Kultur, Politik

Es blieb der Schmerz eines bitteren Sieges

Von Hans Coppi

Am späten Abend des 8. Mai 1945 unterzeichneten – wenn auch widerwillig – Generalfeldmarschall Keitel, Admiral von Friedeburg und Generaloberst Stumpff die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht im sowjetischen Oberkommando Berlin-Karlshorst. Unter den Fahnen der Antihitlerkoalition unterschrieben der Marschall der Sowjetunion Shukow, der britische Luftmarschall Ted, der US-General Spaatz und Frankreichs General de Lattre de Tassigny um 22:15 Uhr die damit ratifizierte Kapitulationsurkunde. Nach Moskauer Zeit war es bereits 0:15 Uhr. Radio Moskau berichtete am 9. Mai über das Ende des blutigsten aller Kriege. Auf allen Kontinenten, aber besonders in den von Wehrmacht, Ordnungspolizei und SS okkupierten, geschundenen und ausgebeuteten Ländern feierten Millionen Frauen und Männer die Niederlage des deutschen Faschismus. Nicht nur Freudentränen standen vielen in den Augen. Es blieb der Schmerz eines bitteren Sieges, die Trauer um Familienangehörige und Freunde, die millionenfachen Opfer von Terror und Vernichtungskrieg. „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ heißt es in Paul Celans „Todesfuge“, 1944 in Czernowitz verfasst. In dem antifaschistischen Bündnis mit Alliierten der Antihitlerkoalition trugen die Rote Armee und die Völker der Sowjetunion den Hauptteil der zivilen und militärischen Anstrengungen. Ihre millionenfachen Opfer bleiben unvergessen. Als Reaktion auf die Schändung des sowjetischen Ehrenmals gründeten zum Jahreswechsel 1989/90 in Treptow wohnende Verfolgte des Naziregimes, Hinterbliebene und Nachkommen die „antiFa Treptow“. Zu ihren jährlichen Veranstaltungen gehört seit 1990 der Tag der Befreiung. Vor der „Mutter Heimat“ im Sowjetischen Ehrenmal gedenken Mitglieder der VVN-BdA gemeinsam mit Vertretern der Russischen und Weißrussischen Botschaft sowie Schülern und Einwohnern der über 50.000 bei der Befreiung Berlins gefallenen Rotarmisten.

Weitere Treffpunkte für Mitglieder unserer Vereinigung sind am 8. Mai sowjetische Ehrenmale im Tiergarten, in der Schönholzer Heide (Pankow). Gedenktafeln in Buch, Lichtenberg, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Köpenick, Marzahn und Charlottenburg verweisen auf den Zeitpunkt der Befreiung in den Stadtteilen. Nachdem am 8. Mai 2006 von neuen Mitgliedern die Basisorganisation (BO) „8. Mai“ gegründet worden war, schlugen sie vor, am 9. Mai den Tag des Sieges zu begehen. Unter dem Motto „Wer nicht feiert, hat verloren“ gibt es seitdem am 9. Mai auf dem Parkplatz am Rosengarten und seit 2016 am südlichen Eingang des Sowjetischen Ehrenmals ein abwechslungsreiches Programm. Der Leitgedanke ist „Solidarität statt Nationalismus“. Auch in Berlin lebende frühere sowjetische Bürger verfolgen mit großer Anteilnahme die auf Deutsch und Russisch moderierte Veranstaltung. Auf der Bühne wechseln Musik und Gespräche mit Zeitzeugen, die in Streitkräften der Antihitlerkoalition, in polnischen Armeeeinheiten und in Partisanenverbänden gekämpft haben. Abends spielen die „Bolschewistische Kurkapelle“ und weitere Bands auf. Es wird getanzt und gesungen. Unter den zahlreichen Besuchern befinden sich viele junge Leute, die meist zum ersten Mal von diesem Gedenktag berührt werden.

Der 8. Mai 1945 wurde in beiden deutschen Staaten unterschiedlich wahrgenommen. Die Volkskammer der DDR beschloss schon 1950 den Tag der Befreiung als gesetzlichen Gedenk- und Feiertag zu begehen. Bis er dann 1967 im Zusammenhang mit der Einführung der Fünf-Tage-Woche in einen Werktag umgewidmet und nur 1975 sowie 1985 zum 30. bzw. 40. Jahrestag der Befreiung wieder als arbeitsfreier Feiertag begangen wurden.

In der Bundesrepublik blieb der 8. Mai 1945 noch lange Synonym für Niederlage, Untergang, Zusammenbruch und Stunde Null im kollektiven Gedächtnis. Als Befreiungsschlag aus der damit einhergehenden erinnerungspolitischen Isolation gilt die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Jahre 1985: „Der 8. Mai 1945 … hatte uns alle befreit vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Ein Tag der Erinnerung und Mahnung an die Befreiung von Faschismus und Krieg ist daraus jedoch nicht geworden. Als gesamtdeutscher Gedenktag hätte er 1990/91 ein erinnerungspolitisch bedeutsames Zeichen im sich vereinenden Deutschland und ein Signal der Versöhnung gegenüber der Sowjetunion und den anderen von Deutschland überfallenen Ländern werden können. Stattdessen geriet der 8. Mai im öffentlichen Diskurs mehr zu einem „Volkstrauertag“ für deutsche Opfer von Krieg, Bombenangriffen, Flucht, Vertreibung und Gewaltherrschaft.

Für 2020 haben der Berliner Senat und die Landesregierung in Brandenburg beschlossen, zum 75. Jahrestag der Befreiung den 8. Mai 2020 als gesetzlichen Gedenk- und Feiertag zu begehen und mit einem umfangreichen Kulturprogramm zu begleiten. Letzteres hat leider das Corona-Virus verhindert.

Die Auschwitzüberlebende Esther Bejarano und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) starteten am 8. April 2020 eine Unterschriftensammlung und eine Social Media Kampagne mit dem Ziel, den 8. Mai als Tag der Befreiung vom Faschismus als  Feiertag in Deutschland zu begehen. 75 Jahre nach dem wichtigsten Tag des 20. Jahrhunderts ist es an der Zeit und auch bitter notwendig endlich konsequent Lehren aus den Verbrechen des NS-Regimes zu ziehen. Ein gesetzlicher Feiertag würde dies symbolisieren und könnte Ausgangspunkt für entsprechendes politisches Handeln sein. Die Petition unter https://www.change.org/8Mai hat bis Mitte April über 51.000 Unterschriften erreicht. Das nächste Ziel sind 75.000.

Die BO „8. Mai“ gibt eine 96seitige Broschüre „9. Mai – 75. Jahrestag des Sieges. Wer nicht feiert, hat verloren“ auf Deutsch und Russisch heraus. Darin erläutern die Verfasser ihre Beweggründe sich auf dieses erinnerungspolitisch wichtige Thema einzulassen. In 23 Beiträgen werden 23 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen portraitiert, die am 9. Mai am Treptower Park gesprochen haben. Die Broschüre gibt es ab sofort als Download auf der Homepage: neuntermai.vvn-bda.de. Als Print bestellbar ab 5. Mai im VVN-BdA-Shop: shop.vvn-bda.de, bei der Berliner VVN-BdA, Magdalenenstr. 19, 10365 Berlin oder per Email: neuntermai-vvn-bda@gmx.de

 

Hans Coppi (* 27. November 1942 in Berlin) ist ein deutscher Historiker. Er ist der Sohn des gleichnamigen Widerstandskämpfers Hans Coppi und seiner Frau, der Widerstandskämpferin Hilde Coppi.
Geboren wurde Hans Coppi im Berliner Frauengefängnis Barnimstraße. Seine Eltern Hans und Hilde Coppi wurden wegen ihrer Mitarbeit in der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ von den Nationalsozialisten ermordet.
Hans Coppi ist Ehrenvorsitzender der Berliner VVN-BdA