Politik

Erinnerung an Matthias Kramer, geboren 9.11. 1960 Kirchheim/Teck gestorben Anfang Dezember 2022 in Magdeburg

„Und eines Tages werden wir singen, das war die Wüste“
aus: kamalatta, ein romantisches fragment von Christian Geissler

Von links nach rechts: Herbert Mißlitz, Thomas Krüger, Matthias Kramer auf einem Treffen der Initiative für eine Vereinigte Linke im November 1989 im Berliner Haus der Jungen Talente. Foto: Hans Scherne

Am 20. Januar hatte die Vereinigte Linke (VL) zum Tag der Werktägigen nach Leipzig geladen. An diesen nebligen Januartag des Jahres 1990 habe ich Matthias Kramer kennengelernt. Er hatte wochenlang viel Zeit in die Vorbereitung gesteckt. Matthias gehörte zu dem Mitverfasser*innen des Aufrufs eines Arbeitskreises der VL für diesen Tag, Einladung deren Kernsätze lauteten:

„Die wesentlichste Aufgabe bei der Überwindung der gegenwärtigen Krise des administrativen Sozialismus in unserem Land besteht darin, das Staatseigentum an Produktionsmitteln in Volkseigentum, also Eigentum der Arbeitenden, umzuwandeln. Nur auf diesem Weg ist eine progressive, sozial und ökologisch ausgerichtete Alternative für unser Land möglich.“

Eine antiautoritäre DDR, deren Basis von den Arbeiter*innen selbstverwaltete Betriebe sein sollten, waren der große Traum von Matthias vor 33 Jahren. Dafür konnte er auch Menschen aus autonomen Zusammenhängen und besetzten Häusern überzeugen, den Tag der Werktägigen in Leipzig zu besuchen.

Der heute fast vergessene Tag der Werktätigen war ein wichtiges Datum von Matthias und seinen Freund*innen. Der 19. Januar 1990 war aber auch eine große Niederlage für ihn. Denn nur wenige Arbeiter*innen waren nach Leipzig gekommen, einige der geplanten Gesprächskreise sind wegen geringer Beteiligung ausgefallen oder wurden zusammengelegt. Das erhoffte Signal, dass der Kurs der DDR in Kurs Richtung Wiedervereinigung und Großdeutschland noch gebremst werden kann, ist vom Tag der Werktägigen in Leipzig nicht ausgegangen. Matthias diskutierte während der Rückreise nach Berlin bis spät in die Nacht, obwohl von der vielen Organisationsarbeit erschöpft, über die Fehler, die auf der eigenen Seite gemacht wurden und die verhindert haben, dass der 19. Januar 1990 einen Kontrapunkt hätte setzen können. Auch wenn ihm nach dem 19. Januar klar war, dass die Wiedervereinigung nicht wird aufzuhalten sein.

So wie wir Matthias damals in grauen Wintertag in Leipzig kennenlernten, so haben wir ihn auch immer wieder erlebt. Neugierig nach neuen linken Ideen und nach Menschen, die nicht nur darüber redeten, sondern zumindest versuchten, davon etwas umzusetzen. Deswegen war es für ihn auch klar, dass er Teil der Besetzer*innenbewegung werden würde. Mit einigen Freund*innen und Genoss*innen wohnte er in der Köpi, beteiligte sich dort an Solidaritätsaktionen unter Anderem für die Kämpfe in Lateinamerika. Nicaragua, El Salvador, Guatemala. Das waren damals drei Länder, wo es eine starke linke Befreiungsbewegung gab, die von den einheimischen Eliten im Bündnis mit den USA bekämpft wurde. Es gab weltweit Solidaritätsaktionen und auch Matthias beteiligte sich in Berlin daran. Für ihn war immer klar, eine soziale Befreiung kann nicht an Landesgrenzen halt machen. Daher waren für ihn Internationalismus und Solidarität keine Floskeln. Er wolle sie in seiner politischen Praxis umsetzen.

Solidarität war für Matthias keine Floskel

Dabei wurde die Solidarität mit politischen Gefangenen auch in der BRD bald ein wichtiges Feld seiner Praxis. 1989 war der letzte große Hungerstreik der Gefangenen aus RAF und antiimperialistischen Widerstand ohne große Zugeständnisse des Staates zu Ende gegangen. Es setzte auch unter antiimperialistischen Zusammenhängen, die sich stark in der Solidaritätsarbeit mit Gefangenen engagierten, Ratlosigkeit ein, die sich durch das schnelle Ende des Nominalsozialismus noch verstärkte. Viele linke politische Zusammenhänge Westdeutschland und Westberlin stellten ihre bisherige Arbeit in Frage und suchten Diskussionspartner*innen für die Suche nach einer neuen politischen Perspektive. Matthias gehörte zu denen, die Kontakte knüpften, auch mit Angehörigen und Freund*innen der politischen Gefangenen in der BRD suchten. Es entstanden lebenslange Kontakte.

Solidarität mit Geflüchteten und Malocher*innen war für Matthias kein Widerspruch

Aus der Köpi zog Matthias in ein stillbesetztes Haus in Prenzlauer Berg, wo ich ihn nicht nur als Genosse sondern auch als Nachbar im gleichen Haus kennen- und schätzen lernte. Matthias war offen für neue Erfahrungen. Doch auch viele Enttäuschungen musste er in dieser Zeit auch im eigenen politischen Umfeld erleben. „Zu viel radikale Pose, zu wenig radikale Kritik“, so seine Kritik über manche autonome Erscheinungsformen in der linken Berliner Szene der frühen 1990er Jahre. Er suchte und fand auch Freund*innen in kleinen Städten, die viele Linke oft nur als rechte Hochburgen wahrnahmen. So baute er Ende der 1990 zusammen mit dortigen Jugendlichen einen linken Infoladen in Aschersleben auf. Er wurde zeitweilig zu einem beliebten Treff für nichtrechte Jugendliche, vor allem weil sie dort die damals noch sehr neuen und teuren Personalcomputer benutzen konnten. Doch wer kümmert sich um die finanzielle Absicherung? Matthias hatte immer Ideen, die aber auch viel Zeit und Kraft kosten.Er lernte die prekären Ausbeutungsverhältnisse des neoliberalen Kapitalismus am eigenen Leib kennen. So war er für einige Zeit mit einer Gruppe osteuropäischer Kollegen am Abriss eines nie fertigstellten AKW in NRW beteiligt. Anstrengende Nachtfahrten aus dem Berliner Umland von und zum Arbeitsplatz, Leben und Schlafen in engen Räumen mit wenig Privatsphäre und schließlich noch der Kampf um den eh schon niedrigen Lohn, diese Praktiken lernte Matthias zu dieser Zeit ganz persönlich kennen. „Da hilft nur politischer Optimismus“, pflegte er halb ironisch halb ernst zu sagen. Dazu gehörten aber auch starker Kaffee und viele selbstgedrehte Zigaretten. Über die Verhältnisse jammern und lamentieren war nicht sein Ding, dabei fand auch in der Zeit der schlimmsten Arbeitsverhältnisse noch Zeit und Kraft für politische Arbeit. Nachdem der Infoladen in Aschersleben nicht mehr zu halten war, weil ein Großteil der Jugendlichen in die größeren Städte abwanderten und sich keine Gruppe fand, die für den Laden weiter Verantwortung übernehmen wollten, zog Matthias nach Halberstadt und engagierte sich für einige Jahre im autonomen Kulturzentrum Zora. Auch dort versuchte er immer Fragen der Solidarität mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten in die Plena zu tragen. Die Solidarität mit den Geflüchteten des damaligen Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber*innen von Sachsen-Anhalt (Zast) wurde für einige Zeit ein wichtiges politisches Thema für ihn. Dabei war es ihm wichtig, Kontakt mit den Geflüchteten aufzunehmen, die sich damals in Halberstadt gegen ihre Lebensumstände in der Zast wehrten. Es war nicht leicht, für diese Themen Solidarität und Öffentlichkeit in Halberstadt herzustellen. Doch Matthias blieb beharrlich, auch bei anderen Themen. So organisierte er im Mai 2003 mehrere Veranstaltungen zu den Isolationshaftbedingungen in der Türkei, die damals wegen eines langandauernden Hungerstreiks, bei dem viele Gefangene starben, für einge gewisse öffentliche Aufmerksamkeit sorgte. Dazu lud er Referent*innen aus Berlin ein. Die Veranstaltungen waren oft schlecht besucht, selbst im autonomen Zentrum blieb das Interesse an solchen Themen bescheiden. Doch Matthias ließ sich nicht entmutigen. Beharrlichkeit und langer Atem gehörten zu seinen Tugenden. Was ihn aber wütend machte, war die Selbstbezüglichkeit mancher autonomen Szene, vor allem, wenn er beobachtete, dass manche Aktivist*innen nach wenigen Jahren in gutbezahlten Berufe abwanderten. Daher suchte er verstärkt nach politischen Freundschaften außerhalb der klassisch autonomen Szene, wobei er keine ideologischen Scheuklappen kannte. Ob jemand Anarchist oder Kommunistin war oder sich keine dieser Etiketten anheftete, war für Matthias egal. Für ihn kam es darauf an, ob die Menschen, ihre eigenen Ansprüche ernst nahmen, ob sie erkannten, dass linke politische Arbeit nicht in der Bearbeitung der eigenen Probleme erschöpfen darf. Matthias war bewußt, dass viele Menschen, die sich nie politisch äußert unter ausbeuterischen Verhältnissen Lohnarbeit verrichten müssen. Das war für ihn ebenso ein politisches Thema wie der Kampf der Geflüchteten in der Zast Halberstadt. Mit den aktuellen Debatte über Klassen- und Identitätspolitik hätte er daher wenig anfangen können, in seiner Praxis gab es diese Trennung nicht. In den letzten 20 Jahren hatte sich Matthias in Magdeburg niedergelassen und dort auch neue politische Freundschaften gefunden. Die Kontakte nach Berlin wurden seltener, daher können wir zu seiner letzten Lebensphase wenig sagen. Dazu haben seine Magdeburger Freund*innen und Genoss*innen einen eigenen Aufruf formuliert (https://political-prisoners.net/nachruf-fuer-matthias-kramer/19204/)

Vom West nach Ost und wieder vom Westen eingeholt

Über seine persönlichen Dinge hat Matthias nie viel erzählt, er hat sie einfach nicht für wichtig genug gehalten. Das war die typische Bescheidenheit vieler Linker, die nicht die eigene Person in den Mittelpunkt ihres Engagements stellen wollten. Schade eigentlich. So werde ich wohl nie erfahren, was einen 1960 in Kirchheim/Teck, also im tiefsten Westdeutschland, geborenen jungen Mann in den späten 1970er Jahren in die DDR verschlug. Dabei hätte ich mich sehr interessiert, welche Überlegungen ihn zu diesen Schritt brachten, wie er als Westdeutscher mit dem Leben in der DDR klarkam, ob seine neuen Freund*innen und Kolleg*innen seine Westbiographie kannten und wie sein Weg in die DDR von seinen alten Freundes- und Bekanntenkreis aufgenommen wurde. Natürlich hätte mich auch interessiert, was Matthias durch den Kopf ging, als sich abzeichnete, dass die DDR, die er sich als Lebens-und Wohnort ausgesucht hat, bald Geschichte sein sollte und er sich knapp 10 Jahre später wieder in dem Deutschland befand, das er verlassen hatte. Nur ganz beiläufig hat Matthias seine Wanderung von Ost nach West einmal erwähnt, als wir uns schon lange kannten. Hatten seine Genoss*innen in der VL von dieser Biographie eine Ahnung?

Die gar nicht so seltsame Assoziation zu Ronald M. Schernikau

Ich hatte ich schon vor 30 Jahren an diesen anfangs beschriebenen nebligen 19. Januar 1990 in Leipzig eine Assoziation, die mir im Nachhinein doch bedeutungsvoller vorkommt. Als ich in Leipzig Matthias reden und agieren sah, musste ich plötzlich an Ronald M. Schernikau denken. Der junge in Hannover geborene Schriftsteller war damals zumindest in linken Kreisen recht bekannt, weil er sich als Schwuler und westdeutscher Kommunist noch 1989 entschied, nicht nur in Leipzig am Literaturinstitut Johannes R. Becher zu studieren sondern auch die DDR-Staatsbürgerschaft anzunehmen. Viele hielten es für eine intellektuelle Koketterie, in einer Zeit wo die Massen von Ost nach West zogen, die DDR-Staatsbürgerschaft anzunehmen. Wenn ich jetzt überlege, warum ich bei Matthias Kramer so spontan an den fast gleichaltrigen Schernikau denken musste, fällt mir seine besondere Haarpracht ein, die Matthias lange auch sehr bewusst trug und auch sein selbstbewusstes Auftreten und Bewegen im Raum. Er war sofort präsent, wenn er irgendwo eintrat. Viel später habe ich dann erst erfahren, dass Ronald M. Schernikau und Matthias Kramer noch eine Gemeinsamkeit haben: sie haben sich bewußt entschieden, die BRD zu verlassen und in der DDR zu leben. Beide wurden von dem Staat, von dem sie sich verabschiedet hatten, wieder eingeholt. Ronald M. Schernikau starb bereits knapp ein Jahr später im Oktober 1991 an Aids. Matthias Kramer wurde am Anfang Dezember 2022 in seiner Magdeburger Wohnung tot aufgefunden, zuvor hatte er bereits einen Schlaganfall und einen Herzinfarkt erlitten.

Zitat von Christian Geissler

Anfang der 1990er Jahre als wir zusammen in der Oderbergerstraße wohnten, unterhielten wir uns öfter über kamalatta, ein damals in linken Kreisen vielgelesenes Buch des kommunistischen Schriftstellers Christian Geissler, das auch wir beide kannten. Es dreht sich auch um die Probleme junger Autonomer und Antiimperialist*innen, die mit alten Kommunist*innen diskutieren wollten. Öfter kommt in kamalatta der Satz vor: „Und eines Tages werden wir singen, das war die Wüste“. Ich erinnerte mich noch, wie ich mit Matthias über die Bedeutung dieses Satzes diskutierten, ohne dass wir zu einem Ergebnis kamen. Er soll ihm gewidmet sein.

 

 

Peter Nowak unter Mitarbeit von Hartmut Spanier