubt man an ein obsessives erotisches Verhältnis zwischen den beiden. Es klebt zu viel Tatort-Professor-Börne an Liefers.
Aber der Film ist insgesamt so ein starker Entwurf, dass er diese Unstimmigkeiten verkraftet, das macht ihn imperfekt, aber nicht weniger großartig.
Er lebt von der Liebesgeschichte seiner beiden Hauptfiguren Zazie und Totila und der Darstellung durch Adéle Haenel und Lars Eidinger . Vor unseren Augen entwickeln sie eine außergewöhnliche Nähe zueinander, wie sie zwei wahlverwandte Verrückte nur haben können. Sie sprechen dieselbe Sprache. Mit der Lebendigkeit ihrer Gefühle über den Holocaust ecken sie bei den anderen an, das verbindet sie. Bis eine Enthüllungsgeschichte sie wieder trennt. Totilas Vergangenheit als jugendlicher Neonazi erschüttert Zazie nicht so sehr wie sein Schweigen darüber. „Du hättest es mir sagen müssen.“ sagt Zazie – und geht wieder aus Totilas Leben.
Wie in einer richtigen Liebesgeschichte aber üblich, treffen sich beide im Epilog fünf Jahre später wieder, ganz woanders, in New York City, freundlich-distanziert, bis ein kleines Codewort Totila aufhorchen lässt, und statt am Ende des Films befriedet zu seiner Familie im Einkaufszentrum zurück zu stiefeln, bricht der Held in der allerletzten Einstellung wieder auf, schneidet der Film mitten in die Vorwärtsbewegung Totilas, in Schwarzfilm und Abspann.
Es geht weiter mit den beiden, nur ohne uns.
Und es gibt noch eine Dritte im Bunde, die es an Einprägsamkeit mit diesen beiden Hauptfiguren locker aufnimmt , das ist Sigrid Marquardt, die die alte Tara Rubinstein spielt. Die nach dem Krieg eine berühmte Schauspielerin wurde und sich nach dem Tod des Instituts-Gründers weigert, weiterhin „Schirmherrin“ des Auschwitz-Kongresses zu sein, die sich liften ließ und über Totilas Tochter Sarah merkwürdig unbedacht ein rassistisches Wort benutzt.
Tara Rubinstein ist eine Überlebende von Auschwitz. Sie steht im Film für die in Veranstaltungen angefragten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, von denen es nicht mehr viele gibt. Da sitzt sie dann in ihrem Rollstuhl, die alte Dame, unterm Scheinwerferlicht der Bühne und spricht nur diesen Halbsatz, der das Trauma von Auschwitz zusammenfasst.
Es ist vielleicht der größte Moment des Films, da die Zeit stehen bleibt und die Streitereien der Figuren verstummen, wo die Jagd nach Sponsoren ausgesetzt wird und der Zorn und die Verliebtheit mal Pause haben und der Mops seine Ruhe.
Ins Mikrofon beschreibt Tara Rubinstein ihr Leben: „Unzählige Liebhaber, der Champagner floss in Strömen… und doch nur ein Insekt in Auschwitz…..“
So leistet der Film statt Wiedergutmachung eine Wiederentdeckung: dass Auschwitz weh tut. Ein Schmerz, der nie vergeht. Nicht zu vergessen, nicht integrierbar, nicht zu bewältigen. Nicht zu verzeihen.